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Ausgabe: | Juni/2019 |
Spalte: | 599–601 |
Kategorie: | Neues Testament |
Autor/Hrsg.: | Wilk, Florian, u. Markus Öhler [Hrsg.] |
Titel/Untertitel: | Paulinische Schriftrezeption. Grundlagen – Ausprägungen – Wirkungen – Wertungen. |
Verlag: | Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2017. 357 S. = Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments, 268. Geb. EUR 90,00. ISBN 978-3-525-54060-2. |
Rezensent: | Dieter Sänger |
Der vorliegende Band dokumentiert die Ergebnisse einer Tagung zur Schriftrezeption bei Paulus und in der Paulustradition (Wien 2014). Einleitend (1–8) machen die Herausgeber auf ein in der neutestamentlichen Forschung noch kaum wahrgenommenes »Grundproblem« (1) aufmerksam. Untersuchungen zu den Schriftbezügen im Corpus Paulinum hätten deren ungleiche Verteilung zwar notiert, auch darauf hingewiesen, Paulus habe seinen Schriftgebrauch auf bestimmte Themen konzentriert und ihn sukzessive ausgebaut. Doch sei »[d]er Sachverhalt, dass die Schrift innerhalb der Briefe des Paulus (und seiner Schüler) in je anderer Form und Intensität zur Geltung kommt« (4), nach wie vor ungeklärt. Dieser Aufgabe stellt sich der Band, indem er drei Arbeitsschritte konzeptionell verbindet: a) Sondierung der Grundlagen (biographische, traditionsgeschichtliche) der paulinischen Schriftverwendung und -auslegung, b) Analyse ihrer eigentümlichen, aus dem situativen Charakter des jeweiligen Briefs resultierenden Prägungen, c) Einbezug ihrer Wirkungen in späteren neutestamentlichen Schriften, die das theologische Erbe des Apostels unter veränderten Rahmenbedingungen fortschreiben.
Den Grundlagenteil eröffnen zwei Beiträge zur Methodik und analytischen Auswertung des paulinischen Umgangs mit der Schrift. D. Lincicum, »Intertextuality, Effective History, and Memory. Conceptualizing Paul’s Use of Scripture« (9–21), schlägt vor, die gegenwärtig dominierenden Varianten zu ergänzen. Da der liturgische Schriftgebrauch »must have created a hermeneutical space in which Pauline reception would have taken place« (16), ließen sich durch wirkungsgeschichtliche und gedächtnisgestützte Verfahren zusätzliche Einsichten gewinnen. S. E. Porter, »Pauline Technique of Interweaving Scripture into His Letters« (23–55), beurteilt die kategoriale Einteilung der Schriftbezüge in Zitat, Paraphrase, Anspielung und Echo angesichts ihrer definitorischen Unschärfe kritisch. Er plädiert deshalb für eine funktionale Kategorisierung, die nach der Rolle fragt, welche »a stretch of language […] within a given text on the basis of its relations to other instances of similar language, however that is defined« (40), spielt. J. Dochhorn, »›Denn der Nichtigkeit ist die Schöpfung untergeordnet worden‹ (Röm 8,20). Eine kosmologische Aussage des Paulus und ihre exegetischen Hintergründe« (58–80), zeigt, dass sich der Satz auf andernorts ebenfalls belegte Interpretationen von Gen 3,16 (ApkMos 25; VitAd) zurückführen lässt. Er verrät, wie sehr der Apostel auch in Passagen, in denen sich keine expliziten Schriftbezüge finden, an einem zeitgenössischen Milieu jüdischer Schriftgelehrsamkeit partizipiert, in dem nicht nur Kenntnis des Griechischen selbstverständlich war . J. Frey, »Paulus als Pharisäer und Antiochener. Biographische Grundlagen seiner Schriftrezeption« (81–112), lässt die Alternative, ob Paulus eher Antiochener oder eher Pharisäer war, nicht gelten. Nach seiner Trennung von Antiochien repräsentierte er keine spezifische Gemeinde mehr, wenngleich er schon als antiochenischer Missionar Auslegungen der urchristlichen Bewegung aufnahm und sie weiterentwickelte. Seine »Schriftauslegungskompetenz« verdankt er jedoch »jenem Bildungsprofil […], das er sich in seiner ›vorchristlichen‹ Zeit angeeignet hatte« (112).
Auf die Protopaulinen konzentrieren sich vier Beiträge. M. Öhler, »Rezeption des Alten Testaments im 1. Thessalonicherbrief und im Philipperbrief?« (113–135), erklärt den Umstand, dass in ihnen keine Schriftzitate begegnen, mit den Entstehungs- und Gemeindeverhältnissen. Hielt die kurze Phase zwischen Gründungsaufenthalt und Abfassung des 1Thess Paulus davon ab, die Schrift argumentativ einzusetzen, hängt der negative Befund im Phil entweder mit der Haftsituation zusammen oder damit, dass er aufgrund seiner guten Beziehungen zu den Philippern meinte, auf Schriftautorität verzichten zu können. R. B. Hays, »›Scripture Proclaimed the Gospel Beforehand‹. Apocalyptic Hermeneutics in Paul’s Letter to the Galatians« (137–147), widerspricht der Auffassung, Paulus zitiere die Schrift nur, weil er von seinen judaisierenden Gegnern dazu gezwungen wurde. Vielmehr reflektieren Auswahl und Verwendung der Zitate eine apokalyptische Perspektive »on time and human experience« (139), in der sich die Schrift erst »in Christus« erschließt und mit neuen Augen gelesen wird. Für F. Wilk, »Bezüge auf ›die Schriften‹ in den Korintherbriefen« (149–173), signalisieren die aus einer christologischen Deutung biblischer Texte erwachsenen Ausführungen ein prinzipielles Einverständnis der Korinther mit der Hermeneutik des Paulus, das sie auch in die Lektüre und Rezeption der Briefe einbringen. Die ungleiche Verteilung der Schriftbezüge ist neben der Eigenart des Empfängerkreises durch die konkrete Kommunikationssituation, thematische Ausrichtung und das besondere theologische Gepräge des 1/2Kor bedingt. M. A. Seifrid, »Answered Lament: Paul’s Gospel, Israel, and the Scriptures in Romans« (175–215), sieht den Rekurs auf die Schrift von einer christologischen Hermeneutik geleitet, die in der zweifachen »Klage« (7,24; 9,1–5) »comes to its most basic expression« (214). Der Apostel verkündet die im Christusereignis beschlossene radikale Neuheit eschatologischer Freiheit, stellt sich zugleich aber in die Gegenwart der gefallenen Welt hinein. Die Erfüllung der Verheißung in Christus provoziert »the lament that awaits the resurrection of the dead and the restoration of Israel« (ebd.).
Drei Beiträge gehen den Wirkungen der paulinischen Schriftrezeption in späteren neutestamentlichen Texten nach. L. Bormann, »Schriftgebrauch im Kolosser- und im Epheserbrief. Zur Praxis frühchristlicher Text- und Interpretationsgemeinschaften« (217–234), charakterisiert die jeweils Adressierten als religiöse Sondergruppen, die u. a. durch eine von der Mehrheitsgruppe abweichende Auslegung biblischer Bezugstexte gekennzeichnet sind. Trotz feh-lender Schriftzitate ist für den Kol die konstruktive Adaption biblischer Weisheitstraditionen fundamental. Im Eph begründet die Schrift die angestrebte ethische Neuorientierung und versichert die angesprochene Sondergruppe ihrer religiösen Praxis. M. Lang, »Nützlich in den richtigen Händen. Schriftrezeption in den Pastoralbriefen« (235–247), zufolge ist die Schrift kein strukturbildendes Element der Argumentation und spielt eine nur geringe Rolle. Sie selbst ist zwar Autorität, doch die des Paulus und der Gemeindeleiter sowie das Hauptanliegen der Past (Irrlehrerbekämpfung, ekklesiale Ordnung) überlagern die Schriftinterpretation. B. J. Koet, »Paul, a Light for the Gentiles. Paul as Interpreter of Scripture in Galatians 1:13–16 and in the Acts of the Apostles« (249–274), vergleicht das in Gal 1,13–16 Berichtete mit den Pauluserzählungen der Apostelgeschichte. Anders als der »historische« Paulus, der seine Sendung zu den Völkern im Lichte des jesajanischen Gottesknechts prophetisch deutet, jedoch »even alludes implicitly to Isa 49:1–6« (260), bezieht die Apostelgeschichte Jes 49,9 explizit auf den »lukanischen« Paulus (13,47) und stellt ihn auch nach seiner Berufung als einen gesetzestreuen Juden dar.
Im vierten und letzten Abschnitt legt S. Alkier ein »semiotisch-kritisch fundiertes Intertextualitätskonzept« vor, das ihm geeignet erscheint, das theologische Potential des paulinischen Schriftgebrauchs im Diskurs mit heutigen Wirklichkeitsdeutungen fruchtbar zu machen (»Positionierung – Transpositionierung – Dialogizität. Zur aktuellen hermeneutischen Relevanz der paulinischen Schriftrezeption« [275–296]), während J. Ross Wagner, »Epilogue« (297–305), den Ertrag der Diskussionen bilanziert und die aus ihnen sich ergebenden Aufgaben und Problemstellungen künftiger Forschungsarbeit benennt.
Den Herausgebern ist nur zu bewusst, und sie weisen ausdrücklich darauf hin, dass mit dem Band nicht alle Fragen beantwortet sind, die aus der Divergenz zwischen den einzelnen Briefen beim Schriftgebrauch erwachsen. So wäre m. E. doch stärker, als es geschieht, die jeweils spezifische, primär kontextbedingte Funktion der Schriftbezüge in Anschlag zu bringen. Auch überrascht, dass die notorisch strittige chronologische Abfolge der Homologumena, die bei jeder historischen Rekonstruktion der Autoren- und Adressatensituation von einigem Belang ist, gerade mal eine Fußnote wert ist. Angesichts des überzeugenden Gesamtkonzepts und der Fülle an inspirierenden, gelegentlich auch kritisch zu bedenkenden Einsichten sind das freilich kaum mehr als Quisquilien. Im Ensemble tragen die Ergebnisse der multiperspektivisch angelegten und sich vielfach komplementär ergänzenden Detailstudien wesentlich zur Klärung des eingangs konstatierten »Grundproblem[s]« bei. Der Band setzt keinen Schlusspunkt, sondern eröffnet Fragehorizonte. Im Vorwort geben die Herausgeber ihrer Hoffnung Ausdruck, er möge einem zentralen Thema der Paulusforschung neue Impulse vermitteln. Ihm ist zu wünschen, dass sie produktiv aufgenommen werden und zu weiteren Untersuchungen anregen.