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Ausgabe:

Juni/2019

Spalte:

572–573

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Kaeser, Eduard

Titel/Untertitel:

Trojanische Pferde unserer Zeit. Kritische Essays zur Digitalisierung.

Verlag:

Basel: Schwabe Verlag 2018. 224 S. = Schwabe reflexe, 55. Kart. EUR 17,50. ISBN 978-3-7965-3881-0.

Rezensent:

Werner Thiede

Der Schweizer Physiker, promovierte Philosoph und Publizist Eduard Kaeser legt in diesem Band 20 neue und ältere Beiträge vor, die das Topthema »Digitalisierung« kritisch in den Blick nehmen. Nun ist zwar die Liste digitalisierungskritischer Bücher allein im deutschsprachigen Raum bereits seitenlang (vgl. meine Broschüre »Die digitale Fortschrittsfalle. Warum der Gigabit-Gesellschaft mit 5G-Mobilfunk freiheitliche und gesundheitliche Rückschritte drohen«, Bergkamen 2018, 84–89). Aber die Lektüre dieses Bandes bleibt selbst für thematisch Beflissene lohnend. Denn es gelingt K., diverse Aspekte des Digitalen nicht nur auf aktuellem Kenntnisstand, sondern ebenso niveauvoll wie verständlich und jedenfalls mit frischem philosophischen Intellekt zu beleuchten. Seine Kritik ist immer wieder einleuchtend und durchweg gekonnt formuliert.
Ein zentrales Motiv der Essays bildet das schwierige Verhältnis von Mensch und digitaler Maschine. »Im Blick des Technikers ist Technik normalerweise dann problematisch, wenn ein Gerät oder System nicht funktioniert. Dieser Blick ist ergänzungsbedürftig durch jenen des Anthropologen. Für ihn erscheint Technik gerade dann problematisch, wenn sie funktioniert« (209). Die generelle Frage stelle sich, »ob und inwieweit der Mensch einen Platz zu behaupten vermag, der ihm mehr zusichert als die Existenz eines bloßen Geräte-Fortsatzes« (15). Und ob der Gedanke, Künstlicher Intelligenz »Ethik« beibringen zu wollen, nicht schon daran scheitere, dass es kaum einen ethischen Konsens in der Menschheit gibt (89). Wiederholt widmet sich K. der Frage menschlichen Schmerzempfindens im Vergleich mit maschinellen Schmerz-Simulationen (30.184 ff.195). Zudem warnt er vor der Anfälligkeit für digitale Vortäuschungen von Intelligenz und vor der Verwechslung von Simulationen mit Echtem. Konsequent stellt er unserer Digitalisierungskultur eine ebenso brisante wie beunruhigende Diagnose: »Wir sind etwas automatenhafter geworden: unüberlegter, dümmer« (38).
Von daher hinterfragt er den in der Politik nach wie vor verbreiteten und von der Industrie genährten Glauben, »dass es mit dem technischen Fortschritt ›immer so weitergeht‹« (214). Gegenüber »puerilen Fortschrittsträumen« entlarvt er die Mythen der Souveränität (»Technik macht den Menschen zum Beherrscher seiner Umwelt«), der Sicherheit (»Mit steigender Komplexität nistet sich in allen Systemen der Zufall ein …«), der Entlastung (»Der Arbeitsduktus der neuen Maschinen bekommt unserer Seele offenbar nicht«) und der Zukunftskontrolle (»Ausgerechnet diese Technologie sorgt […] dafür, dass unsere Verkehrs-, Gesundheits-, Kommunikations-, Verwaltungs- und Finanzsysteme umso weniger voraussagbar werden, je mehr man sie mit Programmen durchsetzt«).
Zugleich geißelt K. das Verharren in einer »lammfrommen Technikgläubigkeit« (41): Die »quasi-religiöse Erwartung« der Di-gitalisierungseuphorie verbinde sich mit dem Fehlen eines kritischen Reflexionsniveaus: »Die Technikverehrung nimmt sektiererische Züge an« (14). Theologie und Kirche können von K. lernen, warum sie mit der Digitalisierung kritischer als bisher verfahren sollten.
Und dies ist umso dringlicher, als die Digitalisierung mehr ist als ein großes Spiel: »Was ursprünglich zur Erleichterung unseres Lebens konzipiert wurde, verkehrt sich nun in eine Last, wenn nicht gar in eine Bedrohung« (19). Denn mit der Technik, so K., entwickle sich auch ihre Tücke fort. »Maschinen verhandeln nicht. Sie sind erbarmungslos logisch« und »der Ausbund von Autismus« (22 f.). »Was uns wirklich zu beherrschen droht, ist ein neoprimitiver Techno-Animismus, der unsere Entscheidungsfähigkeit zersetzt und uns aus dem kollektiven Unbewussten eines debil machenden Technikgebrauchs heraus steuert« (41). Das kann sich insbesondere auf militärischem Gebiet gefährlich auswirken, wo selbstlernende Künstliche Intelligenz zunehmend das Ruder übernimmt. Aber auch gesamtgesellschaftlich droht das »Gutmeinertum« der Technies zum »größten denkbaren« Despotismus zu mutieren.
Irritierend ist bei der Lektüre lediglich, dass in all diesen Analysen die Problematik des mit der Digitalisierung von heute und morgen unauflöslich verbundenen Mobilfunks durchweg ausgespart wird. Ansonsten überzeugt die Souveränität des vielschichtigen Blickwinkels und der klugen Sprache. Besonders wäre zu wünschen, dass dieses aufgeweckte und aufweckende Buch seinen Weg auch in die Hände digitaler Entscheider findet. Vielleicht würden dann so aporetische Sprüche wie »Digitalisierung first, Bedenken second« nicht mehr über deren Lippen kommen und würde ihre technokratisch intendierte Politik doch ein etwas anderes Gesicht gewinnen. Aber nachdem es sich bei der Digitalisierung um ein quasi-ideologisches Paradigma handelt, ist damit leider kaum zu rechnen.