Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/2019

Spalte:

721–723

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Kuschel, Karl-Josef

Titel/Untertitel:

Die Bibel im Koran. Grundlagen für das interreligiöse Gespräch.2. Aufl.

Verlag:

Ostfildern: Patmos Verlag (Schwabenverlag) 2017. 672 S. Geb. EUR 49,00. ISBN 978-3-8436-0726-1.

Rezensent:

Friedmann Eißler

Es sind Variationen über ein Thema, den interreligiösen Dialog insbesondere mit Muslimen, die Karl-Josef Kuschel im Lauf der Jahre immer wieder neu komponiert und modelliert und dabei bekanntes (eigenes) Material verwendet. Im vorliegenden Fall werden überarbeitete Kapitel aus älteren Büchern K.s erneut publiziert (aus: Juden – Christen – Muslime; Weihnachten und der Koran; Josef in Ägypten; Festmahl am Himmelstisch), neu hinzu kommen der Prolog, Teil I und der Epilog (zusammen etwa ein Drittel des Buches), wobei auch hier im Wesentlichen schon veröffentlichtes Material variiert wird.
Bei der exemplarischen Konzentration »auf Figuren, die eine ›biblische Vorgeschichte‹ haben« (645), kommt erstaunlicherweise Abraham nicht mit einem eigenen Kapitel vor. Das ist bei dem Ti-tel – und zumal dem Untertitel, der doch sehr weit ausgreift im Verhältnis zum Inhalt – zumindest verwunderlich; vielleicht sollte dieser zentrale Aspekt dann doch schon durch frühere Publikationen des Promotors einer »Abrahamischen Ökumene« als abgedeckt gelten. Als Klammer erscheint Abraham indes, einmal als eine der »10 Erkenntnisse im Interesse des Dialogs«, die im Prolog (29–74, gesamt mit »Wir Kinder Abrahams« überschrieben) aus einem Ge­spräch Helmut Schmidts mit Anwar as-Sadat gezogen und gleichsam als lebendig-narrative Sensibilisierung für die Notwendigkeit wechselseitiger interreligiöser Lernprozesse vorangestellt werden. Die Geschichte der nächtlichen Nilfahrt von 1977, geradezu ein Topos in K.s Werken (so z. B. auch schon in »Streit um Abraham«, 1994, u. ö.), wird – nochmals und besonders ausführlich – mit Grunderkenntnissen zu den Gemeinsamkeiten der drei Abrahams-Religionen verwoben. Auf diese zurückzugreifen stifte Toleranz, wobei mehr als bloße Duldung des Anderen notwendig sei, und mache Frieden zwischen den Religionen möglich (59.65). Exklusivitätsansprüche der Religionen stünden dem entgegen (58). Der Ton wird hier besonders idealistisch, geradezu pathetisch (auch der Andalusienmythos wird wie so häufig sehr einseitig rezipiert, 61 f.). Sodann kommt Abraham im Epilog vor, der in ähnlicher Weise Obamas Rede in Kairo 2009 »auswertet« (zehn Prinzipien für Entfeindung und Vertrauensbildung) und dann mit der Rede von Papst Franziskus in Jerusalem 2014 – Abraham als Vater im Glauben und großes Vorbild – auf die Praxis des Dialogs zielt (Pilgerschaft, Gastfreundschaft, »abrahamische Spiritualität«).
K. sieht die biblischen Überlieferungen im Koran integriert und weiter bzw. neu gedeutet. Es komme jetzt darauf an, von der alten »Defizithermeneutik« zu einer »Alteritätshermeneutik« ohne Polemik und gegenseitige Abwertung zu gelangen: »Verstehenwollen der Andersheit des je Anderen ist somit die Grundvoraussetzung für einen Dialog.« (22) Er stützt sich neben intertextuellen Beobachtungen insbesondere auf die Forschungen von und um Angelika Neuwirth (Interaktion zwischen dem Verkünder und seinen Hörern, Differenzierung der Hörergruppen) und auf neuere, hermeneutisch akzentuierte Ansätze der Koranexegese westlicher Prägung. Klassische muslimische Korankommentare spielen keine Rolle. Dafür gibt es im großen ersten Teil Annäherungen an den Koran aus unterschiedlichen formalen und inhaltlichen Perspektiven, viele Zitate und eine Menge Anspielungen auf moderne Literatur; so wird der Koran mit James Joyce (Finnegans Wake) in Verbindung gebracht und Umberto Eco zitiert. Der Koran wird als übergeschichtlicher Archetyp beschrieben, als ewig wiederkehrende Muster, wie in einem Polyeder Vielfalt und Einheit verbindend (Jacques Berque). Die hermeneutisch-methodische Grundlegung hinterlässt indessen einen ambivalenten, da teilweise widersprüchlichen Eindruck, was mit dem (Miss-)Verhältnis von grundsätzlicher und betonter Vermeidung von Geringschätzung und Abwertung bei gleichzeitiger unangefochtener Selbstsicherheit im Blick auf das richtige, nämlich neue Koranverständnis zu tun hat. Die besten Intentionen der Wahrnehmung des Selbstverständnisses des Gegenübers, auf deren Linie die brillante und empathische intertextuelle Arbeit mit äußerst lebendigen Erschließungen der Bibel- und Korantexte liegt, werden überlagert, um nicht zu sagen konterkariert durch die Selbstverständlichkeit und die Art und Weise, mit der K. eine historische, »vorkanonische« (122, 212 u. ö.), zentrale Aspekte der bedeutendsten islamisch-theologischen Lehren zum Koran geradezu in Abrede stellende Koranlektüre fordert, ja als die einzig richtige deklariert. Dazu beruft sich K. – gegen die Wirkmacht der vorherrschenden traditionellen Koranexegese, die im Grunde als exklusivistisch und gar extremistisch für unmöglich erklärt wird (dilettantisch, Anmaßung, Machwerk, Fratze, 146 f.) – auf die durchaus wichtigen, aber aufs Ganze gesehen eben peripheren Einzelstimmen islamischer Reformer wie M. Khorchide, A.-H. Ourghi u. a., mit denen »der cantus firmus des Koran« (147) festgestellt und quasi dekretiert wird, dass Partner im Dialog nur sein kann, wer die hier formulierten zehn Voraussetzungen für den Dialog erfüllt (223 ff.). So wichtig die Zielorientierungen all dieser Ausführungen sind und so sehr für ihre Realisierung mit aller Entschiedenheit einzutreten ist, so problematisch erscheint das auseinandersetzungslose Beiseiteschieben der heute weithin maßgeblichen Islaminterpretationen. Das gerät zum Spezialdialog auf wohleingehegtem Terrain.
Beispiel für den Schlingerkurs zwischen Respekt und Bevormundung: Man könne von Muslimen keine »historisch-kritische« Interpretation verlangen (87 f.128 f.), da der Koran nach islamischem Selbstverständnis Gottes- und nicht Menschenrede sei und das Spätere zur Norm des Früheren werden könne (Abrogation [128 falsch an-naksh statt an-naskh], was in eigenartiger Vermischung der Ebenen als Umkehrung der historisch-kritischen Methode bezeichnet wird). Zugleich wird jedoch das erwähnte Koranverständnis wie selbstverständlich eingefordert, das durchaus als »neu« erkannt wird, dessen ebenso historische und kritische Voraussetzungen aber nicht als solche diskursiv eingebracht werden. Auf diese Weise kann dann die Anwendung von Gewalt unter Berufung auf die »Gewaltstellen« im Koran als ideologische »Instrumentalisierung« Extremisten und »radikalen Splittergruppen« zu­geschrieben und in moralischer Überlegenheit als Widerspruch zur »Kernbotschaft« der heiligen Schriften – Liebe und Barmherzigkeit Gottes – behauptet werden (137 ff.).
Ungeachtet dessen sind die Textanalysen K.s nach wie vor Fundgruben für spannende Entdeckungen, sie eröffnen neue Blicke auf Textzusammenhänge und erweitern die Kommunikationsräume für christlich-muslimische Dialoge. Nach dem »Panoramablick« des ersten Teils folgt in Teil 2–6 die »Detailarbeit« zu den Themen bzw. biblischen Gestalten Adam, Noach, Mose, Josef und seine Brüder sowie Maria und Jesus, wobei die Abfolge der Erstveröffentlichung von 2007 eingehalten wird, nur das Josefkapitel ist eingeschoben (warum nach Mose?). Die Kapitel zerfallen in die Betrachtung der Bibel- und der Korantexte (Jesuskapitel: nur Koran). Die Überarbeitungen sind unterschiedlich stark, meist kleinere Kürzungen, Hinzufügungen, leichte stilistische Revision, Änderung v on Überschriften. Teilweise wird etwas umgebaut, um Teile aus anderen Kapiteln des ursprünglichen Buches einzubauen. Im Noachkapitel kommen die christlichen Parallelen ausführlicher zur Sprache (326–330), zusätzlich werden Sure 26 und 23 behandelt (337 ff.). Größere Änderungen bzw. Umstellungen erfährt das Jesus-Maria-Kapitel, die Interpretation des Kreuzigungsverses Sure 4,157 erhält mehr Raum und neue Akzente (577 ff.).
K. betont immer wieder die Ästhetik, die wunderbare Sprachform des Korans (104), die etwa bei Goethe und Rückert anklingt (108 ff.) – in merkwürdiger Diskrepanz zum Fehlen arabischer Quellen; er selbst verwendet vor allem die Übersetzung von Hans Zirker (127). Das Buch hat mehr Druck- und kleinere Sachfehler, als man bei diesem Format erwarten würde. Zum Verhältnis von rasul und nabi kolportiert auch K. die unzutreffende Behauptung, alle Gesandten seien im Koran Propheten Gottes, aber nicht umgekehrt (216).
Der Stil ist insgesamt enorm eindringlich. Wenn man ihn nicht so mag, wird man ihn gar aufdringlich finden, wie immer ein echter »Kuschel«, vielleicht noch etwas pulsierender als sonst (ständig rhetorische Fragen, Halbsätze, Wortspiele etc.). Wer etwas Neues erwartet hat, wird enttäuscht. Wer den Meister der Variation kennt und mag (Zielgruppe sind nicht Spezialisten, sondern Menschen, die das interreligiöse Gespräch suchen), wird wieder hineingenommen in das hellhörige Lesen der Texte, in das engagierte Plädieren für den Dialog, in die belesene Verknüpfung literarischer Welten und das Weiterknüpfen des »vernetzten Denkens«.