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Ausgabe:

Juni/2019

Spalte:

637–639

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Mettenbrink, Roland

Titel/Untertitel:

Religion in Kinderliteratur. Sterben und Tod bei Astrid Lindgren.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2018. 360 S. Kart. EUR 48,00. ISBN 978-3-374-05642-2.

Rezensent:

Karl Friedrich Ulrichs

Astrid Lindgren ist die bedeutendste europäische Kinderbuchautorin des 20. Jh.s, kaum ein Kind in Schweden und Deutschland, das ohne ihre Geschichten aufgewachsen wäre, sich nicht hineingeträumt hätte in die Kinderwelten Smålands, dort Freiheit miterlebt und diese literarische Erfahrung als Resilienzressource erfahren hätte. Dass ihr umfangreiches Œuvre bisher nicht Gegenstand theologischer bzw. religionspädagogischer Forschung gewesen ist, verwundert angesichts ihrer immensen Verbreitung und Bedeutung. Angeregt durch eigene kirchliche Aufgaben hat Roland Mettenbrink dem Gesamtwerk Lindgrens nun eine ausführliche theologische Darstellung gewidmet. Intime Kenntnis und Faszination für die literarischen und gesellschaftlichen Anliegen der Autorin sind durchweg zu spüren.
Die Studie setzt einen thematischen Fokus auf Sterben und Tod, sei dieses Thema doch in »nahezu allen« (311) Lindgren-Schriften auszumachen. Das stimmt allerdings schon quantitativ nicht, ergibt doch eine Durchsicht der 69 von ihm untersuchten Werke nicht weniger als 34 Fehlanzeigen. Auch müsste begründet werden, warum gerade zu Lindgren dieser Fokus sinnvoll ist, geraten damit doch andere für ihr Leben und Werk wichtige Themen wie Schöpfungs- und Vorsehungslehre oder aktuell bearbeitete Aspekte wie die Bedeutung von Familie etwas aus dem Blick.
Als Heuristik wählt M. nicht etwa den als state of the art anzusprechenden Ansatz des Germanisten Wolfgang Braungart (Literatur und Religion in der Moderne, 2016), wonach auch säkulare Literatur als Realisation christlichen Glaubens verstanden werden kann, oder eine kunstreligiöse Interpretation, wie sie etwa von Heinrich Detering vertreten wird, sondern Karl-Josef Kuschels Konzept »christophorischer« Literatur, wonach auch nicht dezidiert christliche Literatur »einen maßgebenden Bezug zu Jesus Christus und seiner Sache« (108, Zitat Kuschel) bieten kann; »das spezifische Profil Jesu« (111, Zitat Kuschel) könne hier zur literarischen Sprache kommen. In 22 von 69 untersuchten Werken macht M. christophore Interpretationsmöglichkeiten aus. Die Durchführung »christophorischer Deutung« erscheint indes zumeist assoziativ: Da ähnelt beispielsweise Michel Christus, indem er seinen Freund Alfred rettet und dabei sein Leben riskiert (254) – macht es keinen Unterschied, dass Christus es nicht nur riskiert, sondern tatsächlich einsetzt? – und den armen Alten von Mariannelund einen legendären Weihnachtsschmaus beschert (241). Inwiefern ist der erzählte Tod eines Tieres, nämlich der geliebten Kuh Embla, und das wunderbare Geschenk eines Kälbchens »offen für eine Auslegung in christophorischer Perspektive […] (Kreuz und Auferstehung, Bedrängnis und doch neues Leben)« (245)? Worin besteht diese theologische Lesart genau? Doch eher in der Freude am Ineinander von providentia dei et confusio hominum! Kann das mit der Lektüre oder dem Ansehen des Films »Ferien auf Saltkrokan« aufkommende »Sehnsuchtsgefühl« kurzerhand mit der »Erlösungsbedürftigkeit« der Welt zusammengedacht werden (237)? Und dürftig wird man es nennen, wenn nach umfänglichem Referat der Brüder Löwenherz (260–280) »in christophorischer Perspektive« nur eben formuliert werden kann, dass »das Buch nicht nur einen Beitrag in der Frage des Trostes angesichts von Sterben und Tod« leistet, sondern auch vermittelt, »wie wir Menschen handeln sollen, in hingebender Liebe« (280). Inhaltlich und methodisch ist dieser übrigens von Kuschel selbst bald aufgegebene »christophorische« Ansatz also wenig transparent und ertragreich. Kann nicht genau angegeben werden, was derlei mit Christus verbundene Kernanliegen denn seien, kann man sein Heil in ethischer Attitüde suchen – mit der Liebe ist verlässlich ein wichtiges Sujet ausgemacht, das dem Leben Sinn verleiht (312). Die Liebe wird als »christophorischer Kern« (292, zu Ronja) bezeichnet, besonders auch die Feindesliebe, die »Vorurteile abbaut, erste Schritte tut, sich auszusöhnen« (vgl. 287, zu Madita). Für Werk und Leben Lindgrens zutreffend wird die Bedeutung des Spielens als »Gegenbild zu Trauer, Sterben und Tod« herausgearbeitet (312).
Poetologisch interessante literarische Bibelbezüge werden zwar genannt, dies geschieht aber eher sporadisch und unsystematisch. Manche hergestellten Bezüge können kaum überzeugen: Dass etwa Mios schmerzlicher Satz »Vielleicht war es auch Blut, das ich weinte wegen Miramis.« an Jesu Blutschweiß in Gethsemane (Lk 22,44) »erinnert« (182) – dies die häufige, aber hermeneutisch letztlich unklare Benennung einer literarischen Assoziation –, ist wenig zwingend.
Der Darstellung der Lindgren-Texte hatte M. eine knappe Würdigung der bisherigen theologischen Forschung zu Lindgren vorangestellt. Darunter ragt Siegfried Schröer heraus, der einen die literarische Ästhetik berücksichtigenden Ansatz wählt (80–83), wozu sich gut die gerade nicht theologischen, sondern literaturwissenschaftlichen Erwägungen von Anja Ballis (93–97) fügen. Der eigene Anspruch, gegenüber der bisherigen theologischen Lindgren-Literatur eine »ausgeführte hermeneutische Grundlegung« (70) zu bieten, wird jedenfalls nicht überzeugend eingelöst. Neben diesem grundsätzlichen Problem sind einige gravierende Defizite festzustellen:
Der Lindgren-Forscher verfügt offensichtlich nicht über Kenntnisse der Originalsprache, was Einsichten am Lindgren-Text verhindert; bekannt ist Karlssons Parole »Das stört keinen großen Geist« (191), was in der wohl programmatisch säkularisierenden deutschen Übersetzung das schwedische »Det är en väreldig sak« wiedergibt, das – worauf Otfried Czaika hingewiesen hat – ein veritables Luther-Zitat ist. Hinzu kommt eine sprachlich beschränkte Auswahl der Sekundärliteratur (immerhin sind einige der populäreren Arbeiten der schwedischen Literaturwissenschaftlerin Vivi Edström ins Deutsche übersetzt, die hier dann leider auf einer einzigen Druckseite [113 f.] abgehandelt wird). Das Standardwerk, die (dänische) Monographie Werner Fischer-Nielsens, »Astrid Lindgren og kristendommen« (1998), ist nicht verarbeitet.
Die internationale, englischsprachige Forschung bietet Studien zu einzelnen Lindgren-Stücken (wie z. B. Eva-Maria Metcalf zu den Brüdern Löwenherz); diese und selbst deutschsprachige Lindgren-Forschungsbeiträge fehlen wie beispielsweise der von Otfried Czaika (Jonathan unser Erlöser, 1996) oder Folkart Wittekinds Studie zu »Märit« (IJPrTh 10 [2007], 252–274). Bedauernswert ist der Verzicht auf eine literaturwissenschaftliche Bearbeitung; hier hätten dann auch aktuelle emotionswissenschaftliche Fragestellungen aufgenommen werden können, finden sich doch wohl nirgends verständnisvollere Beschreibungen kindlicher Gefühle als bei Lindgren. Georg Langhorst, ausgewiesener Experte in theologischer Kinderliteraturforschung (kurz vorgestellt 105 f.), hat in einer Besprechung den völligen Ausfall religionspädagogischer Literatur zur Kinder- und Jugendliteratur moniert (www.religion-im-kinderbuch.de). Entwicklungspsychologisch wäre das (freilich nicht mehr unumstrittene) Konzept der Resilienz zu diskutieren gewesen. Darum wird man insgesamt sagen müssen, dass hier die Chance vertan wurde, mit einer akademisch validen Arbeit die theologische Lindgren-Forschung substanziell voranzubringen.
Christian Grethleins Konzept der »Kommunikation des Evangeliums« muss, da »dem Anliegen nach dem Deutungsansatz der christophorischen Literatur wie auch der […] Kindertheologie« entsprechend (348), am Ende einer oberflächlichen Zusammenfassung dienen, indem dessen verschiedene Kommunikationsformen als in Lindgren-Texten belegt notiert werden (349 f.) – statt als Analyseinstrument der Arbeit zugrunde zu legen.
Gleichwohl liegt mit dieser Münsteraner Dissertation ein umfängliches und beachtliches Werk zur bedeutendsten Kinderbuchautorin des 20. Jh.s vor, deren Texte auch heute noch Kinder (und ihre vorlesenden Eltern) bewegen und stärken und auch künftig in re-ligionspädagogischer Praxis verwendet werden. Diese sollte sich dann allerdings nicht solche methodische Schnitzer leisten, die die von M. dokumentierten eigenen Unterrichtseinheiten (317–344) aufweisen. Diese sind von der eigenen Theorie merkwürdig unberührt; es müsste ja auch zuvor gezeigt werden, wie der hermeneutische Ansatz der Christophorie religions- und literaturpädagogisch zu reformulieren ist. Hier wird – um nur ein eklatantes Beispiel zu nennen – die Sozialform »Sitzkreis« mit dem (tendenziell frontalen) Medium Overheadfolie (317) kombiniert, was jedem Referendar angekreidet würde. Einige schriftliche Impulsfragen (»Schreibauf-rufe«) legen implizit schon bestimmte Antworten nahe (z. B. 335. 341). Aber, um dem wackeren Karlsson das von ihm notorisch eingeforderte letzte Wort zu lassen: »Das stört keinen großen Geist.«