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Ausgabe:

Juni/2019

Spalte:

616–618

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Fuchs, Marko J.

Titel/Untertitel:

Gerechtigkeit als allgemeine Tugend. Die Rezeption der aristotelischen Gerechtigkeitstheorie im Mittelalter und das Problem des ethischen Universalismus.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2016. XI, 241 S. = Veröffentlichungen des Grabmann-Institutes zur Erforschung der mittelalterlichen Theologie und Philosophie, 61. Geb. EUR 69,95. ISBN 978-3-11-048085-6.

Rezensent:

Harald Schwaetzer

»Ist Tugendethik mit moralischem Universalismus vereinbar?« (3) Diese Frage bestimmt die vorliegende (Habilitations-)Schrift von Marko J. Fuchs. Der Rahmen, von dem her diese Frage gestellt ist, ergibt sich aus dem Diskursverlauf der letzten Dekaden mit Blick auf eine »Rearistotelisierung der praktischen Philosophie«, wie es Höffe prägnant formuliert hat. Insbesondere im Kontext der englischsprachigen Diskussion lässt sich, so F., eine Tendenz ausmachen, welche tugendethische Ansätze mit kulturrelativistischen Ansätzen verbindet (Anscombe und MacIntyre). Auch Martha Nussbaums »Capability Approach« sei nicht frei von diesem Relativismus, etwa in der empirischen Gewinnung einer Übersicht von Grundfähigkeiten und Grundnormen. Methodisch und hermeneutisch bleibe deswegen auch dieser Ansatz »unbefriedigend« (7). Im kontinentalen Raum zeige sich eine doppelte Strategie: Einerseits gebe es eine hermeneutische Relektüre des Aristoteles (Gadamer), andererseits einen Versuch, ihn durch Vermittlung mit etwa Hegel oder Kant zurückzugewinnen (Ritter oder Höffe). Insbesondere Höffe habe sich dabei gegen den Partikularismus gewandt und in der Verbindung von Aristoteles und Kant auf einen Universalismus gezielt.
F. gewinnt aus dieser Übersicht folgenden Problemstand: Entweder werde der aristotelischen Ethik ein Relativismus bzw. Partikularismus bescheinigt oder seine Normen würden einfach res-tauriert und damit hinter den gegenwärtigen Stand bezogen auf Ansprüche an Normen zurückfallen. Was die Arbeit also mit ihrer Ausgangsfrage intendiert, ist, »dass der Rückgriff auf Aristoteles eine auf argumentativer Augenhöhe zu verortende Alternative zu kantischen transzendentalphilosophischen und deontologischen Begründungsfiguren« freilegt (11). F. situiert diese Fragestellung konkret im Gerechtigkeitsdiskurs der Gegenwart wie bei Aristoteles; dabei stellt er bezogen auf den Letzteren heraus, dass Gerechtigkeit auf der einen Seite die Tugend schlechthin sei, auf der anderen Seite aber schon die Gerechtigkeitskonzeption bei Aristoteles mit internen Problemen behaftet sei (12–14). Von hier aus ergibt sich die methodische Berechtigung, die Problematik bei Aristoteles und die Aporetik der Gegenwartsrezeption dadurch zu umgehen, dass die mittelalterliche Rezeption auf ihre Brauchbarkeit für eine Position auf Augenhöhe geprüft wird (15–16). F. ist damit ein sehr geschickter Ansatz für seine Arbeit gelungen, der hier eigens herausgehoben werden sollte.
Die Studie nimmt zur Beantwortung ihrer Leitfrage folgenden Gang: Kapitel 2 klärt zunächst den Status philosophischer Ethik bei Albert und Thomas. Dabei stellt F. vor allem heraus, dass bei aller Bezogenheit aufeinander christliche Theologie und philosophische Ethik doch relativ selbständige Gebiete darstellen. Das dritte Kapitel unternimmt eine Analyse der Gerechtigkeitstheorie aus der »Nikomachischen Ethik« selbst, um so die Grundlage für die mittelalterliche Rezeption zu legen. Die Problematik der aristotelischen Konzeption, so F., liege in einem Mangel einer anthropologischen und handlungstheoretischen Fundierung sowie in der Un­klarheit des Maßstabs. Hinzu käme, dass das Konzept der Epieikie, welches den Einzelfall da regelt, wo das Gesetz zur Ungerechtigkeit führte, für eine strenge Universalisierung ein weiteres Problem biete; Gleiches gelte für das immer persönliche Verhältnis eines philia (welches hier diskutiert wird, weil es für die mittelalterliche Rezeption von Bedeutung ist).
Das folgende Kapitel zur mittelalterlichen Rezeption bietet den Schwerpunkt der Arbeit. Den Mittelpunkt stellt Thomas von Aquin dar. Gegenüber den anderen, sehr kurzen Kapiteln ist es mit etwa 150 Seiten sehr lang – was systematisch-universalistisch einsichtig ist, aber im Sinne einer gewissen Billigkeit dem Leser gegenüber durchaus anders hätte gegliedert werden können. So ist es etwas sperrig und unhandlich. Zunächst (4.1) hebt F. den Umschwung des Maßstabes hervor: Während Aristoteles im Raume der Polis denke, vollziehe sich mit den Stoikern eine naturrechtliche Weitung, welche den Nomos strikt universalistisch denke. Augustinus übernehme diese Weite, binde sie aber wiederum theologisch zu­rück an Gott (in einer gewissen Absetzung von der Welt). Kapitel 4.2 analysiert den »ersten systematisch-begrifflichen Entwurf« einer Ethik: De summo bono von Philipp dem Kanzler. Dabei gelte, dass Philipp die allgemeine Gerechtigkeit im Rahmen einer Theologie diskutiere, nicht autonom. Die Allgemeinheit der Gerechtigkeit beziehe sich einerseits auf die Allgemeinheit der Tugend Gerechtigkeit, die alle Tugenden umschließe, und andererseits auf ihre Bezogenheit auf das göttliche Gute, auf welches sie immer bezogen sei. Durch diese letzte Umfassungsstruktur rücke die Gerechtigkeit in die Nähe zur Liebe. Auffälligerweise spiele weder die lex aeterna noch die lex naturalis eine Rolle bei Philipp – was aus der Umfassungsstruktur durchaus einsichtig ist.
Kapitel 4.3 wendet sich dann Albert zu. Bei ihm finde sich, im Gegensatz zur vorigen Position Philipps, eine »universal-normative Funktion des Naturrechts« (113). Sie liege begründet in den einfachen, intuitiv einsichtigen Vernunftprinzipien, »die in Gestalt des natürlichen Habitus der Synderesis gehabt werden« (113). Dieses Naturrecht (»ius naturale«) werde später bei Thomas ein Naturgesetz (lex naturalis). Metaphysisch fundiert sei Alberts Theorie in zwei Hinsichten. Zum einen spreche sie das Naturrecht als Vernunftrecht an, zum anderen sei die letzte moralische Begründung im Rückbezug auf Gott gegeben. An Problemstellen bei Albert macht F. aus: Die Gerechtigkeit als allgemeine Tugend stehe »etwas un­verbunden« neben der iustitia legalis (136). Die allgemeine Ge­rechtigkeit bedürfe des Weiteren deutlicher theologischer Anleihen zu ihrer Fundierung (137). Schließlich bestehe eine Spannung darin, dass der Naturrechtsbezug gründungstheoretisch relevant sei, aber die Gerechtigkeitstheorie selbst von Albert zumeist im Horizonte der menschlichen Gemeinschaft (analog der aristotelischen Polis) gedacht werde.
Mit 4.4. folgt das gut vorbereitete Herzstück der Arbeit, die Analyse der Position von Thomas von Aquin. Zunächst wird, eingebettet in eine Übersicht zur gegenwärtigen Diskussion, das Natur-gesetz als universaler normativer Rahmen bei Thomas eingeführt (4.4.1). Naturgesetz sei bei Thomas die allgemeinste Struktur des Seins, in der und nach der der Mensch sein Seinkönnen überhaupt verwirklichen könne. Im Kapitel 4.4.2 wird die Gerechtigkeit als Tugend in diesen Rahmen hineingestellt, mit Unterscheidung von Gerechtigkeit, Naturrecht und Naturgesetz. Im Folgenden findet sich eine Analyse von Sth I–II qq 18–21. Thomas bestimme den Gebrauch der Epieikie angesichts des universalen Rahmens da­durch, dass dieser universale Rahmen nicht notwendig identisch sei mit dem speziellen gesetzlichen, der nur regeln könne, was ut in pluribus, also für die meisten Fälle, gelte. Gerade die Epieikie als Einzelfallentscheidung erlaube also den Rückgriff auf den universalen Rahmen. Ähnliches gelte für Dispens. Für die Studie von Be­deutung ist die Bezogenheit der allgemeinen (positiven) Gesetze auf das (nicht mit ihnen identische) universale Naturgesetz, was in der Studie noch differenzierter entfaltet wird. Durch die Aufwertung der jeweiligen Entscheidung wie im Falle der Epieikie gelinge es Thomas, die Gerechtigkeit zu einer konkreten Tugend ( virtus specialis) zu machen und in ihr eine Verbindung von Willen und Vernunft zu sehen. Mit der Diskussion und Rezeption des Thomas bei Jakob von Viterbo und Gottfried von Fontaines gewinnt F. Perspektiven, welche die Position des Thomas bereits damals in eine Sinnrichtung deuten, welche einer Aktualisierung für die Gegenwart günstig ist.
Im abschließenden 6. Kapitel reflektiert die Arbeit ihre Ergebnisse. Universalismus meine eine naturale Grundverfasstheit des Menschen, von der her das je konkrete Leben sich gestalte (Naturgesetz). In diese Strebensstruktur sei eine reflexive Erfassung der Ziele einzubetten, die durch Prinzipien, die per se nota seien, er­laubt werde. Das zuständige Seelenvermögen in der Verschränkung von Wille und Vernunft sei die Synderesis. Dazu komme eine weitere Weise von Allgemeinheit in bestimmten Einzelentscheidungen (Naturrecht). Damit sind, so darf man F. verstehen, die eingangs geschilderten Problematiken der aristotelischen Position in einer Weise aufgefangen, die zugleich ihre Anwendbarkeit auf die Gegenwart erlaubt und für deren Defizite eine Antwort bereithält.
Mit Blick auf die Gegenwart hält F. fest, ein derartiger Ansatz sei geeignet, »die philosophische Theoriebildung weniger an den Be­dürfnissen des systematisierenden Denkens als an den Phänomenen zu orientieren« (222). Zudem liege eine Stärke in der »begründungstheoretischen Offenheit«. So kommt er zu dem Ergebnis, dass die mittelalterliche Rezeption des Aristoteles einen Ansatz biete, der auch und gerade für die Gegenwart eine »vielversprechende philosophische Option darstellt« (223).
Die Arbeit ist sorgfältig aufgebaut, mit jeweils ausgewiesenen Zwischenergebnissen versehen, geht methodisch klar und sicher vor. Ihre Stärke liegt sicher darin, dass sie sich nicht nur in der mittelalterlichen Philosophie souverän bewegt, sondern ihren Ansatz auch umsichtig und ansprechend in den gegenwärtigen Diskurs hineinzustellen weiß. Selbst wenn man bestimmte Punkte mit F. nicht teilt, bleibt doch unbestreitbar, dass mit dieser Studie die Attraktivität mittelalterlichen Denkens für die Gegenwart gezeigt und gedanklich sicher und »nachdenkbar« eingelöst ist.