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Ausgabe:

Mai/2019

Spalte:

531–533

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Ziermann, Simone

Titel/Untertitel:

Landpfarramt. Eine sprachwissenschaftlich-pastoraltheologische Inventur.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2018. 293 S. Kart. EUR 38,00. ISBN 978-3-374-05408-4.

Rezensent:

Paul Bernhard Rothen

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Zweigle, Hartmut [Hrsg.]: Zwischen Beständigkeit und Wandel. Die württembergische Pfarrerschaft in Geschichte und Gegenwart. Stuttgart: Verein für Württembergische Kirchengeschichte 2017. 317 S. m. Abb. = Kleine Schriften des Vereins für Württembergische Kirchengeschichte, 23. Geb. EUR 25,00. ISBN 978-3-944051-12-3.


Zum 125. Jahrestag seines Bestehens hat der Evangelische Pfarrverein Württemberg einen Sammelband veröffentlicht, der dokumentiert, dass zur Konstanz im Pfarrberuf der stete Wandel und der Eindruck eines krisenhaften Bedeutungsverlustes gehört (E. M. Dörrfuss, 309). Gut greifbar sind die Umbrüche, die das Ende des landesherrlichen Kirchenregiments (S. Hermle, 43) und der Zuzug vieler Ostflüchtlinge nach dem Zweiten Weltkrieg mit sich brachten (C. Kienzle, 106 f.). Der dritte größere Kontinuitätsbruch verdankt sich der Zulassung der Frauen zum Pfarramt: »Die Veränderung, die das Pfarramt und der ›Pfarrstand‹ in den letzten 50 Jahren durch die Präsenz und die Arbeit der Theologinnen erfuhren, ist kaum zu ermessen« (K. Oehlmann, 130). Die Idylle des frommen Pfarrhauses, wie sie Ottilie Wildermut mit literarischem Pathos geschildert hat, war zwar ein Wesenszug schwäbischer Frömmigkeit, mag heute aber als »befremdlich, ja geradezu monströs« wirken (H.-U. Gehring, 217). Die Umbrüche, die mit theologischen Neuorientierungen verbunden waren, kamen vor allem atmosphärisch zur Geltung: Führende Vertreter der Evangelischen Bekenntnisgemeinschaft schlugen nach 1945 binnenkirchliche Karriere-wege ein, während Pfarrer, die ihr Denken an Karl Barth geschult hatten, in die universitäre Lehre wechselten. Beides baute eine »Er­zählgemeinschaft« auf, die einem »wohligen« »Wir-Gefühl« den Weg bereitete: Die Pfarrerschaft war »auf der ›richtigen‹ Seite ge­standen« (C. Kienzle, 113 f.). Im Streit um die Autorität der Bibel meldeten sich selbstbewusste pietistische Laien (»Hofackerkonferenz«) zu Wort. Insbesondere die Industriepfarrer kritisierten de-ren theologischen, morphologischen, gesellschaftspolitischen und mo­ralischen Fundamentalismus (K. Oehlmann, 119 ff.). Ein Dichterpfarrer wie Albrecht Goes repräsentierte dieweil die Kontinuität einer Predigtkultur, die aus der Bibel als einem »Kunstwerk« schöpft und deshalb jenseits von geschwätzigen Einleitungen und persönlichen Befindlichkeiten die Wirrungen des Lebens durch Gesetz und Evangelium zu erhellen vermag (R. Strunk, 252 ff.).
Mit dem Rüstzeug ihrer theologischen Kategorien und ihrer lebenspraktischen Weisheit beschreiben die Pfarrerinnen und Pfarrer facettenreich die neuere Geschichte ihres Berufs. Die Quintessenz ist zwiespältig: S. Edel meint, dass es heute nicht mehr möglich sei, die Infragestellung von Kirche und Glaube »mit machtvollen Inszenierungen« zu überspielen. Dementsprechend stehen hinter ihren wegweisenden Kapitelüberschriften lauter Fragezeichen. Gelingt es, »ein diffuses und überkomplexes Berufsfeld« so weit zu konturieren, dass »exemplarische Schwerpunkte« ein fragmentarisches Schaffen ermöglichen, das auf »das Ganze« verweist (155 ff.)? Demgegenüber summiert H.-D. Wille mit Kierkegaardscher Ironie (297) die »Kompetenzen«, die sich die Vikare laut den kirchenamtlichen Verordnungen erwerben sollen (302 f.). Am Ende steht einmal mehr die süffige Frage, die vor mehr als 100 Jahren der Journalist Dernburg in Umlauf gebracht hat: ob die Person dieses Amt zu tragen vermöge – und die Klage Ernst Langes, dass dies nicht der Fall sei (304 f.). Das nährt den Verdacht, dass die praxisbezogenen Darstellungen grundlegende Wandlungen nicht zu Ge­sicht bekommen. Die säkularen »Konkurrenten« des Pfarrberufs (P.-L. Dubied) etwa bleiben unerwähnt. Die kulturellen Umbrüche, die sich durch die Strukturierung der Zeit durch Sport und Ferien und die massenmedial ritualisierte Meinungsbildung ergeben, werden nicht thematisiert.
Solche blinde Flecken möchte die an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau angenommene Dissertation von Simone Ziermann mit der konsequenten Anwendung einer humanwissenschaftlichen Methode vermeiden. Z. erstellt ein »Inventar« der sprachlichen Wirklichkeit, die im aktuellen Diskurs das Landpfarramt konstituiert. Als Germanistin sammelt sie wiederkehrende Begriffe, mit denen Kirchenämter, Praktiker, akademisch Lehrende und politische Mandatsträger das Landpfarramt umschreiben, und deutet diese »stereotypen Vorstellungen« (12) in einem abschließenden, vergleichsweise kurzen Teil pastoraltheologisch. Was Z. mit ihrer akribischen, zeitweise redundanten, aber gerade dadurch überzeugenden Sammeltätigkeit zutage fördert, ist mehr als nur bedenkenswert. Zentrale Begriffe (Auftrag, Amt und Person, Pfarrhaus, Evangelium, Partizipation, Kirche und Kirchenleitung, Be­teiligungskirche, Kernaufgaben, Gabenorientierung, Teamarbeit, allgemeines Priestertum), von denen das gegenwärtige Reden über das Landpfarramt strukturiert wird, erweisen sich als »diskursive Leerformeln« (81.89.109.114.139.167 f.176.184.214 u. ö.). Sie leisten keine inhaltliche Klärung, zeichnen keine wegweisenden Wertungen in die sich widersprechenden Vorstellungen ein und können demnach nicht plausibel machen, inwiefern sie ein tragfähiges Konzept für das pastorale Handeln bieten. Insbesondere registriert Z. »eine weitgehende Verunklarung der handelnden Subjekte« (77): Es bleibt »diffus«, »im Vagen«, wer die formulierten Erwartungen erfüllen soll (76.147.265 u. ö.). Ein »Agens-Schwund« (197) in der Rede von Gott (154) führt dazu, dass »Menschen und Menschenwerk an Gottes Statt treten« (267): »In der sprachlichen Wirklichkeit von Kirche und dem Pfarramt auf dem Land spielt Gott gegenwärtig keine wesentliche Rolle und so muss man sprichwörtlich alles selber machen« (238).
Zum »extra nos«, an dem sich der Glaube festmachen soll, wird die Kirche (180), die »häufig als Agens auftritt« (187). Gott wird nur eingeführt, um die eigene Autorität mit »größtmöglicher Autorität abzusichern«, wobei es »zu einer eigentümlichen Vermischung der Konzepte ›Handeln Gottes‹ und ›Handeln des Menschen/der Kirchenleitung‹« kommt, die nicht weiter reflektiert wird (77). Daraus ergibt sich der Widerspruch, dass zwar intensiv von der »Wertschätzung« die Rede ist, die den Menschen zuteilwerden soll, dass aber die menschliche Person hinter verallgemeinernden Passiv-formulierungen verschwindet (185.233 f.). Metaphern wie »Garten Eden« oder »Himmelreich« bleiben »im rein immanenten Deutungsrahmen« (217), was in der praktischen Arbeit darauf hinausläuft, dass sich Bestätigung und Freude aus möglichst hohen Teilnehmerzahlen ergeben (244).
Die Stärke dieser Arbeit ist zugleich ihre Schwäche. Sie macht – im klassisch Weberschen Sinn – die Qualität einer professionellen wissenschaftlichen Darstellung fruchtbar. Mit objektivierender Sachlichkeit deckt sie auf, wie inhaltsleer die theologische Rede über das Landpfarramt ist. Theologische Werturteile (wie »Sünde« oder »Ge­setzlichkeit«) werden vermieden. Das dürfte der Grund dafür sein, dass auch Z.s eigener pastoraltheologischer Ausblick ungefüllt bleibt. Formulierungen im Konjunktiv (256 ff.) deuten die Möglichkeit an, »dass die Theologie ein enormes, bisher weitgehend ungenutztes Potential hat, das gängige Diskursinventar« »umzusortieren« und damit »neue Perspektiven« zu eröffnen (269). So erinnert auch diese Arbeit daran, dass die Fragen, die am Anfang der »empirischen Wende« intensiv gestellt wurden, aber nicht beantwortet werden konnten, noch immer latent sind: Wie können empirische und theologische Erkenntnisse sich erhellen, ohne dass es zu ungesicherten Übergängen und kategorialen Fehlern kommt?