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Ausgabe:

Juni/2019

Spalte:

607–610

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Holm, Bo Kristian, and Nina J. Koefoed [Eds.]

Titel/Untertitel:

Lutheran Theology and the shaping of society: The Danish Monarchy as Example.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2018. 365 S. m. Abb. u. Tab. = Refo500 Academic Studies, 33. Geb. EUR 80,00. ISBN 978-3-525-55124-0.

Rezensent:

Markus Wriedt

Obwohl der König von Dänemark, Christian III., sich bereits aufgrund seiner Teilnahme am Wormser Reichstag von 1521 tief be­eindruckt von Luther und der Reformation zeigte, sollte es zu­nächst bis 1529 in Schleswig-Holstein und 1536 in Dänemark dauern, bis die lutherische Reformation endgültig durchgesetzt wurde. Sie zählt in der Forschung zu den sogenannten »Fürstenreformationen«. Eine knappe Beschreibung liegt seit 1987 (in deutscher Übersetzung seit 2007 aus der Feder von Martin Schwarz Lausten vor.
Ganz im Sinne der Konfessionalisierungshypothese konzentriert sich diese Darstellung auf die handelnden Personen und die Wirren der ersten Jahre im geeinten dänischen Königreich. In Fortführung der reformationshistorischen Theoriebildung und unter Berücksichtigung der Frage nach der spezifischen Konfessionskultur, die sich als Folge der Einführung der Reformation etabliert, legt der Sammelband insgesamt 16 Beiträge einer interdisziplinären Forschergruppe »Reformatorische Theologie und Konfessionskultur« der Aarhus Universität vor. Sie wurde um einige Forscher aus dem Ausland erweitert und konnte als Netzwerk LUMEN (Lutheran Mentality and the North Nordic) internationale Anerkennung gewinnen.
In dem einleitenden Kapitel erläutern die Herausgeber den Ansatz ihrer Studien und die grundsätzliche Ausrichtung der wissenschaftlichen Kooperationen. Unverkennbar inspiriert von Max Webers Entdeckung des Zusammenhanges von wirtschaftlicher Entwicklung und konfessioneller Prägung suchen die nachfolgenden Aufsätze zwei Thesen zu belegen. Zum einen: »that the core ideas of Lutheran theology can be seen as social teaching, implying a certain perception of sociality, explicitly expressed in the use of social metaphors, and to some extend also economic metaphors, for the understanding of the relationship between a gracious God and the sinful human being, and supported by a new understanding of emotions«; zum anderen: »that a better understanding of the Lutheran household, across different levels of society and including marital law and practice and social obligations within the household, offers an unrivaled means of examining the possible impact of Reformation thought on everyday life« (18 f.). Die lutherische Sozialethik findet danach ihr Zentrum in der Familie – ausdrücklich im vierten Gebot und seiner Erläuterung im Kleinen Katechismus Luthers – und kann somit zum Fokus der Frage nach der Ausgestaltung der lutherischen Konfessionskultur in Dänemark werden.
Die Frage nach der dänischen Konfessionskultur ist eingebettet in die umfassenden Debatten um das Konzept der Säkularisierung und den Beginn der Moderne im 16. Jh. Die Herausgeber betonen, dass die Berücksichtigung des Kulturaspekts insgesamt sowohl in der kirchenhistorischen Analyse wie auch in den sich daran an­schließenden Theoriedebatten noch insgesamt zu marginal er­folgt.
Im ersten Teil des Sammelbandes werden Beiträge vorgestellt, die sich mit der Theologie Luthers und dem Einfluss der doktri-nären Gestalt des Luthertums auf die Ausbildung sozial-ethischer Strukturen beschäftigen. Danach ist die Rechtfertigungslehre Luthers und Melanchthons (sic!) geeignet, ein spezifisches Verständnis des Verhältnisses von Mensch und Gott für die sozialen Beziehungsgeflechte der Menschen insgesamt zu ermöglichen. Das erweist zunächst Theodor Dieter mit einer innovativen Interpretation der 95 Thesen Luthers und ihrer sozio-ökonomischen Implikationen für Kirche und Gesellschaft. Analog geht Vítor Westhelle von der radikalen Reduktion der lutherischen Sakraments-lehre aus, um seine These des Zusammenhangs von Glauben und Liebe als Grundlage des sozialen Umgangs der Menschen miteinander zu entfalten – vor dem Hintergrund der Spannung zwischen zwei grundsätzlich unterschiedenen Theorien zur Bedeutung der Religion in der Gesellschaft und ihrer Kultur (Weber/Troeltsch vs. Hegel/Marx). Beide Theorieansätze räumen der Bedeutung von ökonomischen Faktoren für das Beziehungsgeflecht hohen Rang ein. Westhelle verbindet diese Einsichten nun mit der mittelalterlichen Ständelehre. Luther hat danach das statische Gefüge in ein dynamisches verwandelt. Sie lassen sich im Referenzsystem von Glaube und Liebe beschreiben und ausgehend vom Effekt der Rechtfertigung den Prozess der Heiligung in der Gemeinschaft beschreiben. Hans-Martin Gutmann verbindet Luthers sozialethische Ansätze mit modernen Fragen nach Kommunikation und Individualisierung. Im Gegensatz zur vorgängigen Ansicht, dass Luther ein Ordnungssystem zu etablieren suchte, vertritt der Praktische Theologe aus Hamburg die These, Luther sei von einem Konzept von Intimität ausgegangen, das faktisch eher idealistisch als realistisch einzuschätzen ist. Bo Kristian Holm entfaltet seine These, wonach die Metaphorik von Ehe und Familie in besonderer Weise genutzt wird, um das wiederhergestellte Verhältnis des Sünders zu Gott zu illustrieren. Dabei betont er eine bemerkenswerte Differenz: Während Luther unter Verwendung von brautmystischen Elementen eine symmetrische Beziehung von Gott und Mensch entwirft, betont Melanchthon stärker eine asymmetrische und hierarchische Verhältnisbestimmung in der Verwendung der Kind-Vater-Metapher. Das vierte Gebot wird zum Ausgangspunkt der Analysen von Sasja Mathiasen Stopa, einer Nachwuchswissenschaftlerin aus Aarhus. Sie entdeckt eine eigentümliche Spannung zwischen dem Gleichheitspostulat Luthers im Blick auf die Stellung der Menschen vor Gott, welches in bemerkenswertem Kontrast zu der Betonung von Autorität und hierarchischer Ordnung im Kontext der gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen steht. Die »robust pneumatology« stellt das Thema von Candace Kohli dar. Sie entwirft Luthers Anthropologie aus der Lehre vom Heiligen Geist heraus und fordert zu einer stärker nuancierten Sicht des Verhältnisses von menschlichem Gehorsam und Nächstenliebe auf. Auch das erlaubt die Interpretation des Lehrstückes von der Heiligung in einem sehr viel weiteren Raum als es die übliche Lutherdeutung, die sich Kohli zufolge vor allem von Kant und Kierkegaard herleitet, ermöglicht.
Der zweite Teil des Sammelbandes wendet sich jetzt der konkreten Ausgestaltung der dänischen Konfessionskultur im Fokus von Luthers Verständnis von Ehe und Familie zu. Die Familie wird den Ausführungen von Laura Katrine Skinnebach zufolge zum neuen Raum alltäglich praktizierter Frömmigkeit und Devotion. Sie analysiert in ihrem Beitrag Bücher und Inschriften (Epitaphe) und vermag zu zeigen, wie eine andere Frömmigkeitsform Platz griff. Analog dazu entwickelt Agnes Arnórsdóttir die These, dass Heirat und Ehe zum sinnbildlichen Modell des gottgewollten Lebens im Alltag werden. So vermag die Familie institutionell das Mönchtum bzw. das asketische Religiosentum zu ersetzen. Das provoziert die Frage nach der Rolle der Frau im reformatorischen Selbstverständnis. Sie wird ansatzweise von Søren Feldtfos Thomsen untersucht. Seine Analyse der Rollenverständnisse des 16. und 17. Jh.s und ihrer emotionalen Ausgestaltung wirft ein interessantes Licht auf die Frage nach der Bedeutung von Emotionalität im Kontext der Konfessionskultur im Zeitalter der Reformation. In diesen Zusammenhang passt die Untersuchung von Nina Javette Koefoed. Sie sieht in den Katechismen Luthers eine ausgeführte sozialethische Anweisung, die gleichermaßen emotionale wie soziale Aufgaben, Pflichten und Rechte im familiären Kontext bestimmt.
Sowohl in dieser holzschnittartigen Zusammenfassung wie auch in den umfangsbeschränkten Ausarbeitungen werden manche Theorieansätze verkürzt und in Relationen zueinander gesetzt, die nicht auf den ersten Blick einleuchten. Erkennbar werden Themen und Thesen aus den Kultur- und Sozialwissenschaften aufgenommen und reformationshistorisch zugespitzt. Ob das tragfähig ist, wird die weitere Forschung zeigen. Die Fokussierung auf doktrinäre Texte und programmatische Schriften wird sicher zuguns-ten einer breiteren Quellenbasis aufgegeben werden müssen. Auch ist die Konzentration auf die gegenwärtig im Trend liegenden Konzepte der Philosophie, der Sozialwissenschaften und Gesellschaftsanalysen noch einmal zu überprüfen. Die eine oder andere Frage kommt anachronistisch vor und verfehlt für den historiographischen Puristen zum Teil auch die Quelle. Daran dürften auch die d urchweg auf Englisch vorgetragenen Ergebnisse ihren Anteil haben, insofern die anglo-amerikanische Wissenschaftssprache sich substantiell und interpretativ erheblich von den deutschsprachigen Debatten unterscheidet. Schon in der Besprechung sind Akzentverschiebungen kaum zu vermeiden.
Insgesamt wird man der Zusammenstellung nicht einen gewissen Reiz absprechen können. Provoziert sie doch neue und andere Sichtweisen sowie einen erfrischenden Blick auf so manche festgefahrene Interpretationsdebatte innerhalb der konventionellen Re­formationshistoriographie.
Der Band muss gelesen und diskutiert werden. Den Rezensenten beschleicht bei mancher Untersuchung die Frage, worin das erkenntnisleitende Interesse der Analysen bestand und ob die Applikation zeitgenössischer Theoriekonzepte und Debatten in der vorgenommenen Weise den Quellen noch gerecht wird. Weiter-hin wird noch einmal das Problem zu diskutieren sein, wodurch eine Quelleninterpretation letztlich inspiriert und gelenkt wird. Schließlich ist auch das wissenschaftstheoretisch nicht weiter reflektierte Betonen der Innovationspotenz und Neuigkeit der reformatorischen Impulse – eine Spätfolge des aufgeklärten Fortschrittsparadigmas – zu evaluieren. Wenn das in der Folge der vorgelegten Beiträge erörtert werden würde, fände der Band genau jene Rezeption, die ihm zusteht.