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Ausgabe:

Juni/2019

Spalte:

628–629

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Müller, Andreas [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Der christliche Neubau der Sittlichkeit. Ethik in der Kirchengeschichte.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2018. 156 S. = Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie, 53. Kart. EUR 38,00. ISBN 978-3-374-05507-4.

Rezensent:

Elisabeth Gräb-Schmidt

Aus Anlass des 150. Geburtstags des bedeutenden Kirchenhistorikers des 20. Jh.s, Karl Holl (1866–1926), entstand in der Sektion für Kirchengeschichte in der wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie ein bedeutsamer Band zur Reflexion der Geschichte der christlichen Ethik. Mit dem Thema: »Der christliche Neubau der Sittlichkeit. Ethik in der Kirchengeschichte« hat das Buch über die christliche Ethik in ihrer Entwicklung einen passenden Leitfaden erhalten. In Anlehnung an einen Aufsatz aus der Feder Karl Holls wird dessen Anliegen selbst aufgenommen, in Reformulierung der reformatorischen Ethik Luthers die Bestimmung christlicher Ethik in ihrer systematischen Relevanz darzulegen.
Das Buch vermittelt den seit den Anfängen einer christlichen Ethik leitenden Eindruck, dass eine Abgrenzung gegen Judentum und Gnosis sowie Stoa Gegenstand der theologischen Auseinandersetzung war. Es wird damit deutlich, wie sich das christliche Selbstbewusstsein als eines verstand, das einen tieferen Einblick in die Bedingungen und Voraussetzungen menschlicher Freiheit und Handlungsmöglichkeiten gewonnen und damit für die Ethik ein eigenes Profil gefordert hat. Der Band zeigt auf, wie sich die Besonderheit der christlichen Ethik gegenüber einer allgemeinen Ethik im Kontext zeitgenössischer und kultureller Standards herausgebildet und ihr Eigenes in Kommunikation und Konfrontation mit dem Vorfindlichen gestellt hat. So vermochte die christliche Ethik es auch, sich mit den großen Werken eines Aristoteles und Cicero auseinanderzusetzen, an die man nicht nur kritische Anfragen stellte, sondern diese gegebenenfalls auch im Grundsätzlichen zu hinterfragen wagte. »Neubau der Sittlichkeit«, wie Karl Holl ihn für Luther reklamierte, ist daher nicht erst reformatorisch, sondern von Anbeginn eine wesentliche Aufgabe christlichen Selbstverständnisses. Dieses erfordert eine Ethik, die von anthropologischen Voraussetzungen ausgeht, die ein einfaches Anknüpfen an Tu­gend- und Pflichtvorstellungen der philosophischen Ethik pro-blematisieren, wie es bereits der erste Beitrag von Ulrich Volp, »He­rausforderungen christlicher Ethik im zweiten und dritten Jahrhundert« zeigt. Dabei bleiben vier Begründungsformen frühchristlicher Ethik auch für die weitere Entwicklung christlicher Ethik bestimmend: der intellektuell-rationale Diskurs, die Narratio, die Doxologie und die Mimesis. Die Ethik in der Scholastik, die Tobias Georges in seinem Beitrag zur »Ethik in der Zeit der frühen Scholastik« nachzeichnet, gibt Einblick in die traditionsorientierte Fortentwicklung dieser ethischen Grundanliegen, die mit Augus-tin die anthropologische Dimension der Verfehlung, etwa in der Unterscheidung der intentio recta und intentio erronea, zentral in den Fokus gerückt hat.
Ein breiter Teil des Bandes widmet sich dann allerdings zu Recht der Ethik Luthers, der die kritische Linie der Dimension der Verfehlung in seiner Rechtfertigungslehre konzentriert, wie der Beitrag von Andreas Stegmann zeigt. Dass Luther dabei aber nicht nur zu einer mittelalterlichen, sondern auch zu einer modernen Ethik quersteht, liegt in dieser seiner Grundausrichtung christlicher Ethik beschlossen. Der Beitrag von Nicole Kuropka zeigt demgegenüber, dass Melanchthon eine Vermittlung der reformatorischen Ethik mit dem Philosophischen anstrebte. In solcher Linie steht nun auch die Bemühung Karl Holls, bzw. dessen wesentlicher Beitrag zu Luthers Ethik in seinem Aufsatz »Neubau der Sittlichkeit«. Das besondere Gewicht dieses Beitrags von Heinrich Assel zu Karl Holl liegt zum einen in der Erhebung der zahlreichen Quellen zu Karl Holl, die auch die Auseinandersetzung mit den Zeitgenossen Max Webers und Ernst Troeltschs erhellen; zum anderen darin, dass durch die Hinzuziehung der Quellen klar wird, dass Luther nicht nur rückwärtsgewandt in die Linie der christlichen Ethiktradition einzubinden ist und er dieses »Eigene« christlicher Ethik, das in der anthropologischen Hintergrundbestimmung verankert ist, in der Rechtfertigungslehre verankern kann. Vielmehr kann seine ethische Weichenstellung auch als kritischer Impuls in die Folgegeschichte philosophischer Ethik eingezeichnet werden, etwa in die Kontroverse über Gesinnungs- und Verantwortungsethik bei Max Weber und die sich daran anschließende Frage nach der Rolle der Ethik Kants. So lässt sich hinterfragen: Ist Luthers Wirkungsgeschichte von vornherein besser in der Linie von Bonhoeffers Weg zur Verantwortungsethik zu sehen oder erweist sich eine tiefere Affinität nicht gerade zu Kants Pflichtethik?
Assels Beitrag zu Karl Holl unterstreicht, dass das wesentliche Kriterium einer christlichen Ethik, das in der anthropologischen Hintergrundbestimmung der Sünde zum Ausdruck kommt und darin den Weg christlicher Freiheit nach Luther mit der Buße beginnen lässt, jedenfalls nicht weniger in Kants Ethikkonzeption der Pflicht als in einer Ethik der Verantwortung erkennbar wird. So ist der Pflichtgedanke bei Kant schließlich nicht an das menschliche Vermögen gebunden, sondern an die Begegnung mit dem Sittengesetz, das die Achtung hervorruft und diese allererst als Pflicht identifizierbar macht. Dieser externe – sozusagen auf ein extra nos angelegte – Be­gründungsaspekt des Sittengesetzes lässt die Ethik Kants zu Recht als eine tief protestantische Ethik erscheinen. Dass Karl Holl daran gelegen war, solche Linien nachzuzeichnen, zeigt vor allem auch der Beitrag von Arnulf von Scheliha »… So wird man kaum eine Frage nennen können, die nicht schon Luther aufgeworfen hätte …«. Von Scheliha weist darauf hin, dass Holls Fragestellung am Beginn des 20. Jh.s auch für die gegenwärtige Lutherdeutung und die sich daran anschließende Ethikdebatte wegweisend bleibt.
Man wünscht sich diesem lesenswerten Band aus der Sektion Kirchengeschichte einen Band aus der systematischen Theologie zur Seite, der diesen nachgezeichneten »Umbau der Sittlichkeit« in seinen ethisch-philosophischen Konsequenzen für die Gegenwart beleuchtet und auch zu würdigen versteht.