Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/2019

Spalte:

576–578

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Cancik-Kirschbaum, Eva, u. Jochem Kahl

Titel/Untertitel:

Erste Philologien. Archäologie einer Disziplin vom Tigris bis zum Nil. Unter Mitarbeit v. K. Wagensonner.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2018. XVI, 471 S. m. Abb. Kart. EUR 29,00. ISBN 978-3-16-155425-4.

Rezensent:

Holger Gzella

Kennzeichnend für heutige Geisteswissenschaften ist das Verblassen von Fachgrenzen in übergreifenden konzeptuellen Entwürfen; in der Suche nach Ursprüngen grundlegender Denktraditionen erhält die Freude am Vergleich Richtung und Ziel. Dass ein Sonderforschungsbereich, wie hier zu Wissenstransfer in vormodernen Kulturen, nicht bloß Dissertationen und Tagungsbände hervorbringen muss, zeigt diese Monographie über Anfänge systematischer Textpflege, also Philologie, in Mesopotamien und Ägypten während der ersten drei Jahrtausende v. Chr.
Die Autoren sind ausgewiesene Fachleute auf dem jeweiligen Gebiet, inzwischen seit mehr als einem Jahrzehnt Lehrstuhlinhaber an der Freien Universität und seit Tübinger Studententagen miteinander bekannt. Die Darstellung ist entsprechend einheitlich und die Gliederung in, nach knapper Einleitung (1–8), sechs Kapitel von wechselndem Umfang logisch: einer Übersicht über die Grundlagen (9–34) folgen Studien zu den Akteuren der Textpflege und ihrer Ausbildung (35–99), Bibliotheken als dem institutionellen Rahmen ihrer Tätigkeit (101–139), den verwendeten Interpretationsmethoden (141–249), Traditionsbildung (251–311) und Selbstverständnis (313–358). In der thematischen Unterteilung jedes Kapitels treten beide Kulturräume meist durchgehend nebeneinander. Die Ausarbeitung beruht auf gründlicher fachlicher Empirie, nicht auf hermeneutischer Theoriebildung, und ist daher auch einem breiteren Publikum zugänglich. Primärquellen werden in eigenen Übersetzungen zitiert, der Apparat dient Einzelnachweisen. Alles ist durch Abbildungen reich illustriert und durch eine umfangreiche Bibliographie sowie ein Glossar und Register er­schlossen.
Zuerst wird die Absicht benannt, die Anfänge systematischer Textgelehrsamkeit über die alexandrinischen Bibliothekare hinaus auf Gebiete zurückzuführen, die wegen der erheblichen Menge an Material und der jahrtausendelangen Kontinuität seines Studiums trotz allfälliger Unschärfen in Kernbegriffen wie »Text«, »Bibliothek« oder »Überlieferung« die Nachzeichnung des Entstehens philologischer Methoden ermöglichten. Das Buch will »diese ersten Philologien in den Hochkulturen Ägyptens und Mesopotamiens freilegen und sichtbar machen« (7). Anschließend werden die ge­sellschaftlichen, sich parallel entwickelnden Rahmenbedingungen der Schriftlichkeit mit je unterschiedlichen geographischen, materiellen und systemischen Ausgangsbedingungen skizziert: mit einem Griffel in Tontafeln gedrückte abstrakte Keile im einen Fall, mit einem in Tusche getunkten Pinsel auf weiche Oberflächen (meist Rollen von Papyrusblättern, aber auch Leder und Tonscherben) gemalte gegenständliche Symbole im anderen. Im Zuge ihrer Professionalisierung bildeten beide komplizierten Schriften sich als Träger wissenschaftlichen Denkens heraus. Sodann kommen die Spezialisten (nur ganz selten Frauen) in den Blick, die dieses auf Textexpertise verschiedener Bereiche und Schwierigkeitsgrade ge­ gründete Denken in mehrjähriger, durch Curricula strukturier-ter sowie institutionell in Schulen verankerter Ausbildung erst abschreibend und memorierend erlernten, dann als gemeinsames Fundament höherer Bildung in zahlreichen, dem weiten Begriff des »Schreibers« subsumierten Berufen in der Verwaltung von Palast, Tempel und großen Privathaushalten entfalteten und vertieften. In den Bibliotheken solcher Institutionen wurden die spezialisierten Wissensbestände zu Zentren gesammelt und, wie die Autoren mit vielen Beispielen zeigen, nach fester, obwohl nur indirekt erschließbarer Methode bearbeitet, also visuell gegliedert, un­ter Prüfung anderer Kopien berichtigt, kompiliert, exzerpiert, (oft assoziativ) kommentiert, kodifiziert und überhöht. Das bezeuge auch ein Interesse an Ergründung, Imitation und Neuinterpretation der eigenen Vergangenheit.
Gerade wegen der Voraussetzungen und Möglichkeiten großangelegter Verbundforschung kann man es nur begrüßen, wenn Schuster bei ihren Leisten bleiben. Hier fördert die Beschränkung auf Mesopotamien und Ägypten ein gediegenes fachwissenschaftliches Niveau mit zuverlässiger, disziplinierter Wiedergabe der Fakten unter weitgehendem Verzicht auf impressionistische Vergleiche mit anderen Epochen. Gleichwohl bleibt so der Zuschnitt extrem konventionell. Die zahlreichen Beispiele erhöhen die An­schaulichkeit, entstammen indes ganz verschiedenen Perioden, wobei Sprünge von tausend Jahren hin und her gang und gäbe sind. Durch das Verschwimmen chronologischer Linien – ungeachtet sporadischer Bemerkungen zu Entwicklungen – und ständige Wechsel der geographischen Perspektive im laufenden Text (»In Mesopotamien … In Ägypten …«; ein griechisches men – de darf man sich jeweils hinzudenken) entsteht insgesamt ein ziemlich statisches Bild ohne historische Bewegung. Ebenso undeutlich bleibt der Mehrwert der »vergleichend-integrierten Betrachtung der Philologie zweier gleichzeitiger und räumlich benachbarter Schriftkulturen« (32), bei dem allgemeine Übereinstimmungen und Un­terschiede in den Details stets Seite an Seite genannt, aber vom weiteren Umfeld ganz isoliert werden. Dass spätestens seit dem frühen 6. Jh. v. Chr. als gängigstes internationales Kommunikationsmittel das Aramäische diente, das die alten Sprachen Mesopotamiens im Alltag verdrängt hatte, und Keilschrift- wie Hieroglyphenproduktion konservative Rückzugsorte mit nur begrenzter Ausstrahlung waren, erfährt man nirgends. Textpflege hat sich auch anderswo im Alten Orient zu Überlieferungen verstetigt und in Kanälen eines mehrsprachigen imperialen Kanzleiwesens im 1. Jt. offenbar ( pace, 98) zu einem lebendigen Austausch geführt. Die um 800 v. Chr. erstellte aramäische Balaam-Wandinschrift aus Deir Alla in Transjordanien (mit biblischen Parallelen) wird durch ihre Form als Buchrolle und ihren Übersetzungscharakter ebenso als Traditionsliteratur mit Vorbildfunktion in der Ausbildung ausgewiesen wie die wohl dem neuassyrischen Syrien (eher als Mesopotamien) entstammenden, im achämenidischen Elephantine im 5. Jh. v. Chr. auf einem Papyrus redigierten aramäischen Maximen des (noch in Tobit erwähnten) Wesirs Achikar mit Verhaltenslehren für kluge Schreiber; babylonische Astronomie erreicht sogar Jesaja, Hiob und Henoch. So konsolidierten sich globale Themen in einzelnen Lokalkontexten.
Dies sind, viel mehr als die Kulturen am Nil und im Zweistromland, die Voraussetzungen, aus denen sich im Übergang vom Alten Israel zum Frühjudentum die sozialgeschichtlich noch so gut wie unerforschten Produzenten und Tradenten wesentlicher Teile des biblischen Schrifttums herauskristallisierten. Ohne zurück in das erschöpfte Paradigma »Bibel und Umwelt« zu verfallen, können alttestamentlich Interessierte aus diesem leicht lesbaren und gut dokumentierten Buch dennoch aufschlussreiche Analogien gewinnen, welche geistigen, technischen und institutionellen Bedingungen die unvergleichlich schlechter dokumentierte Ausbildung und Tätigkeit von Textgelehrten vielleicht schon im vorexilischen, spätestens im achämenidischen und hellenistischen Israel wenigstens prinzipiell geprägt haben mögen. Dem konzeptuellen Anspruch zum Trotz liegt die größte Stärke des Werkes in der klar aufbereiteten Bestandsaufnahme von Realien zum altorientalischen Schreiberwesen.