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Ausgabe:

Juni/2019

Spalte:

651–653

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Gross, Jan

Titel/Untertitel:

Pluralität als Herausforderung. Die Leuenberger Konkordie als Vermittlungsmodell reformatorischer Kirchen in Europa.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2018. 386 S. = Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie, 162. Geb. EUR 100,00. ISBN 978-3-525-53127-3.

Rezensent:

Wilhelm Hüffmeier

Die Leuenberger Konkordie aus dem Jahr 1973 gilt vielen als »das bislang erfolgreichste ökumenische Dokument« (351) zur Ermöglichung kirchlicher »Einheit in versöhnter Verschiedenheit«. Die erstaunliche Entwicklung der durch die Konkordie geschaffenen Leuenberger Kirchengemeinschaft (seit 2003 Gemeinschaft evangelischer Kirchen in Europa – GEKE) spricht dafür. Ursprünglich zielte die Konkordie vor allem auf das Miteinander der Kirchen in den einzelnen Ländern. Auf europäischer Ebene war nur ein Koordinierungsausschuss vorgesehen, der die in der Konkordie verabredeten theologischen Lehrgespräche in Gang brachte und der Vollversammlung zur Beschlussfassung vorlegte. Aus dieser strukturellen Minimalausstattung ist inzwischen eine Gemeinschaft mit öffentlich-rechtlichem Status geworden, geleitet von einem Rat, der, seit Kurzem mit einem hauptamtlichen Generalsekretär an der Seite, die stetig gewachsenen Aufgaben, z. B. »Stärkung der evangelischen Stimme in Europa« (171), beherzt wahrnimmt.
Zu der Entwicklung der letzten 45 Jahre gehört allerdings von Anfang an auch die Kritik an Methode und Modell der von der Konkordie geschaffenen Kirchengemeinschaft. Kritik kam sowohl von reformatorischen Kirchen selber wie aus der größeren christlichen Ökumene. Der Evangelisch-Lutherischen Kirche Finnlands etwa war die Konkordie als Basis für die Kirchengemeinschaft inhaltlich nicht ausreichend. Dabei ging es auch um die Interpretation des für die Konkordie entscheidenden Artikels VII der Confessio Augustana, speziell des Terminus »doctrina evangelii«. Von römisch-katholischer, anglikanischer und orthodoxer Seite sah man darin ein begrenzt evangelisches Modell. Zugleich fand aber die theologische Arbeit der Leuenberger Kirchengemeinschaft in der römisch-katholischen Kirche so viel Aufmerksamkeit, dass es auf der 8. Vollversammlung der GEKE in Basel im September 2008 zur Verabredung eines offiziellen Dialogs zwischen der GEKE und dem römischen Einheitssekretariat gekommen ist.
In diese Entwicklung passt die Mainzer systematisch-theologische Dissertation von Jan Gross ausgezeichnet hinein. Da es in den über 40 Jahren nach Verabschiedung der Leuenberger Konkordie nach G. »weder zu einer einheitlichen Rezeption« ihrer »Methode«, noch zu einem homogenen Verständnis ihres »Modells« von Kirchengemeinschaft gekommen sei (20), legt er eine »Metainterpretation« (28) des Leuenberger Konzepts von Kirchengemeinschaft vor unter Einbezug ihrer »Entwicklungsgeschichte« von 1973 bis 2012 (353). Diese Interpretation könne sowohl die unterschiedlichen Lesarten der Konkordie als auch die Kritik an ihr integrieren als auch die ökumenische Formel »Einheit in versöhnter Verschiedenheit« inhaltlich schärfen und so die Konkordie für den weiteren ökumenischen Diskurs fruchtbar machen.
G. löst seinen Anspruch in drei aufeinander aufbauenden Teilen ein. Im ersten Teil (37–144) wird die durch die Leuenberger Konkordie eröffnete Kirchengemeinschaft auf der Grundlage eines Konsenses der beteiligten Kirchen im Verständnis des Evangeliums »als Projekt (lat. proiectum) und Prozess (lat. processus)« analysiert (122). Der die Kirchengemeinschaft ermöglichende Konsens ist nach G. auf einer vertikalen und einer horizontalen Ebene angesiedelt, vertikal als von Gott selber kraft der Verkündigung des Evangeliums sammelnder und sendender Glaubensgewissheit, horizontal »als Brücke zwischen den Bekenntnissen« (121) der Kirchen, die die Kirchengemeinschaft bilden.
Der zweite Teil der Arbeit gilt einer Relektüre der Leuenberger Studie »Die Kirche Jesu Christi« von 1994 (145–232). Durch die fundamentaltheologischen Unterscheidungen und Zuordnungen von »Grund«, »Gestalt« und »Auftrag« der Kirche werde »die in der Konkordie implizit enthaltene Ekklesiologie« entfaltet und vertieft (147). Das besondere ökumenische Anliegen der Studie komme in der Beschreibung der Kirche durch ihre Wesenseigenschaften Einheit, Heiligkeit, Katholizität und Apostolizität »als Vorgabe für die sichtbaren Kirchen« (192) in allen ihren Dimensionen vom Gottesdienst bis zur Diakonie zum Ausdruck. Die »kritische Abgrenzung« evangelisch verstandener Apostolizität von »solchen Deutungen, die diese in der successio ordinis begründet sehen und somit die bischöfliche Traditionstätigkeit als Teil des Offenbarungsprozesses selbst erachten« (195), zeigt zugleich an, wo der ökumenische Dialog Konsense suchen muss. In der produktiven Auslegung der Konkordie werde, so G., allerdings die vertikale Ebene des Leuenberger Konsenses, d. h. der Gesichtspunkt der Kirchengemeinschaft als Glaubensgemeinschaft, so akzentuiert, dass die »Ebene sichtbarer Gemeinschaft von Kirchen ungenügend beachtet wird« (231).
Im dritten Teil seines Buches stellt sich G. dem ökumenischen Diskurs über das Leuenberger Modell von Kirchengemeinschaft (233–349). Hier analysiert G. nicht nur die innerevangelische Kritik des Leuenberger Modells, sondern auch die von römisch-katho-lischer, orthodoxer und anglikanischer Seite. Zugleich wird der Blick auf die ökumenische Formel »Einheit in versöhnter Verschiedenheit« gelenkt. Auf sie bezogene theologische Begriffe wie »Grundkonsens« und »Grunddifferenz« und deren Ausformung bzw. Überwindung durch einen »differenzierten« bzw. »referentiellen Konsens« werden sorgfältig erläutert und miteinander verknüpft (309–337). Die Leuenberger Konkordie vereine den referentiellen, d. h. auf seinen Gegenstand, Gottes Glauben schaffende Offenbarung, verweisenden mit einem differenzierten Konsens. Nicht ge­klärte Differenzen würden aber fortlaufend zu Konsensen geführt.
In einem knappen »Fazit und Ausblick« (351–357) wird zu der eingangs festgestellten Situation der unterschiedlichen Rezeptionsweisen der Konkordie und der kritischen Bewertung ihrer Methode und ihres Modells festgestellt: »Die Interpretationsvielfalt in Bezug auf die Methode der Leuenberger Konkordie ist in dem Einigungsmodell (selber) veranlagt« (353). »Einheit in versöhnter Verschiedenheit« ist nach dem Leuenberger Modell einerseits die »von Gott ›vorausgeworfene‹ Einheit der Kirchen im Sinne der Teilhabegemeinschaft der Gläubigen am Leib Christi.« Anderseits ist sie »ein kontinuierlicher Prozess, in dem die Kirchen diese geglaubte Einheit zum Ausdruck bringen und einen immer wieder zu prüfenden und zu vertiefenden Konsens zwischen ihren unterschiedlichen Lehren artikulieren« (353). Indem diese Kirchengemeinschaft auch unterschiedliche Lesarten ihres Gründungsdokuments zu integrieren vermag, erweist sie sich als » Kommunikationsmodell zum Umgang mit Pluralität« (354). Die Analogie dieses Modells zur Europäischen Union, die, ebenfalls herausgefordert durch Pluralität und Partikularität, ständig um die Einheit ringen muss, ist augenfällig (13 u. 355 f.).
Der Rezensent ist beeindruckt von der systematischen Kraft der Arbeit von G. und der gründlichen Kenntnis des Weges der Leuenberger Konkordie. Allerdings hätte ein eigenes Kapitel über die einzelnen Kirchen der GEKE der Arbeit gut getan. Ohne Fragen wie die der Rezeption der Konsens stiftenden Texte der GEKE in den ca. 100 Mitgliedskirchen – und sei es beispielhaft – zu beantworten, aber auch Prozesse der Kirchenvereinigung, Vorgänge kritischer An­wendung der Konkordie oder der Abwendung von ihr zu beschreiben, fehlt der Erfolgsstory sozusagen die Bodenhaftung. Doch diese Seite des Leuenberger Modells erfordert wohl ein eigenes Forschungsvorhaben.