Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Mai/2019

Spalte:

529–531

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Zeindler, Matthias, u. David Plüss [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

»In deiner Hand meine Zeiten …«. Das Kirchenjahr – reformierte Perspektiven, ökumenische Akzente.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2018. 316 S. = reformiert!, 4. Kart. EUR 33,90. ISBN 978-3-290-17911-3.

Rezensent:

Ute Nürnberg

Das Kirchenjahr hat in den vergangenen Jahren die Praktische Theologie und auch die Liturgiekommissionen sehr beschäftigt. Hier liegt nun ein systematisch-theologischer Beitrag vor, der den Fokus auf das reformierte Kirchenjahr legt, wie es sich in der Deutschschweiz darstellt. Eine Ringvorlesung an der Universität Bern im Frühjahrssemester 2014 verfolgte das Ziel, »sowohl die Grammatik als auch die Semantik der Kirchenfeste in Erinnerung zu rufen, deren Geschichte und Theologie und gegenwärtige Relevanz« (9). Die Vorträge dieses Gemeinschaftsprojekts des Institutes für Systematische Theologie/Bern, des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes (SEK) und der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn bilden die Basis des Buches (4. Band der Reihe: reformiert!).
Einführend betrachtet David Plüss das reformierte »Kirchenjahr als Menschenhaus«, das bewohnt und mit Leben gefüllt werden soll und an dem weiter gebaut wird – »vorausschauend und rückblickend, stilbewusst und innovativ« (26). Er markiert Paradigmenwechsel, die mit der Reformation und der Aufklärung einhergingen, und sieht die reformierten Kirchen der Deutschschweiz in die Traditionslinie der Aufklärungstheologie gestellt. Diese habe u. a. die Christusfeste zu »Leuchttürmen« (22) der religiösen Gläubigenpraxis erhoben, hinter denen eine Sonntag-für-Sonntag-Struktur zurücktrat. Demgemäß folgen zwölf weitere Beiträge, nach Festen im Kirchenjahresverlauf gegliedert.
Matthias Käser-Braun beschäftigt »Der adventliche Vorbehalt«. Er geht auf die Spannung ein, die zwischen Advent (Erwarten des entgegenkommenden Gottes) und Himmelfahrt (mit dem Wissen darum, dass Gott sich den Menschen entzogen hat) besteht. Sein Augenmerk liegt auf dem Gebet der Adventsgemeinde.
Matthias D. Wüthrich (Zürich) behandelt den Karfreitag, der traditionell als höchster evangelischer Feiertag gilt. Da sich das nicht mit der Feierbeteiligung decke, aber vor allem eine solche Vorordnung den Tag isoliere, entwickelt er einen gebetstheolo-gischen, unhierarchischen Gegenentwurf. Karfreitag solle auch mehr als Tag der Klage denn der Buße begangen werden. Klage vermöge nicht nur Schuld und Sünde zu erfassen, sondern auch das »unverschuldete eigene und fremde Leid, das sündentheoretisch unverrechenbare Elend« (111).
Das Geheimnis von Pfingsten umkreisen Matthias Felder und Frank Mathwig unter Einbezug der (Sprach-)Philosophie von Lyotard und Serras. Die Autoren deuten das Pfingstereignis u. a. als »Kommunikationswunder« (163), das entgegen der Rezeptionsgeschichte mehr ein Hör- als ein Sprechwunder sei (169).
Kritisches und Anstößiges einzelner Kirchenjahresfeste wird aufgegriffen. So betrachtet Martin Hailer (Heidelberg) »Weihnachten als Religionskritik« und entfaltet das weihnachtliche Credo als Ikonoklasmus (70): Mit Gottes Erscheinen als Kind in der Krippe würden falsche Gottesbilder zerschlagen. Auch menschlicher Hybris wirke entgegen, wenn Gott die Menschen zu dem rufe, was sie seien, »aber womöglich gründlich vergessen haben: eben endliche, normale, begrenzte Menschen in ihrer unspektakulären Alltäglichkeit« (71). Der Provokation, die der trinitarischen Rede von Gott inhärent ist, wendet sich Gottfried Wilhelm Locher (SEK-Präsident) beim Trinitatisfest zu. Er zeichnet die Entwicklung des Trinitätsdogmas nach, um dann nach dem gegenwärtig Anstößigen zu fragen.
Die reformierte Perspektive tritt besonders deutlich hervor, wenn z. B. Regine Munz (Basel) mit »Passion und Zeugnis« den Zu­sammenhang zwischen Essen, Leiden und Gemeinschaft syste-matisch-theologisch entfaltet. Hier beschäftigen sie der Umgang mit dem Fasten und die reformierte Abendmahlstheologie. Einer Schweizer Eigenheit, dem Eidgenössischen Dank-, Buß- und Bettag, geht Eva-Maria Faber (Chur) als einzige katholische Vertreterin nach. Sie behandelt das wechselvolle und sich wandelnde Verhältnis, das mit diesem Feiertag bis heute den Staat und die Kirchen aneinander bindet. Zu den gegenwärtigen Herausforderungen zählen ganz unterschiedliche Fragen, wie die Vermittlung von Werten, gesellschaftliche Verantwortung und das Verhältnis zu anderen Religionen. Zudem ist »dringlich für die Akzeptanz des Bettags […], welche Bedeutung er im Kontext von nichtinstitutioneller Religiosität und […] nichtreligiösem Selbstverständnis vieler Menschen haben kann« (245). Was zu einzelnen Festtagen zu predigen sei, beschäftigt mehrere Beitragende.
Besonders ausführlich äußert sich hierzu Ilse Junkermann (Bischöfin, Magdeburg), die bei »Himmelfahrt« auf die homiletische Verlegenheit hinweist, die im Zuge der Aufklärung entstanden ist (137). In Wort und Bild versucht sie, die Botschaft des Festes für heute zu formulieren. Homiletisches beschäftigt auch Matthias Zeindler in seinem Beitrag über Ostern. Vom Osterzeugnis ausgehend fragt er, wie Auferstehung heute verkündigt werden kann.
Der Theologe und Biologe Otto Schäfer behandelt einen Neuzugang des Kirchenjahres, die »Schöpfungszeit«. Als an der Einführung selbst Beteiligter berichtet er kenntnisreich über deren Genese und Entwicklung. Mit Gedanken zur reformierten Natur- und Schöpfungstheologie zeigt er mögliche Deutungen auf. An Stelle eines einzelnen Erntedankfestes wird mit der Schöpfungszeit versucht, einen ganzen Kirchenjahresabschnitt neu zu profilieren und ökumenisch zu feiern (vom 1. September – orthodoxer Schöpfungstag – bis 4. Oktober, dem hl. Franziskus gewidmet).
Mit der im Rahmen der 500-Jahrfeier der Reformation verstärkt aufgekommenen Frage, was denn genau zu feiern sei (und was vor allem nicht), wendet sich Christiane Tietz (Zürich) dem Reformationssonntag (gefeiert am 1. Novembersonntag) wie auch dem Reformationstag in Deutschland zu. Es gehe um die »Wiederentdeckung der Befreiungsbotschaft des Evangeliums« (255) und damals wie heute sei danach zu fragen, wie das Evangelium in der Kirche Gehör findet, wie es verständlich verkündigt und auch in gegenwärtige politische und gesellschaftliche Diskussionen eingebracht werden kann (264 f.), wozu sie eigene Anstöße formuliert.
Ausführungen zum »Ewigkeits- und Totensonntag« beschließen den Band. Hier wendet sich Magdalene L. Frettlöh gegen eine thematische Trennung im Gottesdienst. Hinsichtlich des Inhalts und der Ausgestaltung bezieht sie sich auf das jüdische Trauergebet Kaddisch und arbeitet versuchsweise Parallelen mit dem Laubhüttenfest Sukkot heraus.
Dass im Rahmen einer Vorlesung nicht alle Feste behandelt werden können, ist verständlich. Ergänzende Beiträge zum Jahreswechsel oder auch Epiphanias hätten den Durchgang abgerundet, schmälern aber die Leistung dieses Bandes nicht. Ein weiteres im Vorwort formuliertes Ziel wird in der Gesamtschau erreicht: sich gegen »einen um sich greifenden Sprachverlust in religiösen Dingen, insbesondere in Bezug auf den eigenen Glauben und die eigene Herkunft« zu stemmen (9). Insofern trägt das Werk dazu bei, reformierte Liturgie/Theologie im Diskurs mit anderen Konfessionen und Religionen nicht nur zu profilieren, sondern auch Gespräche zu eröffnen. Die farbige Bebilderung einzelner Beiträge mit Beispielen aus der Kirchenkunst (vor allem Himmelfahrtsdarstell ungen), aber vornehmlich die gewählte (Vorlesungs-)Form mit in­formativen, sachkundigen und bisweilen kreativen Beiträgen, wendet sich nicht nur an ein Fachpublikum. Wer Nachdenkenswertes zu den vielfältigen Fragen des Kirchenjahres aus systema-tischer wie auch praktisch-theologischer Sicht sucht, wird hier fündig.