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Ausgabe:

Mai/2019

Spalte:

478–480

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Duchhardt, Heinz, u. Johannes Wischmeyer [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Der Wiener Kongress – eine kirchenpolitische Zäsur?

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013. IV, 313 S. m. 4 Tab. = Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Beihefte, 97. Geb. EUR 60,00. ISBN 978-3-525-10123-0.

Rezensent:

Thomas K. Kuhn

Die vielfältigen politischen Umbrüche und territorialen Verschiebungen, welche die ersten beiden Jahrzehnte des 19. Jh.s prägten, beeinflussten zweifelsohne Teile der christlichen Frömmigkeit. Vornehmlich Anhänger der aufkommenden Erweckungsbewegungen trugen diese Ereignisse als Krisenphänomene in ihre von der Johannesoffenbarung geprägten apokalyptischen Fahrpläne ein und sahen das Reich Gottes nahe herbeigekommen. Als ein herausragendes politisches Ereignis nahm man in diesem Zusammenhang die Entscheidungen des Wiener Kongresses zur Kenntnis und stellte sich die Frage, wie nach Französischer Revolution, Reichsdeputationshauptschluss und Befreiungskriegen dieses Ereignis religiös zu interpretieren sei. Neben diesen frommen Deutungsmustern fragten andere Zeitgenossen nach den konkreten Auswirkungen des Wiener Kongresses. Was bedeutet er in religions- und kirchenpolitischer Perspektive vor allem für die Vertreter der drei christlichen und reichsrechtlich anerkannten Konfessionen und für die Juden? Und welche Folgen hatte er für den zum Zeitpunkt des Kongresses verbotenen Orden der Jesuiten?
Solchen Fragen geht der vorliegende Band nach, der sich einem bis dahin eher vernachlässigten Thema des Wiener Kongresses widmet. Er bietet elf Beiträge und ist eine Dokumentation einer kleineren interdisziplinären Tagung, die am 15./16. März 2012 im Leibniz-Institut für Europäische Geschichte stattfand.
Der Wiener Kongress zählt zweifelsohne zu den »Schlüsselereignissen« der deutschen und mitteleuropäischen Geschichte. Neben vielen anderen Angelegenheiten hatte er die Aufgabe, die Beziehungen zwischen Kirche und Staat neu zu regeln und sich mit dem Kirchenverfassungsrecht zu beschäftigen. Es ging dabei beispielsweise um völkerrechtliche Regelungen der Beziehungen der großen deutschen Staaten zur Kurie und um den Neuzuschnitt der Kirchenprovinzen. Ferner galt es, die territoriale Basis des Kirchenstaats neu zu definieren und die bürgerliche und politische Gleichstellung der christlichen Konfessionen zu regeln.
Der erste Beitrag des Kirchenhistorikers Karl Hausberger widmet sich den Konkordatsplänen von Karl Theodor von Dalberg für das Reich und den Rheinbund. Ausgehend von der durch die Säkularisation generierten misslichen Lage der katholischen Kirche im rechtsrheinischen Deutschland drängte Dalberg auf eine organisatorische Konsolidierung des Kirchenwesens. Es ging ihm in Folge des Reichsdeputationshauptschlusses um eine gesamtdeutsche Regelung der Kirchenfrage. Insgesamt gesehen scheiterte er allerdings mit den meisten seiner Vorhaben. Im zweiten Beitrag fragt der Würzburger Kirchenhistoriker Dominik Burkhard, ob der Wiener Kongress mit Blick auf die Konzeption einer deutschen Kirche »Zäsur oder nur Zwischenspiel« gewesen sei. Er beschreibt dabei die Vielfalt von Parteien und Konzeptionen innerhalb des deutschen Katholizismus im Umfeld des Wiener Kongresses und kommt zu dem Ergebnis: Aus katholischer Sicht war der Kongress keine Zäsur, sondern nur ein Zwischenspiel.
Franz Xaver Bischoff wendet sich in einer kurzen Darlegung der Rolle des Konstanzer Generalvikars Ignaz Heinrich von Wessenberg auf dem Wiener Kongress zu und konstatiert, dass er – wie Dalberg – mit seinen zentralen Anliegen gescheitert sei. Der römische Historiker Roberto Regoli untersucht in seinem Beitrag »Cardinal Consalvi and the Restitution of the Papal States«. Consalvi war päpstlicher Gesandter auf dem Kongress und maßgeblich an der Restauration des Kirchenstaates beteiligt. Die Abhandlung des evangelischen Kirchenhistorikers Johannes Wischmeyer nimmt die Verhandlungen über eine Bundeskirchenverfassung aus dem Jahr 1815 in den Blick, die auch deshalb scheiterten, weil die katholischen Repräsentanten untereinander uneins waren, wie beispielsweise Wessenberg und die Ultramontanen. Im Anhang bietet Wischmeyer einen Abdruck der Religionsartikel in den Entwürfen für eine Religionsverfassung der Jahre 1814/15.
Von den »Mindermächtigen«, denen sich Michael Hundt zu­wendet, nahmen nur wenige aktiv an den Verhandlungen über ein allgemeines Religionsrecht des Bundes teil. Für diese Mindermächtigen, bei denen es sich um 33 Staaten mit zusammen rund 3,5 Millionen Einwohnern handelt (siehe dazu die Liste der auf dem Wiener Kongress vertretenen mindermächtigen deutschen Staaten, 172 f.), stellte der Wiener Kongress ebenfalls keine Zäsur dar, er ist vielmehr eine Etappe in einem sich lange hinziehenden Prozess der Überwindung von Sonderrechten.
Die Rolle des evangelischen Freiherrn von Stein auf dem Kongress untersucht der Historiker Heinz Duchhardt und kommt zu dem Ergebnis, dass zwar einerseits in Steins Schriften religions- wie kirchenpolitische Themen kaum eine Rolle gespielt hätten, andererseits aber von seiner intensiven mündlichen Beteiligung an den Gesprächen des Kongresses auszugehen sei.
Einem ganz anderen Themenbereich geht Thomas Weller nach, wenn er von »Ächtung des Sklavenhandels in der Kongressakte und die Rolle der Kirchen« berichtet. Diese am 8. Februar 1815 unterzeichnete Erklärung, die als Anhang in die Wiener Schlussakte aufgenommen wurde, ächtete den atlantischen Sklavenhandel und zielte auf dessen Beendigung. Wenn die unmittelbare Wirkung der Erklärung auch nur gering war, so kann hier durchaus von einer Zäsur oder von »einer Wegmarke in der Geschichte der internationalen Beziehungen und des humanitären Völkerrechts« (185) gesprochen werden.
Im letzten Teil des Buches geht zunächst Renate Penßel am Beispiel der Juden der Frage nach, ob der Kongress für die neben den drei reichsrechtlich anerkannten »Religionspartheien« existierenden religionsgemeinschaftlichen Zusammenschlüssen eine Bedeutung hatte. Nach der Schilderung der entsprechenden Verhandlungen, die zu keiner einheitlichen Neuordnung der Rechte der Juden führten, stellt sie die Wirkungen des Artikels 16 Abs. 2 Deutsche Bundesakte (DBA) in unterschiedlichen Herrschaftsbereichen dar. Dabei wird ersichtlich, dass die unmittelbare Wirkung des genannten Artikels marginal blieb. Somit bedeutete der Wiener Kongress auch für die jüdischen Gemeinden keine Zäsur.
Der Erlanger Jurist und Kirchenrechtler Heinrich de Wall analysiert im vorletzten Beitrag des Bandes den eben erwähnten Artikel 16 der DBA, der die Rechtsstellung der Kirchen in Deutschland regelt und im ersten Absatz die Gleichheit der christlichen Konfessionen anordnet und im zweiten Artikel eine Verbesserung der Rechtsstellung der Juden in Aussicht stellt. Dieser Artikel be­stimmte, dass die Angehörigen der drei reichsrechtlich anerkannten Konfessionen bezüglich ihrer bürgerlichen und politischen Rechte gleich zu behandeln seien, er enthielt aber keine Garantie der Religionsfreiheit.
Den Band abschließend beschreibt der Schweizer Jesuit Paul Oberholzer den langen Prozess der Wiederherstellung der Gesellschaft Jesu durch Pius VII. im Jahr 1814 und fragt nach der Bedeutung dieser Wiederherstellung des 1773 weltweit aufgehobenen Or­dens. Er zeigt zudem auf, dass Jesuiten in der Zeit des Verbots in Weißrussland seit 1774 mit »geregelten Einkünften und einer internen Struktur« (280) existieren konnten.
Die vorliegende Dokumentation, der ein Personenregister beigefügt ist, bietet ein breites Panorama kirchen- und religionspo-litischer Fragestellungen. Eine ausführlichere Einführung in die hier verhandelten Themen des Wiener Kongresses sowie ein bilanzierendes und weitere Forschungsfragen aufzeigendes Fazit hätten den überaus informativen Band noch profilieren können.