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Ausgabe:

Juni/2019

Spalte:

614–616

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Engmann, Matthias

Titel/Untertitel:

Innerlichkeit. Struktur- und praxistheoretische Perspektiven auf Kierkegaards Existenzdenken.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2017. IX, 608 S. = Kierkegaard Studies. Monograph Series, 36. Geb. EUR 129,95. ISBN 978-3-11-052692-9.

Rezensent:

Walter Dietz

Die anzuzeigende Monographie von Matthias Engmann wurde als philosophische Dissertation an der Universität Erfurt (H. Deuser) eingereicht und behandelt die Thematik der Innerlichkeit in der Abschließenden Unwissenschaftlichen Nachschrift (UN, Climacus 1846) und Kierkegaards (= SK) Erbaulichen Reden 1843–45. Innerlichkeit wird dabei als ein »philosophisches, in sich komplexes Konzept« zum Verhältnis von Selbst und Welt verstanden (41). Im Hintergrund steht H. Deusers Kritik (1974) an T. W. Adornos Unterstellung einer »objektlosen Innerlichkeit« (1933) im Subjektivitätskonzept SKs (265; cf. 52; Deuser: »explosive Öffnung der Innerlichkeit« im Kirchenangriff). Gegen Adorno wird festgehalten, dass Innerlichkeit bei SK gerade »keine bloße Innenwelt des Individuums« meint (556, Anm. 8).
Ausgangspunkt Adornos sei T. Haeckers Interpretation SKs als kulturkritischer Prophet der Innerlichkeit gewesen (10–24). E. selber bezieht seine Untersuchungen weniger auf Adorno als vielmehr auf C. Taylors Konzeption der »inwardness« (5 f.). Im Dänischen (vgl. 56) entsprechen der die Begriffe Inderlighed (Innigkeit) und Indvorteshed (Inwendigkeit). Interessant ist freilich die Frage, inwieweit die Innerlichkeit verborgen, d. h. nach außen unkenntlich ist und ob sie zu einem lebenstechnischen und politischen Quietismus führt (T. W. Adorno, G. Lukacs, H. Marcuse u. a.). Von seinem auch handlungstheoretisch geleiteten Ansatz her (ähnlich U. Lincoln) kann der Vf. die These einer Handlungs-Indifferenz der Innerlichkeit bei SK nicht voraussetzen. Insofern trifft auch Hegels Kritik der romantischen Innerlichkeit nicht auf SK zu (was der Vf. noch deutlicher hätte herausarbeiten können; 56 ff.63 ff.).
Forschungsgeschichtlich bezieht sich der Vf. u. a. auf M. Theunissen (1958), H. Vetter, F. C. Fischer, E. Harbsmeier, Kl. Schäfer, A. Grøn, D. Glöckner, J. Boldt und S. Dunning. Letzterer stelle allerdings (1988) SKs »hochgradig eigenständige Philosophie« ganz »in den Schatten Hegels« (40). Mit E. Hirsch (1933) hält der Vf. fest, dass die Innerlichkeit »das Zentrum von SKs Existenzdenken« darstelle (55 f., Anm. 271).
Einen ersten Schwerpunkt der Monographie bildet SKs Unwissenschaftliche Nachschrift (Climacus, 1846) (70–387). Leitend für die Interpretation sind die Begriffe Existenz, Aneignung, indirekte Mitteilung, Pseudonymität (personal verstanden), Doppelreflexion, Interesse, Leidenschaft und Kontingenz. Ausgangspunkt ist Climacus’ These, es sei »Existieren als Innerlichkeit zu verstehen« (121) – gegen die hegelianische Tendenz zur spekulativen Verflüchtigung. Zur Kontingenz des Existierens gehöre ein Bewusstsein der Zukunftsoffenheit und die Aneignung der individuellen Lebensges chichte (mit Exkursen zu Heidegger und Blumenberg). Durch Innerlichkeit gewinne der Existierende geschichtliche Identität (166 ff.). Die Zustimmung zum eigenen Dasein impliziere eine Bejahung der eigenen Geschichtlichkeit, d. h. für Climacus: »sich in dem zu akzeptieren, was war, und sich an dem zu entdecken, was kommt« (169). Zeitliches Existieren erfolge nur in Kontinuität mit sich, nicht als »freie Wahl« (170). »Der Existierende ist mit sich selbst ›gleichzeitig‹« (175) und gewinnt in der Innerlichkeit ein bewusstes Verhältnis zu seiner Zeitlichkeit (176). Handlung wird dementsprechend verstanden als das »eigene Involviertsein« auf der Basis des Selbstseins (183). Zu Letzterem gehören Entscheidung und Wille (186). In der Innerlichkeit vollziehe sich so »eine Wandlung, die den Blick auf die Welt verändert« (191). Im »Sich-Verstehen« (198. 202) manifestiere sich die Innerlichkeit, verbunden mit einem Erlebens- und Erfahrungsbezug (statt bloßem Wissen). Das Verstehen ereigne sich nur ex post, das Leben nur aktual existierend (vgl. SKS 18,194; DSKE 2,200) (210). Das »innerliche Existieren« konkretisiert sich als »Protest gegen die äußerliche Gleichheit des Spießbürgerdaseins« (216). Der Preis liege in der Annahme eigener Kontingenz und Ungesichertheit (217).
In der »Religiosiät A«, auf die sich der Vf. konzentriert, wird der Gedanke einer »ewigen Seligkeit« in die Innerlichkeit einbezogen (220 ff.); in der (ausgeklammerten!) »Religiosität B« geht es hingegen um die christliche Paradox-Religiosität (233). Rel. A stelle ein fortwährendes »Streben« dar (249). Der Vf. analysiert Climacus’ Bestimmung des Glaubens als Einheit von subjektiver Gewissheit und objektiver Ungewissheit (291), beides leidenschaftlich zusammengehalten. Der Wagnischarakter des Glaubens liege auch in der Unbeweisbarkeit Gottes begründet (295; zu Kant). Glaube als »argumentationsloses Überzeugtsein« stelle für Climacus leidenschaftliches Hoffen und Vertrauen dar (297). Gottesbeweise seien nicht »stichhaltig« (297). Glaube – parallel zur KT analysiert (305) – impliziere »Kontrollverlust« (298 f.; besser vielleicht: Kontrollverzicht).
Interessant sind die Bemerkungen des Vf.s zum Begriff der Selbstdurchsichtigkeit (306 f., Anm. 902; mit Kl. Schäfer). Im Pathos der Resignation (315) sieht der Vf. eine Parallele zu FZ (316). Die Innerlichkeit hat die Aufgabe, »das absolute Verhältnis zum absoluten telos einzuüben« (318; UN 582). Die darin enthaltene »Abwendung von der Welt« (321) schließt nicht ein neues Weltverhältnis aus (cf. 377, Anm. 1210, gegen Adorno). Die Innerlichkeit bleibt nicht isoliert. Die Dialektik des Selbstwerdens ist die paradoxe »Vereinigung der Gegensätze in der Unvereinbarkeit« (344, Anm. 1081), womit sich der Vf. von der »Negativen Dialektik« M. Theunissens abgrenzt. Positiv gewendet geht es also um Erbauung, Liebe und Versöhnung (als überwundene Entzweiung, 385).
Im zweiten Hauptteil (388–551) analysiert der Vf. ausgewählte Reden aus den Jahren 1843–45 (nur bis 1845, aber auch darüber hinaus gäbe es beachtenswerte!). Nicht unproblematisch ist des Vf.s These, in »den Reden wird die Philosophie der Pseudonyme auf das Religiöse hin verengt« (388, Herv.: W. D.; von SK vielleicht eher als Ausweitung verstanden); Interpretationsrahmen sei stets die Religiosität A, so dass Innerlichkeit auf das »Selbst-Verhältnis vor Gott« bezogen werden müsse (393). Die drei fiktiven Kasualreden (Beichte, Trauung, Begräbnis) werden eingehend analysiert, wobei der thematische Bezug zur Innerlichkeit oft nur indirekt deutlich wird. Ausgehend von der These, dass ihnen eine allgemeine, keine spezifisch christlich-paradoxe Religiosität zugrunde liege (397), wird die Innerlichkeit in ihrem Bezug auf den Einzelnen expliziert. Wesentlich ist hier auch die »Konzeption der Stille« (430) als Basis des Hörenkönnens (gegen die Geschwätzigkeit der Welt). Der Vf. versucht SKs Intention mit Hilfe neuerer Autoren (M. Heidegger, H. Blumenberg, E. Tugendhat u. a.) zu veranschaulichen, was gelegentlich auch glückt. Die Grabrede wird zunächst von ihrem Aufbau her (490) in den Blick genommen. Ihr gehe es um eine »Implementierung des Todesbewusstseins ins Denken«, das stets subjektives Denken sein muss (492). Die Zielrichtung gehe gegen Epikur (492 f.), sei aber durchaus mit Spinozas Grundsatz vereinbar, dass der freie Mensch sich nicht auf den Tod, sondern auf das Leben zu besinnen habe (501, Anm. 363; es gehe um »Lebensintensivierung«, 534, Anm. 488). Die Selbstaneignung erfolge in Geduld (521 ff.548), in einem distanzierten Weltverhältnis (527). Geduld vermittle so »Selbst-Erschließung« (528 f.), durch Bruch und krisis hindurch.
In einem letzten Teil »Definitionsversuch und Ausblick« (552) versucht der Vf. noch einmal, den philosophischen Charakter der Innerlichkeitskonzeption als »Bewusstseinsbestimmung« (553) herauszustellen. Die Aneignung des Selbst vollziehe sich in Innerlichkeit (554). Phänomenologisch zeige sich Innerlichkeit durch »Leiden, Schweigen, Bescheidenheit, Aufrichtigkeit, Dankbarkeit, Geduld sowie die Formen der Liebe« (556). In der Innerlichkeit vereine sich »Reflexion und Gefühl, Denken und Sein, Bewusstsein und Leiblichkeit« (557).
Der Vf. sieht in der Innerlichkeit somit einen Begriff, der anthropologisch, existenzphilosophisch und phänomenologisch einen zentralen interpretatorischen Schlüssel zum Gesamtwerk SKs darstellt. Auffällig ist, dass er ihn primär philosophisch in den Blick nimmt und bei der theologischen Verhältnisbestimmung die Religiosität B ausklammert. Ansonsten ist seine Studie sehr material- und aufschlussreich. Die immanent-systematische Analyse tritt allerdings hinter einer begriffsorientierten zurück, welche SKs Innerlichkeitskonzeption gerne in der Außenperspektive der Späteren (Heidegger, Blumenberg, H. Arendt u. a.) ins Visier nimmt.