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Ausgabe:

Mai/2019

Spalte:

516–518

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Dalferth, Ingolf U.

Titel/Untertitel:

Selbstlose Leidenschaften. Christlicher Glaube und menschliche Passionen.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2013. XV, 380 S. Kart. EUR 34,00. ISBN 978-3-16-152528-5.

Rezensent:

Dietrich Korsch

Dass die Besprechung dieses Buches von Ingolf U. Dalferth erst jetzt erscheint, liegt am Rezensenten, der sich zu lange vom Doppelsinn des Titels hat abhalten lassen. Versprechen doch Leidenschaften einerseits, gerade indem sie sich von anderem bestimmen lassen, ein intensives Beisichselbstsein und Selbsterleben. Und scheint demgegenüber, andererseits, die behauptete Selbstlosigkeit der Leidenschaften eine existentielle oder gar moralische Zähmung unmittelbarer Gefühlsbestimmtheit zu fordern. Wenn schon Leidenschaften, dann doch richtig! Auch nach der sorgfältigen Lektüre löst sich die Spannung nicht ganz auf. Und das ist vielleicht sogar sachgemäß. Denn der Mittelgedanke D.s, der die beiden Aspekte zueinander ins Verhältnis setzt, ist der des Werdens, einer Transformation des unmittelbaren Daseins zu einem eigenen Selbstsein im Glauben, durch welche sich in der Bewegtheit der Leidenschaften eine neue modale Orientierung bemerklich macht, die aus dem gelebten Verhältnis zu Gott entspringt. Wenn es sich aber um ein Werden handelt, dann kann das Bewusstsein des Übergangs, also des Woher und des Wohin, nicht verschwinden.
Leidenschaften: Dazu zählen die großen Lebensbestimmtheiten von Angst und Zorn, Liebe und Mitleid, schließlich und grundlegend: Vertrauen. In allen Kapiteln, die der jeweiligen Leidenschaft gewidmet sind, erfährt der Leser zunächst eine konzentrierte Einführung in die Deutungsmöglichkeiten, wie sie von Seiten der Biologie und der Kulturwissenschaften, einschließlich der Philosophie, bereitgestellt werden. Entscheidend ist freilich der anschließende Schritt, nämlich diese Betrachtungsweisen in eine spezifisch theologische Perspektive zu rücken. Das geschieht grundsätzlich und regelmäßig so, dass die anthropologischen Differenzierungen, die sich scheinbar unvermittelt ergeben, ins Licht der Unterschei dung und Beziehung von Gott und Mensch getaucht werden. Dadurch wird der phänomenologische Bestand der Leidenschaften weder verändert noch gar neutralisiert, wohl aber entwickelt sich ein eigentümlicher Modus des Umgangs mit ihnen, der auf nichts weniger zurückgeht als auf eine Verwandlung der Umgangsmöglichkeiten durch das Gottesverhältnis.
Dieses Verfahren lässt sich besonders deutlich an den beiden wichtigsten Leidenschaften zeigen, die im Buch auch den meisten Platz einnehmen: Angst (23–98) und Vertrauen (264–338). Im Falle der Angst verhält es sich so, dass man verschiedene Deutungstiefen erleben kann, die sich in die Angst vor dem Selbstverlust bündeln lassen, welche die Angst vor dem Welt- und dem Gottesverlust nach sich zieht (52). Die spezifisch theologische Deutung der Angst geht dagegen nicht unmittelbar auf das Phänomen, sondern macht einen »Umweg über Gott« (55). Dabei tut sich die Differenz auf zwischen dem Gottesbegriff, der gedanklich expliziert werden kann und muss, und »Gott selbst«, wie D. immer wieder unterstreicht (vgl. 75 u. ö.). Dieser Unterschied ist bedeutend, aber nicht selbstverständlich. Zwar bedarf es immer eines Gottesverständnisses oder eines Gottesbegriffes, wenn man von Gott redet. Doch erzeugt nicht der Begriff die Wirkung, hier: der Angst zu begegnen, sondern nur »Gott selbst«, also der im Begriff gemeinte und in ihm bezeichnete, aber ihm nicht innewohnende dynamische Überschuss – so würde ich den offenbar gemeinten Sachverhalt beschreiben. Nun besitzt die Differenz zwischen dem Begriff Gottes und Gott selbst auch ein begriffliches Pendant, nämlich dass Gott nach christlichem Verständnis nicht ein in sich ruhendes Allwesen ist, sondern sich gewissermaßen überbegrifflich selbst konstituiert: »Niemand kann Gott zu dem machen, was er ist, sondern dazu macht Gott sich allein. Aber gerade deshalb kann sich Gott nur im Widerstreit mit sich selbst die Bestimmtheit geben, die seine Gottheit auszeichnet und von allem anderen unterscheidet. […] Der Widerstreit zwischen Gott und Gott ist daher unumgänglich« (78). Dieser Widerstreit er­eignet sich konkret, indem Jesus gekreuzigt wird. Denn der von Jesus verkündigte Gott erweist sich gerade da, wo der Verkündiger nicht mehr mit Gottes Präsenz rechnen kann, als durch den Tod hindurch wirkende Liebe. Dieses Geschehen ereignet und zeigt Gott aber als denjenigen, der allein dem tiefsten Abgrund im Menschen, der Angst, standhält. Das sich selbst durch den Abgrund möglicher Selbstvernichtung hindurch konstituierende Selbstsein Gottes ist diejenige Kraft, die es mit dem bedrohten Selbstsein des Menschen aufnehmen kann. Das ist ein durchaus spekulativer Gedankengang, auch wenn seine Absicht eine unmittelbar religiöse ist.
Dieser Sachverhalt spiegelt sich gewissermaßen im Phänomen des Vertrauens, wie man insbesondere am Verhältnis von Grund- und Gottvertrauen sehen kann: »Grundvertrauen ist ein Wirklichkeitsvertrauen, das prä- oder transepistemisch alles übersteigt, was man weiß oder zu wissen meint. Gottvertrauen dagegen ist ein Möglichkeitsvertrauen, das selbst dort, wo man sein Leben ganz anders erlebt, Bestand haben kann, weil es einen kontrafaktischen Grundzug hat, der sich bis zu dem Punkt zuspitzen kann, dass man gegen sich selbst und sein eigenes Erleben des Lebens auf den vert raut, dem man das Leben verdankt.« (316) Das Grundvertrauen sucht eine beständige, dem Wandel entnommene Instanz, sozusagen das Wirklichkeitsfundament – das sich durchaus im Gefühl der Erschlossenheit der Wirklichkeit meldet. Das Gottvertrauen dagegen richtet sich auf das Werden, durch welches die Erschlossenheit der Wirklichkeit erst zu dem wird, was sie ist – und sie wird es nicht durch die sich selbst induzierende Wirklichkeit, sondern: durch Gott. Insofern reicht das Gottvertrauen (und darum heißt es hier: »Möglichkeitsvertrauen«) weiter als das Grundvertrauen.
Ohne das Bewusstsein von und die Suche nach einem Wirklichkeitsfundament freilich wäre auch ein »Möglichkeitsvertrauen«, das eine analoge Funktion besitzt, sich aber im Unterschied zu einem derartigen »Wirklichkeitsvertrauen« aufbaut, nicht verständlich. Insofern bleibt das Leben ein Phänomen des Übergangs, des Werdens, und es geht entscheidend um die Bestimmung des – gegliederten und differenzierten – Horizontes, in dem solches Werden sich vollzieht. Es kann dann nicht ausbleiben, dass man sich auch über diese Bestimmung seine Gedanken macht, also auch das Verhältnis von »Gott« und »Gottesgedanke« – nach denkt.
Um dieser theologischen Konzentration willen sei auf eine Vorstellung der verschiedenen Leidenschaften, deren Behandlung grundsätzlich diesem Muster folgt, verzichtet; wer sich auf sie einlässt, wird manche Klärung finden (etwa, um nur ein Beispiel zu nennen, zum Unterschied von Grundvertrauen, Urvertrauen, Fundamentalvertrauen etc.).
Bereits diese vielfach überzeugenden phänomenbezogenen Er­örterungen in D.s Buch machen es lesens- und bedenkenswert. Darüber hinaus ist es die hier hervorgehobene Grundentscheidung, die schon in sich bewegte Dynamik der Leidenschaften (Affekte) in eine weiter gespannte Dynamik des Gottesverhältnisses einzuzeichnen, die zu weiterer Erörterung anregt. Denn über die ja unabweisbare Verhältnisbestimmung von »Gottesgedanke« und »Gott« ist das letzte Wort nicht gesprochen – wenn es denn darüber überhaupt ein letztes Wort gibt.