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Ausgabe:

Juni/2019

Spalte:

641–643

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Leonhardt, Rochus, u. Arnulf von Scheliha [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Hier stehe ich, ich kann nicht anders! Zu Martin Luthers Staatsverständnis.

Verlag:

Baden-Baden: Nomos Verlag 2015. 262 S. = Staatsverständnisse, 82. Kart. EUR 39,00. ISBN 978-3-8487-1692-0.

Rezensent:

Svend Andersen

Der Sammelband erscheint in der Reihe »Staatsverständnisse«, die laut dem Editorial vorwiegend Schriften zum neuzeitlichen Verständnis vom Staat veröffentlicht. Wie die Herausgeber in der Einleitung hervorheben, gehört Martin Luther nicht zu den Staatsdenkern von »klassischem Rang«. Trotzdem ließen sich »wesentliche Aspekte des gegenwärtigen Staatsverständnisses in Deutschland« als »Langzeitwirkung« der lutherischen Reformation verstehen (9). Die ausdrückliche Bezugnahme auf Deutschland und der daraus resultierende etwas enge Blickwinkel sind für viele der Beiträge charakteristisch. Die genannten Elemente von Luthers politischer Ethik mit Langzeitwirkung werden als gegenläufig vorgestellt. Es geht hier vor allem einmal um die Ablehnung politischer Einflussnahme auf religiöse Fragen, zum anderen um die mit der gleichwohl engen Verknüpfung von Staat und Kirche zusammenhängende »Staatsfrömmigkeit« der Deutschen. Was das Erste betrifft, wird eine vielleicht zu deutliche Übereinstimmung zwischen Luthers Grenzziehung und Barmen bzw. der Bekennenden Kirche behauptet (10). Nach der »Hauptquelle zu Luthers Staatsverständnis«, der Schrift Von weltlicher Obrigkeit in der Neuübersetzung von H. Zschoch, erscheinen die Einzelbeiträge zu Luthers Staatsdenken unter den Kategorien »Analysen«, »Kontextualisierungen« und »gegenwärtige Aktualität«.
Unter der ersten Kategorie gibt der Kirchengeschichtler A. Kohnle eine gründliche Übersicht über den geschichtlichen Kontext von Luthers »Staatsverständnis« – so mit präzisierenden Anführungsstrichen! Luthers Unterscheidung zwischen den zwei Reichen und Regimenten habe im Rahmen der Diskussion über die »Zwei-Reiche-Lehre« eher eine »Verunklärung« erlitten (62 f.). Es handele sich zwar um die »für Luthers Staatsverständnis entscheidende Rahmentheorie« (64), aber diese beinhalte nicht eine Trennung von Staat und Kirche, sondern eine Unterscheidung von Geistlichem und Weltlichem (65). An dieser theoretischen Grenzziehung halte Luther sein Leben lang fest. Ein fürstliches Kirchenregiment gebe es schon vor der Reformation, es wurde aber durch diese verstärkt. Allerdings hätte Luther wissen müssen, dass die Fürsten das ihnen zugeteilte Amt als Notbischöfe in ihr Landesherren-Wirken integrieren wür den. Als Fazit gelte jedoch: »Ohne das Landesfürstentum hätte Luthers Reformation nicht überlebt« (70).
Unter derselben Kategorie »Analysen« behandelt R. Leonhardt Luthers politisches Denken systematisch, d. h. hinsichtlich seines theoretischen Sachgehaltes und seiner gegenwärtigen Plausibilität. Mit Recht wird der spezifisch christliche Aspekt der politischen Ethik Luthers hervorgehoben. Der Christ habe aus dem »Grundsatz der Nächstenliebe« heraus sowohl eine Pflicht zum Rechtsgehorsam als auch eine Mitwirkungspflicht (81 f.). Was die Grenze der obrigkeitlichen Machtausübung betrifft, wird erhellend von einem »religiösen Irrtumsrecht« gesprochen (86). Wenn es um das politische Denken geht, muss nach Leonhardt deutlich zwischen dem frühen und dem späten Luther unterschieden werden. Nach 1525 trete eine »politische Wende« ein, die sich u. a. in der Stellung zu den Juden zeige: »Religiöse Pluralität war für ihn nur zeitlich begrenzt denkbar«, denn Luther war überzeugt, dass sich die von ihm entdeckte Wahrheit unumgänglich durchsetzen werde. Die Liberalität des Luther von 1523 bewahre jedoch ihre Aktualität, »auch und gerade angesichts der modernen Einsicht in die Unhintergehbarkeit eines religiös-weltanschaulichen Pluralismus« (101). Wie Kohnle hebt Leonhardt die Bedeutung des landesherrlichen Kirchenregimentes hervor. Es sei das folgenreichste Ereignis für die Religionsgeschichte des deutschen Protestantismus. Erst nach Beginn der politischen Säkularisierung werde die lutherische Staatskirchenordnung problematisiert. An dieses Statement schließt sich eine informative Übersicht über lutherische Grundpositionen zum Verhältnis Staat – Kirche an.
Unter der Kategorie »Kontextualisierungen« vergleicht V. Reinhardt einleuchtend Luther und Machiavelli hinsichtlich ihres Verständnisses des Politischen. Unter den erhellenden Beobachtungen findet sich diejenige, dass die Lehre von den beiden Regimenten für Machiavelli staatsauflösend wäre .
Unter derselben Kategorie behandelt A. Dörfler-Dierken den Be­griff Widerstand, wobei die Kontextualisierung sowohl neuere Protestbewegungen als auch die Problematik der NS-Herrschaft um­fasst. Die Autorin sieht die lutherische Tradition als gekennzeichnet von »Herrschaftsverdichtung und Individualisierung« (161) und betont die verzögerte Fähigkeit deutscher Lutheraner, ein demokratisch gewähltes Parlament als Obrigkeit anzuerkennen. Als Ge­genpol zur NS-Freundlichkeit im deutschen Luthertum wird auf den norwegischen Bischof Berggrav hingewiesen. Es hätten auch weitere Beispiele der ganz anderen Auffassungen zum Widerstand auf Seiten skandinavischer Lutheraner erwähnt werden können.
Im letzten Beitrag dieser Kategorie behandelt R. M. Lehmann Luthers »Naturrecht«. Dass Luther den Begriff des natürlichen Ge­setzes in seine Ethik, nicht zuletzt die politische, einbezieht, ist unbestreitbar. Dank seiner Fülle von einschlägigen Textverweisen ist der Beitrag sehr nützlich. Zweifelhafter ist die systematische Deutung von Luthers Lehre vom natürlichen Gesetz. Dass man sie in engem Zusammenhang mit der Regimenten-Unterscheidung zu lesen habe, leuchtet ein (172). Weniger überzeugend ist Lehmanns Behauptung, das natürliche Gesetz – in der Goldenen Regel zusammengefasst – sei zum einen mit dem Gebot der Nächstenliebe äquivalent und zum anderen durch Jesus Christus als »Naturrecht auf den Begriff« gebracht (186). Hier wird der Unterschied zwischen so-teriologisch begründeter Nächstenliebe-Ethik und »natürlicher« Ethik verwischt. Auch leuchtet nicht ein, dass das Gebot der Feindesliebe »im geistlichen Reich Gottes« gelte (186). Laut Obrigkeitsschrift ist die selbstaufopfernde Liebe des Christen auch im weltlichen Bereich zu praktizieren!
Unter der Kategorie »gegenwärtige Aktualität« findet sich der wohl ertragreichste Beitrag: V. Stümkes »Frieden, Recht, Ordnung – Luthers Impulse für ein gegenwärtiges Staatsverständnis«. Wie der Titel besagt, gehen für Stümke von Luthers Denken Impulse für eine gegenwärtige politische Ethik aus. Und die Impulse betreffen die drei anderen Begriffe des Titels: Die Obrigkeit ist von Gott eingesetzt, um soziale Ordnung zu erhalten, und zwar mit dem Mittel des Rechts und dem Ziel des Friedens. Unter dem Stichwort »Grenzen der Obrigkeit« hebt Stümke hervor, der Staat sei nach Luther kein Selbstzweck, kein totaler und kein absoluter Staat. Und was die politische Rolle des Christen betrifft, wird wohltuend präz isiert, die im Beruf praktizierte Nächstenliebe (und nicht der Gehorsam) sei deren entscheidende Gestalt. Wichtig ist auch die Beobachtung, für Luther sei Nächstenliebe nicht nur spontanes Handeln in einer Zweierkonstellation, sondern auch Tätigkeit »in einer sozialen Dreierkonstellation« (239). Als »Grundimpuls von Luthers Staatsidee« fasst Stümke sehr schön zusammen: Die »Ge­staltung der Nächstenliebe« durch den Staat erfolgt »durch die Begrenzung und Fokussierung seiner Aufgaben wie durch die aktive Mitarbeit der Christen« (240).
Im letzten Beitrag des Bandes macht A. von Scheliha noch einmal den Versuch einer Gesamtdeutung von Luthers politischem Denken und seiner Gegenwartsbedeutung. Es handele sich um eine »verfahrensethische Interpretation«, wobei dieser nicht ganz gängige Begriff nicht näher definiert wird. Einen besonderen As­pekt enthält der Beitrag durch seine Diskussion über »Religion und Politik im öffentlichen Raum«. Es werden die einflussreichen Theorien von J. Habermas und J. Rawls erwähnt, wobei Letzterer leider missverständlich dargestellt wird. Rawls befürwortet keineswegs eine Begrenzung religiöser Äußerungen im breit gefassten öffent lichen Raum. Wohl aber schließt er – wie Habermas – religiöse Argumente von der Begründung staatlicher Maßnahmen aus. Schwerwiegender als dieser Lapsus ist jedoch die wichtige Beobachtung, dass dem lutherischen Christentum dank der Zwei-Reiche-Unterscheidung die Trennung von Glaube und profanen Institutionen inhärent ist. Genau das befähigt lutherische Christen, in einen overlapping consensus im Sinne Rawls’ einzutreten.