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Ausgabe:

Juni/2019

Spalte:

605–607

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Eusterschulte, Anne, u. Günter Frank [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Cicero in der Frühen Neuzeit.

Verlag:

Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann-holzboog 2017. 400 S. m. 3 Abb. = Melanchthon-Schriften der Stadt Bretten, 13. Geb. EUR 68,00. ISBN 978-3-7728-2601-6.

Rezensent:

Marc Bergermann

Im Jahr 2011 setzten sich Anne Eusterschulte und Günter Frank mit der von der »Europäischen Melanchthon-Akademie« in Bretten ausgerichteten Tagung »Cicero in der Frühen Neuzeit« das Ziel, anhand exemplarischer Studien »Aufschluss über die breite Wirkungsgeschichte Ciceros und die Aneignungsformen seiner Schriften im Kontext der frühneuzeitlichen Rezeption zu gewinnen« (9) und damit die Urteile der überholten Gesamtschau »Cicero im Wandel der Jahrhunderte« (1897, spätere Auflagen 1908/12) von Thaddäus Zielinski zu revidieren. Besonders dessen Pauschalurteil, dass »es schwer sein [dürfte], bei Cicero und den Reformatoren einen gemeinsamen Zug« (1912, 204) auszumachen, sollte dabei differenziert der Überprüfung unterzogen werden und damit zu­gleich zur weiterführenden Forschung einladen. Über die Reformationsgeschichte hinaus sollten dabei ferner Rezeptionslinien innerhalb der rhetorischen Diskussionen des Ciceronianismus nachgezeichnet werden. Die Erträge der Tagung lassen sich nun sieben Jahre später in insgesamt 18 Fallstudien einsehen, die hier überwiegend chronologisch und ohne ausgewiesene Rubriken an­geordnet die Entwicklungslinien der Cicero-Rezeption innerhalb des Zeitraums vom 15. bis 18. Jh. nachzeichnen.
Auf die Einleitung der Herausgeber und den Beitrag Günter Gawlicks (21–33), der einen Überblick über die positiven wie negativen Rezeptionslinien Ciceros und seiner Schriften seit der Spätantike bietet, folgen fünf Einzelstudien von Ursula Kocher, Felix Mundt, Judith Steiniger, Herbert Jaumann und Anita Traninger (35–131), die sich ausführlich mit den literarischen bzw. literaturkritischen und rhetorischen Entwicklungslinien der vielfältigen Re­zeption im Umfeld des Ciceronianismus des 15. bis 17. Jh.s befassen. Hier kann jedoch nur auf die Beiträge im unmittelbaren Kontext der Theologie und Philosophie eingegangen werden, die den zweiten, größeren Themenblock bilden:
Olivier Millet (149–166) zeichnet Melanchthon »als Ciceronianer« (164) in zwei Debatten des italienischen Humanismus zu den Fragen »nach der Verbindung von Wissen und Redekunst« sowie »nach der rhetorischen Nachahmung von Ciceros Sprache und Stil« (150) ein. Günter Franks Aufsatz (167–190) stellt streng genommen einen theologiegeschichtlichen Überblick über die Rezeption des Gedankens der natürlichen Gotteserkenntnis, wie er auch in Ciceros De natura Deorum zu finden ist, dar. Über die mit Ciceros Schrift vertrauten Reformatoren Melanchthon und Calvin entfaltet er eine Reihe an nachfolgenden lutherischen, aber vor allem reformierten Theologen bis hinein ins 18. Jh., die den Gedanken ebenfalls vertreten hatten. Gideon Stiening (192–210) wendet sich der Frage nach der Relevanz Ciceros in der Rechtslehre des Jesuiten Suárez zu. Cicero habe Suárez »als gewichtiges Exemplum für die Darstellung der Leistungen und Grenzen einer wissenschaftlichen Rechtsphilosophie überhaupt [gedient], die nach Suárez ebenso notwendig […] um die Perspektive der Theologie zu ergänzen ist« (210). Dem jungen Calvin der 1530er Jahre und seiner Cicero-Rezeption spürt Ueli Zahnd (211–230) nach. Auf den ersten Blick scheint sich ein »deutlicher Wandel« (230) in der Cicero-Rezeption des jungen Calvin zu vollziehen, weg vom »überschwänglichen Lob« (229) Ciceros in dessen Seneca-Kommentar hin zum ethnicus ille der ersten Auflage der Institutio. Tatsächlich aber nutzte Calvin Cicero immer wieder als Quelle »für sein Wissen über die klassische Antike und übernimmt von ihm Ansichten und Konzepte, wo er ihn gar nicht benennt« (230). Die Darstellung der Rezeption Ciceros innerhalb der reformierten Theologie wird durch Andreas J. Becks Beitrag zur Epoche zwischen 1565–1725 weitergeführt (231–247). Anhand von Gisbertus Voetius zeigt Beck auf, »dass der Einfluss Ciceros auch in der beginnenden Hochorthodoxie des 17. Jh.s andauerte« (233). Der bei Beck erwähnte Amicitia-Gedanke Ciceros rückt ins Zentrum von Willem J. Van Asselts Studie über die Cicero-Rezeption des reformierten Theologen Lambert Daneau (ca. 1530–1595). So sei Ciceros Laetius sive de amicitia Daneaus Ausgangspunkt gewesen, »from which any discussion on friendship should begin« (251), wobei die biblische Erzählung von David und Jonathan als Intertext »between Cicero’s ›Laetius‹ and his own theory of friendship« (260 f.) fungiert habe. Den Abschluss dieses »reformierten Blocks« bildet Frank Van der Pol (265–275) mit seiner Betrachtung der Cicero-Rezeption bei Simon Oomius (1630–1706), einem Vertreter des reformierten Pietismus im 17. Jh. Bei diesem zeige sich »a substantial use« (274) von Texten Ciceros, insbesondere von De natura Deorum, De legibus und den Tusculanae disputationes. Ciceros Ethik habe ihm so als Stütze einer notwendig zum reformierten Dogma hinzutretenden praxis pietatis gedient. Bernd Roling (277–299) zeichnet in seinem Beitrag die Rezeption der Schrift De divinatione einleuchtend in die frühneuzeitliche Debatte um das Orakelwesen ein. Ronny Kaiser (301–322) widmet sich schließlich der bereits mehrfach im Band erwähnten Schrift De natura Deorum anhand einer Analyse der Intention von Sixt Bircks Kommentar aus dem Jahr 1550 zu dieser Schrift Ciceros. Kaiser zeigt Bircks Grundsatz auf, dass deren »er­folgreiche und gewinnbringende Lektüre […] erst dann erfolgen [kann], wenn sowohl der Kommentator als auch der Rezipient entsprechend philosophisch-theologisch gerüstet sind, um so die Spuren des lumen verum von den paganen errores zu unterscheiden« (315). Anne Eusterschulte (323–361) leistet mit dem umfänglichsten Aufsatz einen ersten Impuls zu einer genaueren, »umfassenden Darstellung zu Rezeptionswegen und Aneignungsweisen der Ciceronianischen Moralphilosophie in der Frühen Neuzeit« (323), insbesondere in der Reformationsforschung. Anhand exemplarischer Betrachtungen gelangt sie so zu der vorläufigen Einschätzung, »dass humanistische Ansätze und hier insbesondere die Auseinandersetzung mit der Moralphilosophie, wie Cicero sie in ›De officiis‹ grundlegt, sich im Kontext der Reformation keineswegs in dünnen Rinnsalen verlaufen, sondern einen vielstimmigen Verhandlungsraum eröffnen« (360).
Neben den fachspezifischen Blöcken stehen ferner die Beiträge von Daniel Schäfer zur medizingeschichtlichen Rezeption Ciceros (133–147) sowie die Vorstellung des Dissertationsvorhabens von Christoph Kraume (364–379), der der politischen Instrumentalisierung von Ciceros De re publica nachspürt. Autorenprofile sowie Sach- und Personenregister vervollständigen den Band.
Als Korrektur zum Urteil Zielinskis zeigen vor allem die Beiträge von Eusterschulte, Beck und Van der Pol, dass Cicero für die Reformatoren, aber auch für deren Schüler, eine gewichtigere Position einnahm als bislang angenommen – besonders in Hinblick auf die Bildungstheorie im Umfeld von Melanchthon, aber auch für die generelle anthropologische Grundfrage nach der natürlichen Gotteserkenntnis. Ciceros philosophisch-theologische Schrift De na-tura Deorum war in diesem Sinne nicht nur für die Deisten der Frühen Neuzeit mit dem von ihm vertretenen »Innatismus« eine wichtige Quelle, sondern auch für die hier untersuchten protes-tantischen Autoren. Das von den Herausgebern gesetzte Ziel, Zielinskis Pauschalurteil durch exemplarische Einzelstudien zu revidieren, kann durchaus als erreicht angesehen werden; vor allem aber legt dieser Band mit klar benannten Desideraten, neuen Fragestellungen und vielfachen Impulsen Grund für weiterführende Untersuchungen zur Cicero-Rezeption in der Frühen Neuzeit – insbesondere in der Reformationsforschung.