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Ausgabe:

Mai/2019

Spalte:

520–522

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Ohly, Lukas

Titel/Untertitel:

Theologie als Wissenschaft. Eine Fundamentaltheologie aus phänomenologischer Perspektive.

Verlag:

Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang 2017. 340 S. = Theologisch-Philosophische Beiträge zu Gegenwartsfragen, 18. Geb. EUR 66,95. ISBN 978-3-631-73187-1.

Rezensent:

Matthias Petzoldt

Der Mut, mit dem hier anzuzeigenden Buch eine Fundamentaltheologie vorzulegen, ist zu begrüßen. Und eine solche als eine Wissenschaftstheorie der Theologie zu konzipieren, leuchtet ein. Dementsprechend erwartungsvoll stimmt der Blick auf das In­haltsverzeichnis, welches nach der Einleitung Kapitel zu den Problemkreisen »Theologie als Wissenschaft«, »Gegenstand der Theologie«, »Schriftprinzip der Theologie«, »Theologische Einzeldisziplinen« und »Verhältnis der Theologie zur Religion« ankündigt. Für mutig halte ich dieses Vorhaben, da trotz einiger Entwürfe in den letzten Jahrzehnten auf protestantischer Seite die Zu­rückhaltung gegenüber einer fundamentaltheologischen Aufgabenstellung immer noch groß ist, entweder weil darin ein unsachgemäßes Ausweichen der Theologie auf eine »andere Aufgabe« gesehen wird (wie sie vor allem auf römisch-katholischer Seite bis zur disziplinären Verselbständigung betrieben wurde), oder weil sie durch eine (vor allem subjektivitätstheoretisch orientierte) Systematische Theologie als Religionsphilosophie überholt wird.
In Lukas Ohlys Ausführungen vermisst man eine Vermessung der eigenen Position innerhalb dieser Diskussionslage. Pannenbergs »Wissenschaftstheorie und Theologie« wird nur selten zitiert. Eine Auseinandersetzung mit dieser Konzeption unterbleibt. Vielmehr kündigt O. für sein Vorhaben im Titel eine phänomenologische Perspektive an. Doch auch diese Standortbestimmung fällt überaus spärlich aus. Als philosophische Vertreter werden gelegentlich Husserl, Heidegger, Sartre, Lévinas und Waldenfels er­wähnt. Von theologischen Vertretern kommt nur Herms in einer kurzen Diskussion um dessen These von der »Grundverlässlichkeit der Wirklichkeit« im »Widerfahrnis eines Kontinuums von Er­schließungsereignissen« zu Wort (76–80). Nach einer Beschäftigung oder gar Auseinandersetzung mit Dabrocks (im Gespräch mit Waldenfels’ Phänomenologie entwickelten) Fundamentaltheologie (2000 und 2004) als theologischer Schwellenwissenschaft zwischen Theologie und Philosophie und anderen Humanwissenschaften sucht man vergeblich.
Worin zeigt sich aber nun die phänomenologische Perspektive in O.s Konzeption von Fundamentaltheologie? Durch das ganze Buch zieht sich die Formel vom »Nicht-Selbstverständlichen im Selbstverständlichen«. Sie muss zur Erklärung vieler Zusammenhänge herhalten. Zum Beispiel steht sie für alle lebensweltlichen Evidenzen, die dem Denken »in gewisser Weise entgegengekommen« sind (113). Hier mag ein wenig die Phänomenologie von Bernhard Waldenfels anklingen, welche an dem in den Phänomenen Zugänglichen immer zugleich das darin Abwesende thematisiert. Doch zeigt sich für O. das Nicht-Selbstverständliche, indem es »wi­derfährt«, während für den Bochumer Philosophen das alle Ordnungen schattenhaft begleitende Außerordentliche in den Phänomenen abwesend bleibt und entdeckt werden muss. Darüber hinaus verschiebt O.s Formel die Rezeption der Phänomene in einen individuell sehr subjektiven Horizont: Was für die eine selbstverständlich erscheinen mag, kann schon für den anderen nicht-selbstverständlich sein. Angesichts solcher Differenzen wäre eine Diskussion mit Waldenfels’ Phänomenologie wünschenswert ge­wesen.
Freilich dient O. die Formel vor allem zur Plausibilisierung der christlichen Glaubenswahrheiten. So zehre zwar die Le­benswelt des Glaubens volkskirchlich aus der Selbstverständlichkeit des Nicht-Selbstverständlichen. Doch »wenn die lebensweltlichen Selbstverständlichkeiten ins Wanken geraten«, entstehe das Interesse an der Überprüfung christlicher Wahrheitsansprüche (99 f.). Hier komme die Theologie ins Spiel. Mit ihrem primären Kontext des Wissenschaftsbetriebes lägen weitere Lebenswelten als nur die des Glaubens zugrunde. Ihre Funktion bestehe darin, »die Evidenzen der Lebenswelt des Glaubens auf ihre Wahrheit zu überprü-fen« (101) und sie nachdenkend zu rekonstruieren. Mit solcher Dif-ferenzierung zwischen Glaube und theologischer Wissenschaft grenzt sich O. zwar von Karl Barth ab, folgt aber sonst in vieler Hinsicht dessen offenbarungstheologischer Diktion. Selbstverständlich ist nach O. das christliche Wahrheitsereignis christologisch bestimmt. Dabei verwundert es, wenn er unvermittelt mit »Auferstehung Jesu« (152) und »Himmelfahrt Christi« (139) argumentiert, währenddessen er in der Frage der Suffizienz des biblischen Kanons das »Referenzkriterium Jesus Christus« lediglich auf die Feststellung beschränkt sieht, dass damit kein anderer gemeint sei als der biblische (143–148). Die Barth-Nachfolge erstreckt sich bei O. bis dahin, dass er die Prolegomena der »Kirchlichen Dogmatik« zur »Fundamentaltheologie« erklärt (113) trotz dessen Ablehnung allen solchen Unternehmens als natürlicher Theologie. Vor allem greift O. das »dynamische Wahrheitsverständnis« Barths (73 u. ö.) auf, welches Wahrheit als Ereignis erfährt und begreift. »Das Widerfahren einer Offenbarungserfahrung lässt das Nicht-Selbstverständliche im Selbstverständlichen entdecken […], das eine Lebenswelt dann in ihr selbst rekonstruieren kann« (98).
Die Wahrheitsfrage nimmt in dem Buch einen breiten Raum ein. Verhandelt doch die Fundamentaltheologie nach O. »die allgemeine Frage, worin die Wahrheit christlicher Aussagen überhaupt besteht, nämlich im Wahrheitsereignis des Nicht-Selbstverständlichen im Selbstverständlichen« (243). Unter dem Raster dieser Problemstellung kann O. die theologischen Einzeldisziplinen nach ihrem jeweiligen Gegenstand und ihrer Methodik unterscheiden (201–279). Für seinen spezifisch theologischen Umgang mit dem Wahrheitsbegriff sucht er sich theologische Rückendeckung: ne­ben Karl Barth vor allem bei Johannes Fischer. Die Philosophie kommt dabei kaum zu Wort. O. zitiert mal Heidegger. Mit Haber mas diskutiert er den Unterschied zwischen Wahrheit und Geltung. Den Rückzug der wahrheitstheoretischen Diskussion der letzten Jahrzehnte auf das Prädikat »ist wahr« diskutiert er aber nicht. Doch beruft er sich ausdrücklich auf einen Protagonisten dieser Entwicklung, auf den Logiker Tarski (70 – freilich nicht im Original, sondern auf eine Interpretation in der Sekundärliteratur), der das Prädikat »ist wahr« auf die Übereinstimmung zwischen Ob­jekt- und Metasprache reduziert. Nach O.s Kommentar überführe Tarskis semantische Wahrheitstheorie »die Korrespondenzwahrheit einer Lücke« (70). Die gesuchte Übereinstimmung zwischen Geist und Sache gebe es nicht in der Wirklichkeit, sondern bestehe allein in dem »Zwischen«: »etwas Drittes zwischen beiden« (94 f.). Dieses Dritte sucht O. mit einer »pragmatischen Komponente« zu füllen, wonach »Wahrheit an Lebensformen angebunden bleibt […] Diese Übereinstimmung von wissenschaftlicher Konstruktion und lebensformimmanenter Rekonstruktion, also die Übereinstimmung des Nicht-Selbstverständlichen und des Selbstverständlichen, heißt Wahrheit. Wahrheit ereignet sich daher nur in solchen Lebensformen, die dem Anderen begegnen und es zulassen, ihm zu begegnen.« (95, vgl. auch 172 f.) Diese kühnen Schlussfolgerungen haben nichts mehr mit der semantischen Wahrheitstheorie zu tun. Trotzdem meint O., sich für die »phänomenologische Leitperspektive« seiner Fundamentaltheologie auf Tarskis an­gebliches Verständnis von Wahrheit als »Zwischeninstanz zwischen einer Aussage und einem Sachverhalt […], also in gewisser Weise ›jenseits‹ der Welt als auch ›jenseits‹ der Sprache« berufen zu können und somit »Theologie als Wissenschaft zu bestimmen« (319).
In der Tat: Fundamentaltheologie auf dem Hintergrund protes-tantischer Tradition im Horizont der wissenschafts- und wahrheitstheoretischen Diskussionen zu entwerfen ist eine große Aufgabe. Das vorliegende Buch hilft dabei nicht weiter.