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Ausgabe:

Juni/2019

Spalte:

659–661

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Strahm, Herbert

Titel/Untertitel:

Dissentertum im Deutschland des 19. Jahrhunderts. Freikirchen und religiöse Sondergemeinschaften im Beziehungs- und Spannungsfeld von Staat und protestantischen Landeskirchen.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2016. 639 S. m. 1 Abb. = Münchener Kirchenhistorische Studien. Neue Folge, 5. Kart. EUR 80,00. ISBN 978-3-17-029804-0.

Rezensent:

Thomas K. Kuhn

Das 19. Jh. gilt in der Geschichtsschreibung als »Jahrhundert der Vereine«. Zahlreiche Zusammenschlüsse Gleichgesinnter mit den unterschiedlichsten Anliegen, Perspektiven und Zielgruppen entstanden innerhalb weniger Jahrzehnte und prägten das gesellschaftliche Leben in bis dahin unbekannter Weise. Diese Vereine und Gesellschaften knüpften strukturell an aufklärerische Sozietäten oder pietistische Konventikel an und eröffneten ein weites Feld sozialer Aktivitäten und Partizipation. Im Zuge der Freiheiten, die das von Aufklärung und Toleranzgedanken geprägte Preußische Allgemeine Landrecht (1794) in Preußen und in dessen Gefolge auch in anderen Staaten in religions- und vereinsrechtlicher Hinsicht boten, entstanden neben den politischen und sozial engagierten Vereinen beispielsweise außerhalb etablierter Landeskirchen rasch vielgestaltige neue Formen religiöser Vergemeinschaftung. In Folge dieser Neugründungen entwickelte sich ein neuartiger religiöser Markt. Von diesen konkurrierenden Angeboten sa­hen sich die etablierten Kirchen zusehends herausgefordert und sie bemühten sich mit Unterstützung obrigkeitlicher Kräfte darum, diese außerkirchlichen Gruppen abzuwehren und zu bekämpfen. Zahlreiche kirchliche Zeitungen etwa setzten sich mit diesen Dissentergruppen auseinander und brandmarkten sie nicht selten als »Sekten«.
Da das Allgemeine Landrecht aber die ungehinderte Hausandacht und den vollen Schutz der religiösen Privatmeinung garantierte, blieben offensichtlich ausreichend Freiräume für die Ausbreitung von Dissentergruppen. Zudem konnten – und dieses Recht stellte eine wesentliche Ausweitung des gesetzlichen Rahmens dar – alle Staatsbürger mit offizieller Genehmigung sich zur Ausübung religiöser Praxis verbinden und neue religiöse Vereinigungen oder Religionsgemeinschaften gründen. Die für Preußen durch das Landrecht geltenden religionsrechtlichen Regelungen stellten folglich eine zentrale Rechtsgrundlage für außerkirchliche Gruppen und für das Dissentertum in Deutschland dar.
Unter dem Sammelbegriff »Dissenter« fasst man gewöhnlich solche Religionsgemeinschaften zusammen, die – aus unterschiedlichen Traditionen stammend – außerhalb der etablierten Kirchen stehen. Sie hatten jeweils einen eigenen »Dissens«, spezifische ek­klesiologische Ausprägungen und bildeten unterschiedliche Beziehungen zu Staat und Landeskirchen aus. Im vorliegenden Band wird nicht nur der Begriff der Dissenter umsichtig und historisch verortend dargestellt, sondern dieser konfessionskundlich in »Freikirche« und »religiöse Sondergemeinschaft« ausdifferenziert. Im weiteren Verlauf der vorliegenden Studie fragt ihr Autor, der ursprünglich aus der methodistischen Kirche stammende reformierte Schweizer Kirchenhistoriker und Psychologe Herbert Strahm, erstens nach den das Dissentertum prägenden Eigenschaften und Eigentümlichkeiten sowie nach deren Selbstverständnis gegenüber den Landeskirchen und den rechtlichen Grundlagen. Zudem widmet er sich zweitens der Frage nach den R eaktionen der protestantischen Großkirchen und staatskirch-lichen wie weltlichen Behörden auf Aufkommen, Wirken und Existenz der außerkirchlichen Minoritäten. Drittens kommen die unterschiedlichen Reaktionen der Dissentergemeinschaften auf die obrigkeitlichen wie kirchlichen Maßnahmen in den Blick, be­vor viertens diese Interaktionen zwischen Dissentergruppen und Großkirchen un­tersucht werden und nach Berührungspunkten und Reibungsflächen gefragt wird. Schließlich untersucht die Studie den Wandel dieser Interaktionen und des Beziehungsgeflechts zwischen Dissentergemeinschaften und staatlicher wie kirchlicher Hoheit.
S., der 1989 eine Arbeit über »Die Bischöfliche Methodistenkirche im Dritten Reich« vorgelegt hat, greift mit seiner neuen Stu-dien ein drängendes Forschungsdesiderat auf, da die Geschichte der Dissenterbewegung in Deutschland bislang nur unzureichend historiographische Aufmerksamkeit gefunden hat. Die Be­schäftigung mit diesen christlichen Gruppen besitzt auch deswegen großen wissenschaftlichen Wert, weil die meisten kirchengeschichtlichen Gesamtdarstellungen auf diese Bewegungen häufig kaum eingehen und sich auf die jeweiligen Großkirchen konzentrieren.
Die Studie, der reichhaltige ungedruckte Archivalien zugrunde liegen, gliedert sich in sechs Kapitel, an die sich ein Quellen- und Literaturverzeichnis sowie Sach-, Personen- und Ortsregister an­schließen. Nach der Beschreibung der historischen und rechtlichen Kontexte im ersten Kapitel folgt die Darstellung des Dissentertums vom Zeitalter Napoleons bis zum Ende der Restauration. In diesem zweiten Kapitel wendet sich S. neben den Mennoniten oder Taufgesinnten der Herrnhuter Brüdergemeine und den im 19. Jh. entstandenen lutherischen Freikirchen zu. Somit beschreibt er drei unterschiedliche Traditionsstränge des Dissentertums, nämlich den täuferischen, den pietistischen und den konfessionellen lutherischer Provenienz. Das dritte Kapitel thematisiert das »Dissentertum zwischen Vormärz und Deutsch-französischem Krieg«. Hier geht es vor allem um jene Traditionen, die aus dem angelsächsischen Raum stammten, um Baptisten und Methodis-ten. Diese beiden Freikirchen werden ausführlich in ihrer historischen Genese in Deutschland dargestellt und dabei in besonderer Weise die Geschichte der Konflikte und Interaktionen mit den Landeskirchen erhellt. Im vierten Kapitel – »Dissentertum vor und im Kaiserreich bis zur Jahrhundertwende« – wendet sich die Studie zu­nächst den katholisch-apostolischen Gemeinden zu. Daran an­schließend kommen die »Siebenten-Tags-Adventisten« sowie die »Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage« – die Mormonen– in den Blick. Diesen Sondergemeinschaften schreibt S. treffend die Begriffspaare »Apostelamt und Apokalyptik«, »Prophetie und Es­chatologie« sowie »Visionen und Endzeit« zu. Abschließend zieht S. im fünften Kapitel ein Fazit und skizziert knapp die religionsrecht-lichen Entwicklungen im 20. Jh., um abschließend Aufgaben für die Gegenwart sowie Perspektiven für die Zukunft zu skizzieren.
Die Studie zeigt anschaulich und gut informiert, dass trotz vielfältiger Behinderungen durch staatliche wie kirchliche Instanzen das Aufkommen und die Verbreitung von dissenterischen Gruppen nicht aufgehalten werden konnte. Das Ergebnis dieser Entwicklung war eine überaus pluralistische kirchliche Landschaft, die es verdient, historiographisch wie theologisch systematisch analysiert zu werden. Waren die Dissentergemeinschaften im 19. Jh. und lange ebenso im 20. Jh. in der kirchlichen Landschaft wie in der breiten Öffentlichkeit weithin Fremdkörper, so gilt es heute umso mehr, ihre Geschichte, die nicht selten eine Geschichte obrigkeitlicher wie kirchlicher Repressalien und Unterdrückung gewesen ist, gründlich kennenzulernen. Denn einzelne dieser Gemeinschaften wurden im geschichtlichen Verlauf zusehends zu einem durchaus ernst zu nehmenden Gegenüber der Staats- und Landeskirchen. Außerdem ist ihre Kenntnis deshalb ratsam und dienlich, weil gegenwärtig die katholische Kirche sowie die deutschen Lan deskirchen und die Freikirchen unterschiedlicher Prägung eng miteinander verbunden sind und auf zahlreichen Ebenen und in vielfältigen Kontexten zusammenarbeiten. Dabei wird allerdings nicht selten mangelndes Verständnis füreinander ersichtlich. Das Buch von S. könnte durchaus dazu beitragen, nicht nur Verständnis und Sensibilität für unterschiedliche Formen kirchlicher Exis-tenz zu fördern, sondern auch durch die Aufarbeitung von Auseinandersetzungen und Zerwürfnissen einen Versöhnungsprozess einzuleiten respektive zu begleiten.
Es kommt S. das große Verdienst zu, mit seiner Studie einerseits wichtige Schneisen in die Geschichte der außerkirchlichen Dissenterbewegungen geschlagen und damit ein Forschungsdesiderat bearbeitet zu haben. Andererseits zeigt diese umfangreiche Arbeit den Bedarf weiterer und vertiefender Detailanalysen, um dieses lange Zeit von der Forschung vernachlässigte zentrale Phänomen der neuzeitlichen und modernen Religionsgeschichte zu erhellen. Weitere Forschungen sollten neben theologiegeschichtlichen beispielsweise stärker sozial- oder mentalitätsgeschichtliche Perspektiven einnehmen oder diskursanalytisch verfahren.
Für alle, die an konfessionskundlichen Themen oder an Fragen moderner Religionsproduktivität interessiert sind, bietet die Lektüre des besprochenen Bandes, der durchaus den Charakter eines Handbuches besitzt, reichhaltige Erkenntnisse.