Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Mai/2019

Spalte:

493–496

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Peterson, Paul Silas

Titel/Untertitel:

The Early Karl Barth. Historical Contexts and Intellectual Formation 1905–1935.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2018. XIV, 474 S. = Beiträge zur historischen Theologie, 184. Lw. EUR 114,00. ISBN 978-3-16-155360-8.

Rezensent:

Georg Pfleiderer

In der deutschsprachigen Karl Barth-Forschung der letzten Jahre ist ein gewisser Trend zur Irenik festzustellen. Pünktlich zum geplanten Karl Barth-Jahr 2019 entdecken selbst bisher Barth-averse Theologen wie R. Frisch oder K. Huizing den dogmatischen Klassiker als postmodernen Zeitgenossen. Doch mit der Chuzpe des humorfreien Ikonoklasten, zugleich geadelt durch eine ihr dafür verliehene Habilitationswürde (noch dazu aus Tübingen) und einen prestigeträchtigen Veröffentlichungsort, drängt nun eine Neuerscheinung auf den geschmückten Jubiläumsmarkt der Barthforschung, die alles dafür tut, um solche Neigungen zu harmonischer Feststimmung nachhaltig zu torpedieren. Mit der Kraft eines fast 500 Seiten starken, überaus Fußnoten-, Belegstellen- und forschungsverweisreichen Œuvres bläst P. lautstark in das Horn, das in der Barthforschung sonst vor allem einer Stimme zugerechnet wird: derjenigen Friedrich Wilhelm Grafs und seiner langjährigen Arbeit an der Liberalismuskritik der dialektischen Theologen, vor allem in der Weimarer Republik. P.s Buch basiert auf den Grafschen Arbeiten und baut diese und die ihnen zugrundeliegende Münchner Totalitarismusthese breit aus. Sein Forscherpathos ist der Anspruch, Barth der »bloß theologischen« Lektüre zu entreißen und ihn viel entschlossener als bisher geschehen in den breiten Strom historisch-zeitgeschichtlicher Arbeit einzustellen.
Tue man das, werde erkennbar, dass Barth in den 1920er Jahren als ein typischer Vertreter der »Konservativen Revolution« einzuordnen sei, die insgesamt als die intellektuellen Steigbügelhalter des Nationalsozialismus zu gelten hätten. Kennzeichen dieses Denkens seien Autoritätsfixiertheit, Gehorsamsrhetorik, Dezisionismus (40), Gemeinschaftspathos und dies alles verbunden mit einer dezidierten Liberalismus- und vor allem Parlamentarismuskritik. Resonanz- und Ursprungsraum dieses Denkens sei die deutsche Sonderwegtradition der antiwestlichen politischen Romantik eines völkischen Denkens, das in die Vorkriegszeit des Ersten Weltkriegs datiere, und damit verbunden ein nationalistischer bzw. kulturhegemonialistischer Chauvinismus, Rassismus und Antisemitismus mit ähnlich weiter zurückreichenden Wurzeln. Wichtig es Ingredienz dieser in der Grundstruktur konservativen, antiwestlichen, antimodernen Grundeinstellung sei bei Barth – wie auch bei seinen zahlreichen Gesinnungsgenossen – ein ebenfalls schon lange vor dem Ersten Weltkrieg erkennbarer antikapitalistischer Affekt, der sich nicht erst in seiner religiös-sozialen Phase in Safenwil gebildet, in dieser aber erstmals radikalisiert habe. Ab da werde »Radikalismus« gewissermaßen zur Grundsignatur dieses Denkens und zur zusammenhaltenden Klammer seiner vielen theologisch-intellektuellen Positionswechsel.
Die während »WW I« vollzogene theozentrische Wende der Römerbriefkommentare liest P. als Selbstpräsentation eines theologischen Avantgardisten und konservativen Revolutionärs, der sein radikales Denken allerdings in die theologische Meta-Sphäre verschoben habe (123) und im politischen Raum Weimars einen quietistischen, latent anti-demokratischen Konservatismus ge­pflegt habe. In der politisch so heiklen Endphase der Weimarer Republik habe Barth mehr oder weniger unverhohlen Sympathien (mild engagement, 39) für den Nationalsozialismus gezeigt (240 f. u. ö.) oder zumindest die zahlreichen Nazis oder Sympathisanten mit dem Nationalsozialismus unter seinen studentischen Anhängern nicht vor den Kopf stoßen wollen. In der Etablierungsphase der totalitären Terrorherrschaft 1933/34 habe Barth sich wenigstens in seinen öffentlichen Stellungnahmen strikt auf die theologische Metaebene und die Sphäre kirchlicher Eigeninteressen beschränkt und jegliche Kritik an der politischen und ethischen Legitimität der NS-Diktatur konsequent unterlassen. Paradedokument die-ser Haltung des Wegduckens sei »Theologische Existenz heute!« (255 ff.) und deren Zusendung an Hitler. Erst nach seiner Übersiedelung in die Schweiz habe Barth auch Kritik am Nationalsozialismus als politischem Programm zu üben begonnen. Aber hier endet das Buch.
P. will, das dürfte erkennbar geworden sein, provozieren, und zwar um jeden Preis. Adressiert ist diese Provokation vor allem an die englischsprachige Leserschaft, deren verschiedenen, durchaus kontroversen Barth-Tribes es ihren gemeinsamen Helden zu de­montieren versucht, indem es ihm die ihm dort gerne aufgelegten »Masken« vom Gesicht zu reißen versucht: die der Orthodoxie, die des moderaten Modernisierers, des pluralismusfreundlichen (Krypto-)Liberalen, aber auch des engagierten Sozial- oder gar Gendertheologen. Demgegenüber wird hier mit dem Anspruch historischer Vorurteilslosigkeit und Forschungsbreite das Bild eines antiwestlichen (deutsch-)konservativen Revolutionärs, eines theologischen Martin Heidegger gewissermaßen, entworfen.
Problematisch an dieser neuen Darstellung des »Early Karl Barth« ist – bei zuzugestehenden Wahrheitsgehalten – zum einen ihr schon in der Zusammenfassung erkennbarer Hang zur Pauschalisierung, der entgegen seinem historischen Anspruch an his-torischer Differenzierung weniger interessiert ist als an der schroffen, ihrerseits tendenziell totalen Verurteilung. Dieser Gesamteindruck wird zum andern verstärkt durch eine nachgerade ärgerliche Tendenz, »auf den Mann«, also auf Barths Mentalität und seinen Charakter zu spielen. Wo immer etwa in den Konfirmandenunterrichtsvorbereitungen des jungen Safenwiler Pfarrers das Stichwort »Neger« fällt oder das Judentum als durch das Christentum überholte Gesetzesreligion gekennzeichnet wird, macht P. daraus im Stil eines übereifrigen jungen Staatsanwalts Indizien für den großen Prozess gegen den vermeintlichen latent chauvinistisch-antisemitischen Nationalkonservativen. Barths oft geäußerten Verweis auf sein Schweizertum als Begründung für seine relative politische Abstinenz in Weimar und danach wird als Schutzbehauptung zur Verdeckung von deren wahren Motiven zu decouvrieren versucht, die außer in der geistigen Nachbarschaft zu den politisch Antiliberalen im Versuch der Verdeckung seiner Liebesbeziehung mit »the younger ›Lollo‹« (261) und im egoistischen Interesse am Erhalt des prestigereichen Status seiner deutschen Professur ( elite of the elites, 427) bestanden hätten (262).
Inhaltlich abstoßender als solche moralischen Desavouierungsversuche ist der seinerseits radikale Anti-Radikalismus P.s, der be­reits Empathiebekundungen für das Arbeiterelend der Safenwiler als Anzeichen für einen antiliberalen Antikapitalismus versteht, für den Unternehmer Hüssy deutlich mehr Sympathien aufbringt als für den »roten Pfarrer« (85–87) und Sozialismus jedweder Couleur stereotyp als ideology (127.133) kennzeichnet. Und natürlich werden auch Barths »sozialistische Reden« vor diesem Hintergrund als Dokumente eines konservativ-anti-(kapitalistisch-liberalen), tendenziell kommunistischen Mentalitätssyndroms gelesen. Dass auch Vorzeigeliberale wie Ernst Troeltsch während des Weltkriegs und auch sonst bekanntlich in Deutsch-versus-Westen-Schablonen gedacht haben und sich, wie man an Troeltschs Großbritannienvorträgen zeigen könnte, Züge politischen Gemeinschaftsdenkens durchaus auch bei Weimarer Liberalen gefunden haben, spielt in diesem Buch keine Rolle. Und weit hinter dem Anspruch, historical contexts auszuleuchten, bleibt auch der Umgang mit der Kategorie und dem Vorstellungshorizont »des« völkischen Denkens, das bei Barth überall dort sein Unwesen treiben soll, wo bei ihm das Wort »Volk« (104.249.267 u. ö.) steht, das P. im Englischen darum unübersetzt, sozusagen als Rune, stehenlässt. Unerwähnt bleibt dabei, dass Barth in seiner deutschen Zeit zumindest in seinen Briefwechseln tatsächlich immer wieder oft kognitive Dissonanzen zum national-konservativen Denken erkennen lässt, insbesondere nach Begegnungen mit E. Hirsch.
Systematisch am unbefriedigendsten ist aber, dass die theologische Grundentscheidungen Barths, ja dessen Theologie insgesamt, in den Raum eines »meta-discourse« (cf. 111.238.242 f.250 f. u. ö,), wie P. gerne sagt, abgedrängt werden. An der Aufhellung von deren Begründungs- und Entwicklungslogik ist ihm so gut wie nicht gelegen. Sein Ansatz ist ein »phänomenologischer«, besser: phäno-typologischer; interessiert allein am Nachweis der Zugehörigkeit der Barthschen Theologie zu dem (als mehr oder weniger einheitlich angenommenen) Phänotypus der »Konservativen Revolution«. Darum wird auf eine Auseinandersetzung mit der anspruchsvol-leren modernitätstheoretischen philosophisch-theologischen Barthforschung der letzten Jahre (J. F. Lohmann, D. Korsch, J. M. Murrmann-Kahl, J. Dierken, M. Moxter, F. Wittekind u. a.), die sich doch genau um eine differenzierte Aufarbeitung der »historical contexts und intellectual formation« der Barthschen Theologie be­müht hatte, weitestgehend verzichtet. Deren detaillierte Aufarbeitungen der Transformation liberal-theologischen Erbes in der Barthschen Theologie werden im Schlusskapitel des Buches viel zu pauschal abgewiesen. Und Barths Versuch des Aufbaus einer trinitätstheologischen Konstitutions- und Vollzugstheorie individueller Freiheit wird nicht erkannt.
Das anzuerkennende Recht dieses »phäno-typologischen« Blicks besteht jedoch in seiner geschärften Wahrnehmung für geis-tige Kippfiguren, Ambivalenzen, Austauscheffekte und vor allem für Rezeptionsvorgänge. Die feinsinnigen Rekonstruktionen der Barth’schen »Denkform« im Stil heutiger ideengeschichtlicher Mo­dernisierungstheorie liegen in aller Regel ober- oder unterhalb des Wahrnehmungsspektrums zeitgenössischer Barthrezeption: Zumal in der Endphase der Weimarer Republik haben, wie F. W. Graf oft gezeigt hat, viele Barthschüler auf Außenstehende, besonders auf liberale Theologen, aber nicht nur auf sie, tatsächlich sehr autoritär, weil sich im Besitz einer überlegenen theologischen Po-sition wähnend, antiliberal und darin den politischen Links- und Rechtsradikalen geistesverwandt gewirkt. Und solchen Wirkweisen hat »der Meister« oft, wenn überhaupt, nur halbentschlossen entgegengearbeitet. Zutreffend ist gewiss auch P.s Kritik an der Geschichtsklitterei, die Barth mit der pauschalen Genetisierung der Deutschen Christen als angeblichen Nachfahren des theologischen Liberalismus betrieben hat. Dass allerdings in der Tat auch modernes, in seiner Wurzel (strukturell-potenziell) liberales Denken in faschistoides umschlagen konnte, lässt sich bekanntlich an einem Barth-Antipoden wie Emanuel Hirsch genau beobachten. »Dogmatismen« und »Radikalismen« aller Art dürften gegen solche Umschläge nicht gefeit sein, auch liberale nicht.
Das anregendste Potenzial des Buches liegt jedoch darin, dass es dazu auffordert, sich erneut und vielleicht grundsätzlicher noch als bisher mit der Frage nach dem Verhältnis ideengeschichtlich-kulturell-theologischer zu historisch-politischer Geschichtsschreibung und Geschichte in jener formativen Periode der Moderne zu beschäftigen. Sollte sich die Bedeutung der »radikalen« kulturellen (künstlerisch-intellektuellen) Aufbruchsbewegungen jener Ära, denen die Barthsche Theologie in der Tat als bedeutendster theologischer Exponent zuzurechnen ist, in einer politikgeschichtlichen Optik tatsächlich nur in ihrer Funktion als mehr oder weniger toxische Varianten einer kollektiven pathologischen »anti-liberalen« Verirrung erschöpfen, die heute allesamt in den ideologischen Giftschrank gehören? Was kann die liberale, demokratische Zi-vilgesellschaft der Gegenwart vom radikalen Krisendenken oder dem hochfliegenden theologisch-politischen Utopismus jener Zeit lernen?