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Ausgabe:

Mai/2019

Spalte:

522–524

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Grethlein, Christian

Titel/Untertitel:

Christsein als Lebensform. Eine Studie zur Grundlegung der Praktischen Theologie.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2018. 256 S. = Forum Theologische Literaturzeitung, 35. Kart. EUR 28,00. ISBN 978-3-374-05706-1.

Rezensent:

Ralph Kunz

Christian Grethleins Schaffenskraft ist beeindruckend! Die treue Leserschaft wird bei der Lektüre des neuesten Bandes Gedankenlinien aus anderen Publikationen (Evangelisches Kirchenrecht 2015, Abendmahl 2015, Kirchentheorie 2018) wiedererkennen. Es bündelt sich vieles, was in den letzten Jahren schon einmal bedacht und entfaltet wurde. Auch in »Christsein als Lebensform« ist der Leitbegriff »Kommunikation des Evangeliums«, der in G.s Œuvre die eigentliche Achse bildet (vgl. Praktische Theologie, 22016, 146–181), zentral. Der Forum-Band wird von G. als eine Chance ergriffen, die Kommunikation des Evangeliums mittels eines weiteren Leitbegriffs zu erläutern. In der kompakten Einführung bringt G. die Frage nach der christlichen Lebensform in diesen größeren Zusammenhang. Die Rekapitulation der bisher geleisteten Denkarbeit setzt mit einem Lieblingszitat ein. Die Praktische Theologie als jüngste Disziplin im Wissenschaftssystem hat eine besondere Sensibilität für »zombie categories« (Ulrich Beck). Gemeint sind damit leere Worthülsen, die nicht mehr anschlussfähig sind oder, wie am Beispiel des Begriffs »Religion« demonstriert wird, auch als Container für alles Mögliche dienen. Die Kritik am begrifflichen Leerlauf zielt darauf, den Bedarf an einem inhaltlich gefüllten Leitbegriff – der »Kommunikation des Evangeliums« (17 f.) – auszuweisen. Neu kommt dazu, dass G. den Begriff »inhaltlich genauer auf die Menschen hin konkretisieren« (18) will. Im Blick ist die Praxis der Chris-ten. Der Fokus auf Lebensform biete sich an, weil sich an ihr Evangelium zeigen und nachvollziehen lasse. Das Interesse gilt dem, »was Christen in der Unterschiedlichkeit ihrer Lebenssituationen und -stile gemeinsam ist und damit auch verbindet bzw. verbinden kann. Ich suche also nach dem beobachtbaren Gemeinsamen der Kommunikation des Evangeliums im Leben von Menschen.« (20)
Der Aufbau des Buches folgt diesem Programm: In einem ersten Teil (23–48) skizziert G. den Grundimpuls der Kommunikation des Evangeliums und bestimmt diesen mit dem Auftreten, Wirken und Geschick Jesu von Nazareth. Unterschieden wird das, was Jesus selber kommuniziert, von dem, was über die Figur Jesu kommuniziert wird. G. ist es wichtig, dass das Evangelium als offenes Kommunikationsgeschehen verstanden wird. Jesu Botschaft der anbrechenden Gottesherrschaft sorgt dafür, dass sich das Evangelium immer wieder neu kontextualisiert. Zur ersten kommt die zweite Unterscheidung der drei Modi der Kommunikation. Menschen in der Nachfolge Jesu feiern wie er, lernen von ihm und helfen einander. Eines geht nicht ohne das andere. Die integrale Gestalt dieser christlichen Lebensform wird mittels elementarer Praktiken realisiert, wie im IV. Kapitel »Christsein als Lebensform für heutige Menschen« (139–244) ausgeführt wird: nämlich durch die basalen Kommunikationsformen des Christseins (168–203) und die Kommunikationsformen in der Mimesis Jesu (204–242), also dem Segnen, Beten und Erzählen einerseits und dem Taufen, Mahlfeiern und Predigen andererseits. Der Pädagoge G. arbeitet gerne mit solchen Bausätzen. Sie sind hilfreich, um den Stoff zu bändigen und zu ordnen.
G. ist sich bewusst, dass die Einteilung nicht zwingend und die Auflistung der Formen nicht erschöpfend ist. Schließlich könnte man der Mimesis auch den Heilungsauftrag (Mt 10,5–15) zuordnen und beim Predigen die Sendung bzw. die Mission (Mt 28,19 f.) stärker betonen. Aber wer auf solchen möglichen Differenzierungen und Akzentuierungen herumreiten möchte, verpasst die Pointe der Studie. G. will elementarisieren. Das zeigt sich auch im raffinierten Aufbau. Zwischen Grundimpuls und Elementarisierung macht G. in einem geschichtlichen Abriss deutlich, wie es dem Evangelium ergangen ist. Unter dem Titel »Verschiedene Bestimmungen des Ch ristseins in der Christentumsgeschichte« (49–77) werden drei Entfaltungen des Grundimpulses skizziert und die These, dass Christsein nur immer in einem bestimmten Kontext aufgenommen, weitergeführt und transformiert (49) werden kann, paradigmatisch an Augustins »Confessiones«, Luthers »Kleiner Katechismus« und Schleiermachers »Reden« durchexerziert. In den drei Miniaturen arbeitet G. drei lebensformrelevante Muster heraus. Bei Augustin, dem brillanten Rhetoriker, ist es die Aufnahme der Philosophie, bei Luther die katechetische Ausrichtung für das alltägliche Christenleben und bei Schleiermacher der Versuch, den gebildeten Zeitgenossen mittels des Begriffs »Religion« das Christsein als Lebensform wieder plausibel zu machen.
Warum ausgerechnet diese drei? Endet die Christentumsgeschichte im 19. Jh.? Die Architektur der Studie verlangt es. G. will ein Argument starkmachen. Es geht ihm darum zu zeigen, dass keinem der vorgestellten Theologen »die Balance zwischen den drei Modi der Kommunikation des Evangeliums gelungen ist, wie sie vom Auftreten, Wirken und Geschick Jesu in den Evangelien berichtet wird.« (75) Bei allen drei Theologen zeige sich insgesamt, »dass die Mimesis des Auftretens und Wirkens Jesu, wie sie im Taufen und gemeinschaftlichen Mahlfeiern ihren vorzüglichen Ausdruck findet«, merkwürdig verblasse. Damit ist aber die Attraktivität der Lebensform sehr beschränkt. Und das wiederum hat zur Konsequenz, dass eine Institution, die nur diese verblasste Version des Grundimpulses verwaltet, zwangsläufig einen Bedeutungsverlust erleiden muss (127–135). Auf dieses (wenig überraschende) Fazit läuft das dritte Kapitel »Heutige Herausforderungen« (79–138) hinaus. Die Rede ist von der Digitalisierung, der Globalisierung, der Beschleunigung, der Umweltverschmutzung und dem demographischen Wandel. Eine in ihren Strukturen gefangene Kirche kann auf die Problemlagen und die Chancen, die sich in diesen Entwicklungen zeigen, nicht antworten. Das ist bekannt, aber – und darauf kommt es ihm an – die christliche Lebensform ist durchaus anschlussfähig an wichtige heutige Entwicklungen. G. betont einerseits das Konzept des allgemeinen Priestertums, das in der digitalisierten Kommunikation auf neue Weise an Bedeutung gewinne, und andererseits das kritische Potential des Schöpfungsglaubens, der den suizidalen Tendenzen moderner Lebensformen Starkes entgegenhalte (138.242). Der kulturkritische Gestus schlägt den Bogen zum vierten Kapitel, wo G. mit Blick auf die Rituale der Taufe und der Predigt fordert: »Sie müssen heute dringend verändert werden, und zwar sowohl hinsichtlich der Aufnahme des Grundimpulses Jesu als auch des Anschlusses an den gegenwärtigen Kontext.« (205)
Ein gehaltvoller Ausblick schließt die Studie ab und eröffnet zugleich eine konkrete Diskussionsfront. Für G. ist es klar, dass angesichts der Herausforderungen die Ausbildung der kirchlichen Berufe und vor allem das Studium zur Debatte stehen. Er fordert einen Biographiebezug, einen Kontextbezug und den Bezug zu anderen Fächern (246–252). Eine Frage, die sich an die gegenwärtige Struktur stellt: Wie kann die Silomentalität der Disziplinen (248) überwunden werden? Eine andere Frage wird sein, wie sich dieser Reformvorschlag mit anderen Reformideen (z. B. Ingolf U. Dalferth, Wirksames Wort, 2018) verbinden lässt. Und dann stellt sich die Frage, ob eine Studienreform – wie auch immer sie aussehen mag – genügt, um die gezeigten Herausforderungen zu meistern. Eine lebensformorientierte Kirchenentwicklung wird sicher auch der Berufung und Bildung der Laien ein größeres Interesse entgegenbringen, als dies bislang der Fall war.
Es ist in dieser Studie oft von Herausforderungen die Rede. Die Antwort, die G. darauf hat, fordert ihrerseits heraus. Auffallend ist der starke Nachdruck auf der Mimesis. G. setzt einen Akzent auf der Nachfolge. Jesus Christus ist für ihn in erster Linie exemplum und erst in zweiter Linie sacramentum. Könnte es sein, dass so viel Jesus den Christus überstrahlt? Ob man das Getauft-Werden eines Menschen wirklich als Mimesis Jesu von Nazareth, der sich selber von Johannes taufen ließ, verstehen kann? (214) Die streitbare Studie hat einen theologischen Zuschnitt, der Lust macht, kritisch nachzuhaken. Möglicherweise zeigt sich die Attraktivität der christlichen Lebensform nicht nur in der Mimesis, sondern auch im Versprechen einer radikalen Metamorphose (Röm 12,1 f.).
In seinem Vorwort schreibt G., er widme sein Buch den vier Enkelinnen. Es wird noch ein paar Jahre dauern, bis sie die Bücher ihres Großvaters lesen können. Wie werden sie wohl Kirche als junge Erwachsene erleben? Man wünscht G. und seinen treuen Lesern, dass er sie befragen und aus dem Gespräch ein neues Buch – oder vermutlich eine Staffel von neuen Büchern – entstehen wird.