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Ausgabe:

Juli/August/2019

Spalte:

716–718

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Hegghammer, Thomas [Ed.]

Titel/Untertitel:

Jihadi Culture. The Art and Social Practices of Militant Islamists.

Verlag:

Cambridge: Cambridge Univer-sity Press 2017. X, 276 S. Kart. £ 22,99. ISBN 978-1-107-61456-7.

Rezensent:

Christine Schirrmacher

Entgegen landläufiger Auffassungen verbieten jihadistische Bewegungen nicht jede Ausdrucksform von Kultur, ganz im Gegenteil: Sie haben vielmehr ihre eigene Kultur hervorgebracht. Durch selektive Nutzung und Umdeutung religiöser Texte werden kulturelle Räume eröffnet; teilweise wird dabei zur Durchsetzung eigener Ziele das Verbotene großzügig für erlaubt erklärt: So gestattete etwa der sogenannte »Islamische Staat« – im Gegensatz zu Auffassungen konservativer Theologen – Frauen die unbegleitete Ausreise nach Syrien und Irak auch ohne Zustimmung ihres vertretungsberechtigten Vormunds. Ebenso übernahmen jihadistische Gruppen einige von ihnen andernorts verurteilte sufistische Praktiken wie z. B. die Deutung von Träumen, extensives Weinen oder die Verherrlichung von Märtyrern in einem regelrechten Personenkult.
Andere Ausdrucksformen jihadistischer Kultur sind unter Aushebelung herkömmlicher Verbotsargumente Musik, Poesie, Filme, bildliche Darstellungen und allgemein der professionelle Einsatz von Medien. Dabei dient die Schaffung einer eigenen Kultur nach außen der Herausbildung einer »Erkennungsmarke«, um den Neuankömmling bei Vertrautheit mit diesen kulturellen Ausdrucksformen als Insider identifizieren zu können. Nach innen erzeugen diese Praktiken ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Sie dienen darüber hinaus der Rekrutierung, aber auch schlicht der Entspannung und dem Zeitvertreib. Eine wichtige Rolle spielt dabei ein romantisches Bild von Familie und Gesellschaft: Jihadistische Kämpfer lassen sich gerne als ritterliche Beschützer von Frauen und Kindern, Witwen und Waisen porträtieren.
In Kapitel 1 erörtern Robyn Creswell und Bernard Haykel verschiedene Arten von Poesie als rhetorisch anspruchsvollste Verlautbarungen jihadistischer Akteure. Beim Einsatz arabischer Verse, die in aller Regel in klassisch-arabischer Metrik abgefasst sind, geht es vor allem um eine Verbindung zum Islam Muhammads. Dies dient der Beweisführung, eine in der ursprünglichen Tradition des Islam wurzelnde Bewegung zu sein und damit Leuchtturm für eine irregehende islamische Gemeinschaft (umma). Die Rezitation von Poesie wird zur »performance of authenticity« (28). Poesie erfüllt jedoch auch politische Funktionen, wenn der Nationalstaat in Versen abgelehnt und die weltweite umma als einzig gültiger politischer Bezugsrahmen beschworen wird.
Kapitel 2 und 3 thematisieren die als anashid bezeichneten Kampfgesänge, die Mitte der 1980er Jahre in Afghanistan zu einem wichtigen Bestandteil jihadistischer Kultur wurden und sich heute – zumeist von Medienplattformen professionell produziert – großer Beliebtheit erfreuen. Hauptthemen der Kampfgesänge sind die Unterdrückung der muslimischen Gemeinschaft, Besatzung und erlittenes Unrecht sowie der Aufruf zum kämpferischen Jihad. Nelly Lahoud konzentriert sich in ihrem Beitrag auf die Kampfgesänge al-Qaidas, Jonathan Pieslack erörtert musikwissenschaftliche Aspekte. Anashid dienen dabei nicht nur der Rekrutierung und dem Anfachen der Kampfbereitschaft, sondern kanalisieren auch überschäumende Emotionen, definieren Gruppenidentitäten und stärken die Kampfmoral. Da die Frage, ob es erlaubt ist, Musik zu hören und selbst zu machen, in der Theologie seit Jahrhunderten Gegenstand der Diskussion ist, ist die Legitimität von anashid auch im jihadistischen Bereich nicht unumstritten; völlig verdammt wurden sie jedoch nie. Islamistische Bewegungen der vergangenen Jahrzehnte, wie etwa die Muslimbruderschaft, nahmen hier meist eine pragmatische Haltung ein; auch der langjährige saudisch-wahhabitische Großmufti Ibn Baz hielt sie für erlaubt, solange sie eine Art Predigt darstellten und die Zuhörer zu guten Werken anhielten. Zur Rechtfertigung des Einsatzes von anashid betonen jihadistische Bewegungen heute stets, dass auch damit die Ge­wohnheit Muhammads (sunna) nachgeahmt wird. Möglicherweise ist ihre weitgehende Akzeptanz bei Jihadisten auch als Zugeständnis an eine von westlicher Medien- und Konsumkultur ge­prägte Jugend zu deuten.
In Kapitel 4 erläutert Afshon Ostovar wesentliche Ingredienzien und Wirkmechanismen visueller Symbole der Jihad-Kultur wie etwa das Abbilden von Gewehren oder Schwertern, die vor allem als Embleme auf Flaggen Verwendung finden. Auch der arabische Schriftzug des Glaubensbekenntnisses ist in diesem Zusammenhang ein wichtiges Symbol (so auch beim »Islamischen Staat«), das die jihadistische Gruppe als Advokatin des Islam erklärt und sie visuell mit der Frühzeit des Islam in Beziehung setzt. Ferner schlüsselt das Kapitel zentrale Begriffe der Jihad-Kultur wie den des Märtyrers, des Helden, des Kämpfers und des Paradieses auf, die Kernbotschaften jihadistischer Kultur übermitteln. Abbildungen eines gesichtslosen, in schwarze Kleidung gehüllten Kämpfers auf einem Pferd oder mit einem Löwen assoziieren Stärke und Mut, Siegesgewissheit und Durchsetzungskraft, während sie gleichzeitig die herannahende Apokalypse ankündigen.
Kapitel 5 thematisiert die in den ersten Jahren des Afghanistan-Krieges beginnende Video-Produktion jihadistischer Gruppierungen und ihre Darstellung von Kampfszenen, ideologischen Ansprachen, letzten Verfügungen von Märtyrern und Exekutionen von Gefangenen. Während der Filmvertrieb über Moscheen, Wohltätigkeitsorganisationen und Buchläden zu Beginn die Reichweite der Materialien stark begrenzte, brachte das Internet einen globalen Marktplatz filmisch dargestellter Jihad-Kultur hervor.
In Kapitel 6 geht es um die Bedeutung von Träumen, durch die göttliche Leitung als Rechtfertigung bestimmter Handlungen beansprucht und gleichzeitig Autorität reklamiert wird. Iaian R. Edgar und Gwynned De Looijer heben die besondere Bedeutung von Träumen für die jihadistische Kultur hervor, ja, vertreten sogar die Auffassung, dass eine Beschäftigung mit dieser Thematik geradezu als Schlüssel für das Verständnis jihadistischer Gruppen betrachtet werden darf.
Kapitel 7 behandelt die salafistische Auffassung des Märtyrertums, das nach Muhammads Tod im Anschluss an die erste Expansionswelle im 7./8. Jh. bis nach Spanien und Zentralasien über viele Jahrhunderte hinweg in der sunnitischen Theologie keine prominente Rolle mehr spielte. Erst im 20. Jh. wird die Thematik von jihadistischen Gruppierungen mit eindringlichen Warnungen vor dem Höllenfeuer und blumigen Paradiesversprechungen neu belebt. Für die Wirksamkeit von Märtyreroperationen sind die wichtigsten Elemente die über das Internet hergestellte Öffentlichkeit und das bei den Trauerfeierlichkeiten verlesene Vermächtnis des Märtyrers.
Kapitel 8 schließlich betrachtet den Alltag jihadistischer Gruppen. Hier kommen nicht-militante Praktiken zur Sprache, wie die Erfüllung ritueller Pflichten wie Fasten und Gebet, Koranrezitationen oder das Austreiben böser Geister. Besonders wichtig für den Erfolg jihadistischer Gruppen ist hier die Tatsache, dass hinsichtlich der kulturellen Praktiken kein scharfer Bruch mit der früheren Kultur verlangt wird und die Zahl der expliziten Verbote ausgesprochen gering ist und sich vor allem auf den Konsum von Drogen, Alkohol und außereheliche Beziehungen beschränkt.
Dieser aufschlussreiche, auf Primärquellen basierende Sammelband bietet informative Einblicke in die unterschiedlichen Ausdrucksformen jihadistischer Kultur, nicht ohne mancherlei Wi-dersprüchlichkeiten zwischen Anspruch und Wirklichkeit aufzudecken.