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Ausgabe:

Juni/2019

Spalte:

649–651

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Bruijne, Ad de, and Gerard den Hertog [Eds.]

Titel/Untertitel:

The Present »Just Peace/Just War« Debate. Two Discussions or One?

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2018. 224 S. = Beihefte zur Ökumenischen Rundschau, 121. Kart. EUR 38,00. ISBN 978-3-374-05620-0.

Rezensent:

Ewald Stübinger

Die Beiträge dieses Buches basieren auf einer Tagung, die von den reformierten theologischen Universitäten Apeldoorn und Kampen im Jahr 2016 veranstaltet wurde. Thema war die aktuelle Debatte um »Gerechten Krieg/Gerechten Frieden« auf dem Hintergrund der veränderten weltpolitischen Lage mit »neuen Kriegen« (gegen Terrorismus etc.).
Der Jurist Ted A. van Baarda eröffnet den ersten Inhaltsbereich zur gegenwärtigen Situation und Debatte mit der Frage nach der Rechtmäßigkeit soldatischen Handelns im Krieg (13-34). Er vertritt die These, dass die ethisch-theologische Theorie des »Gerechten Krieges« (GK) durch das säkulare internationale Recht abgelöst und damit obsolet geworden sei. Dieses ziele auf die Verhinderung anstatt auf die Ermöglichung von Krieg. Die (sechs) Kriterien des ius ad bellum seien entweder durch die UN-Charta aufgehoben (z. B. »rechte Absicht«) oder in die Verfügungsgewalt der UN überführt worden (z. B. »rechte Autorität«). Beim »Recht im Krieg« (ius in bello) sei durch das internationale Recht eine Erweiterung hin zu mehr Neutralität und Beistand (Genfer Konvention u. a.) erfolgt.
Der evangelische Theologe Wolfgang Lienemann (35–57) führt die neuerliche Renaissance des Konzepts vom GK in den angelsächsischen Ländern im Unterschied zu dessen Ersetzung durch »Ge­rechten Frieden« (GF) von Seiten der beiden christlichen Kirchen in Deutschland auf unterschiedliche historische Erfahrungen (bes. Zweiter Weltkrieg, »9/11«) zurück. Das von der UN Anfang 2000 eingebrachte Konzept der »Responsibility to Protect« (R2P) wird vor allem von angelsächsischen Autoren als Renaissance der GK-Theorie mit der Priorisierung von Moral gegenüber dem Recht reinterpretiert. Nach L.s Kritik sollte dieses Konzept der »humanitären Intervention« jedoch nicht als Erlaubnis zur Selbst-Mandatierung missbraucht werden. Die berechtigte Kritik am Zustand der UN sollte zu vermehrten Anstrengungen zu einer Reform der UN so­wie zur Weiterentwicklung des Rechts im Sinne einer globalen kosmopolitischen Rechtsordnung (im Sinne Kants) führen. Schließ lich sei das säkulare internationale Recht eine Konsequenz des christlichen Glaubens.
Im zweiten Themenbereich, dem ethischen Zugang zu Frieden und Krieg, verteidigt der anglikanische Theologe Nigel Biggar die GK-Theorie (61–76; ausführlich in: In Defence of War, Oxford 2013). Für B. ist gerade die christliche Theorie des GK wegen R2P höchst aktuell. Ziel sei die Abwehr von Ungerechtigkeit (mittels Bestrafung und Vergeltung), Abschreckung und ggf. Versöhnung. Aus christlicher Sicht käme dem internationalen Recht nur die vor-letzte Autorität zu, dem »moralisch-natürlichen Recht« die höchste, wozu auch das nationale Interesse an Integrität und Sicherheit zähle. Für B. ist die Theorie des GK auch unter den Bedingungen von Atombewaffnung, Bürgerkriegen, Cyberkriegen usw. gültig. Obwohl militärische Maßnahmen verhältnismäßig sein müssten, seien »Kollateralschäden« (selbst an Menschen) nicht grundsätzlich unmoralisch, da oft unvermeidbar. B.s Verteidigung des GK führt ihn zu einer expliziten theologisch-moralischen Rechtfertigung einer Vielzahl der von westlichen Staaten seit dem 20. Jh. geführten Kriege.
Der evangelische Theologe Gerard den Hertog setzt in seinem Aufsatz »Können Sünder einen gerechten Krieg führen?« (77–93) mit seiner Kritik an Biggar bei dessen Anthropologie an. B.s vermeintlicher »moralischer Realismus«, der von der Universalität der menschlichen Sünde als empirischer und christlicher Tatsache ausgeht, stehe in einem ungeklärten Verhältnis zu dessen theolo-gischer Grammatik, die auf Mitleid, Barmherzigkeit, Vergebung und Unrechtleiden basiert. Aufgrund der Grausamkeiten von mo­dernen Kriegen und deren Traumatisierungsfolgen sei die beid-seitige Anerkennung des »Sünderseins« keine tragfähige Basis für Frieden und Versöhnung, bes. auf Seiten der Opfer. Gegen B.s Ha­martiologie setzt H. die Versöhnungslehre, wodurch die Schaffung von Frieden und Gerechtigkeit – wenngleich unvollkommen und vorläufig – nicht vergeblich sei. Dies schließe in bestimmten Situationen den Einsatz von Waffen zwar nicht von vorneherein aus, rechtfertige aber keinesfalls einen GK, da Krieg stets ein Übel sei.
Der evangelische Theologe Marco Hofheinz zeigt in seinem Beitrag »Wie intervenieren?« (94–113) anhand von historischen Beispielen, dass die Theorie vom GK kein statisches Konzept gewesen ist. Das (Gegen-)Modell des GF sei eine »unvollendete Vision« (101), die systematisch in der Mitte zwischen GK und Pazifismus stehe. Zwar könne in Grenzfällen (z. B. bei Genozid) der Einsatz militä-rischer Mittel nicht völlig ausgeschlossen werden (in diesem Fall wären gewisse Kriterien des GK bedingt anwendbar), jedoch dürften diese »Grenzfälle« (K. Barth) nicht zu einer Theorie des GK oder der Legitimation unilateraler Interventionen ausgearbeitet werden. Sie müssten vielmehr Anlass sein, um internationales Recht zu stärken und weiterzuentwickeln sowie Good Governance zu fördern. Stets müssten Prävention sowie zivile vor militärischen Mitteln Vorrang haben. Bei der Frage, wie man gegen ISIS in Irak und Syrien vorgehen sollte, plädiert H. gemäß internationalem Recht für eine wirksame Rechtsdurchsetzung mittels einer Polizeiaktion durch die UN. Der »War on terror« wird – mit Lienemann – abgelehnt.
In seinem Artikel über »Soziale Praktiken des Friedens« (129–150) stellt der evangelische Theologe Hans G. Ulrich die christlichen Kirchen als Orte des Friedens ins Zentrum seiner Überlegungen. Diese seien der genuine Ort einer »utopischen Praxis«, in der GF als soziale Realität schon jetzt Wirklichkeit werde (mit Bonhoeffer). Gegen die Logik des GK setzt U. damit die christliche Gemeinschaft, die von der Hoffnung auf Gottes Frieden lebt. Wie sich allerdings verhindern lässt, dass sich die Kirchen nicht selbst vom Freund-Feind-Denken anstecken lassen (siehe Jugoslawienkrieg, Syrien- oder Russland-Ukraine-Konflikt), bedürfte einer weiteren Überlegung.
Während der dritte Hauptteil die moralische Verantwortung von und ethische Hilfe für Soldaten thematisiert, handelt der vierte von christlichen Antworten auf die Theorie des GK. Die Positionen christlicher Pazifisten in den Niederlanden erläutert die Theologin Greetje Witte-Rang (187–199). Deren Positionen konvergieren zwar in der Ablehnung der Lehre vom GK; sie changieren aber zwischen einem radikalen, jede Form von Krieg ablehnenden und einem grundsätzlichen Pazifismus, der in Ausnahmefällen (z. B. bei Genozid) begrenzte militärische Mittel zeitlich befristet zulässt. Der Beitrag des niederländischen Sozialethikers Ad de Bruijne (200–220) behandelt das Problem des innerchristlichen »GK auf beiden Seiten«. An historischen Beispielen zeigt er auf, dass solche Kriege zwischen Christen jeweils mit der Lehre vom GK biblisch-theologisch legitimiert worden sind. Gegen diese Legitimierung votiert B. für eine Verknüpfung von Augustins Zwei-Reiche-Lehre als Rahmentheorie und Bonhoeffers Ekklesiologie als übergeordnetes Modell. Damit werden die Konzepte des GF und des GK in ein asymmetrisches Komplementärverhältnis gesetzt, so dass die primäre Aufgabe der Christen auch im Konfliktfall das Friedenstiften sei.
Der Sammelband bietet einen instruktiven Überblick über die neueren Entwicklungen im ethisch-theologischen Diskurs über GK/GF (siehe auch Evangelische Theologie/NF, H. 4/2015). Ein Grundkonsens besteht darin, dass eine Weiterentwicklung des internationalen Rechts und der Vereinten Nationen wünschenswert ist. Divergenzen zeigen sich vor allem in der Bewertung und Zuordnung der Konzepte von GF und GK, der empirischen und politischen Einschätzung von militärischen Maßnahmen, dem Verhältnis von Ethik und internationalem Recht sowie der sozialen Stellung und Aufgabe der Kirche. An die Stelle der vom Ost-West-Konflikt dominierten Friedensdiskussionen des 20. Jh. ist damit eine neue Nachdenklichkeit und differenzierte Auseinandersetzung um die Fragen von Frieden, Krieg und militärischer Gewalt getreten, die vor allem einer »neuen weltpolitischen Unübersichtl ichkeit« hinsichtlich der Konfliktlagen geschuldet ist. Für den deutschsprachigen Raum zeichnet sich ein breiter Konsens zu-gunsten des Konzepts des GF ab, der Pazifismus und friedenserzwingende Maßnahmen nicht als absolute Gegensätze, sondern als unterschiedlich zu gewichtende Zielsetzungen (»Frieden durch Gerechtigkeit« statt »GK«) versteht. Divergenzen bestehen aber weiterhin hinsichtlich deren Gewichtung und Zuordnung. Die Frage im Untertitel des Buches bleibt demnach offen.
Der Diskurs macht deutlich, dass es einfache (und schnelle) Lösungen in diesen Fragen nicht gibt, aber die gemeinsame Suche danach umso wichtiger ist, die zugleich einer »Gratwanderung« gleichkommt. Angesichts der gegenwärtigen weltweiten Tendenzen zu mehr Nationalismus, Aufrüstungsanstrengungen und un­verhohlenen Drohungen mit Gewalt in internationalen Konfliktlagen ist das Buch aktueller denn je.