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Ausgabe:

Mai/2019

Spalte:

475–478

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Rehberg, Andreas [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Ablasskampagnen des Spätmittelalters. Luthers Thesen von 1517 im Kontext.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2017. XVII, 712 S. m. 24 Abb. = Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom, 132. Geb. EUR 129,95. ISBN 978-3-11-050162-9.

Rezensent:

Martin Ohst

Katholiken und vom Unitatis-Redintegratio-Ökumenismus er­griffenen Protestanten verursacht der Ablass Unbehagen. Er hält in einer Zeit, da die allgemeine Sitte der extrem häufigen Kommunion den restlosen Zusammenbruch der weiterhin rechtsgültigen Buß- und Beichtdisziplin bezeugt, die Erinnerung an die dynamische Spannungseinheit von mysterienreligiösem Sakramentalismus und handfest-autoritärem Moralismus wach, und an ihm ist es zur »Kirchenspaltung« gekommen.
Einige Beiträge dieses Bandes projizieren diese Verlegenheit ins Mittelalter. Sie postulieren, dass diejenigen damaligen Akteure, die wussten, was sie taten, ihr Tun eigentlich hätten als problematisch empfinden müssen. So behauptet Robert N. Swanson in seinem einleitenden Essay (3–17), der Ablass sei nicht organisch aus dem Bußwesen und seinen Nötigungen erwachsen, sondern zwischeneingekommen – woher auch immer. Die Tatsache, dass die Ablässe »were always debated« (8), wertet er als ein Indiz dafür, dass sie immer als gefahrenträchtige Fremdkörper gewertet worden seien. Aber welches irgendwie belangvolle Thema der Theologie und der kirchlichen Praxis hat sich im Mittelalter nicht unentwegt im Läuterungsfeuer der intellektuellen Kritik bewähren müssen? Sodann meint Swanson: »they [die Ablässe, M. O.] could have disappeared without requiring a fundamental reconfiguration of the church« (4). Das trifft den Nagel auf den Kopf – allerdings deshalb, weil das, was sie versprachen, auch andere Institutionen und Vollzüge kirchlichen Lebens boten: Es waltete immer und überall dieselbe Logik des in seiner Heilswirksamkeit kirchlich amplifizierten Guten Werks, wenn ein Mensch Ablass erwarb, ein Kloster oder ein Spital unterstützte, wenn er einen Altar stiftete oder Beiträge an eine Bruderschaft leistete, die massenhaft Messen lesen ließ.
Temperamentvoll sekundiert Arnold Angenendt (31–43). Er be­kräftigt seine alte These, der entscheidende Subjektivierungs- und Individualisierungsschub in der abendländischen Geistes- und Frömmigkeitsgeschichte habe weder schon bei Augustin noch erst bei Martin Luther stattgefunden, sondern im 12. Jh., also eben in der Zeit, als der Ablass in seinem Siegeslauf so richtig Fahrt aufzunehmen begann. Jene Individualisierung der Religion und des Ethos habe das ganze Gedankenmuster antiquiert, gemäß dem Menschen füreinander die Straffolgen von Handlungen tragen und mit ihren Verdiensten füreinander eintreten können, und so sei das ganze Ablasswesen eigentlich nichts als ein über Jahrhunderte sich hinschleppender Anachronismus. Deshalb gelte in der Gegenwart der catonische Ratsspruch »indulgentias esse negligendas« (43). Das ist natürlich nicht so rigoros, wie es bei oberflächlichem Lesen erscheinen mag, denn es werden ja lediglich die Gläubigen aufgefordert, die Möglichkeit des Ablasserwerbs ungenutzt zu lassen, und die Papstkirche hat ja bekanntlich noch nie irgendjemanden genötigt, eine Ablassmöglichkeit in Anspruch zu nehmen. Kurt Kardinal Koch, der Präsident des Päpstlichen Rates für die Einheit der Christen, entfaltet klar und luzide die gegenwärtig rechtsgültig verpflichtende und zugleich in ihrer Substanz unveränderliche kirchliche Lehre vom Ablass als der in und mit der Gemeinschaft der Heiligen täglich zu leistenden Christenbuße. Hiervon unterscheidet er die Missbräuche, von denen der Ablass im Spätmittelalter immer wieder entstellt worden sei, und diese allein seien es gewesen, die zum Ausbruch der Reformation und damit zur Kirchenspaltung geführt hätten (vgl. 20). Aber mit alledem ist ja in­zwischen gründlich aufgeräumt, und darum gilt: »in ihrem heu-tigen Verständnis widerspricht die Ablasslehre der Katholischen Kirche keineswegs dem inzwischen gemeinsam verantworteten Verständnis der Rechtfertigungslehre, sondern ist mit ihm vereinbar« (29). Das Wesen des Ablasses ist so gerettet – weite Segmente spätmittelalterlicher Ablasspraxis und -theorie werden stillschweigend als bedauerliche, ihren Urhebern als schuldhaft zurechenbare Fehlbildungen klassifiziert. Der geistreichelnde Plauderton des englischen Mediävisten, die unbeirrbar ruhige Lehrentfaltung des Kurienkardinals und die kämpferischen Fanfarenstöße des deutschen Kirchenhistorikers bezeugen ein tiefes Unbehagen am Ablass, wie er im späteren Mittelalter nun einmal praktiziert wurde, und dieses Unbehagen gestaltet die Bilder, die sie von ihm zeichnen.
Den Mentalitäten und Motiven der Menschen, die im Mittelalter Ablässe ersannen, propagierten und unter das Kirchenvolk brachten, waren die ihnen hier angesonnenen Bedenklichkeiten weltenfremd – das zeigen die eigentlich historischen Beiträge. Sie sind auf das Spätmittelalter konzentriert, also auf jene Phase, in der die allein durch den Papst zu gewährenden Plenarablässe durch die virtuell ubiquitäre symbolische Selbstvergegenwärtigung päpstlicher Amtsvollmachten europaweit angeboten wurden; durch den Buchdruck wurden weitere, zusätzliche Ablassmedien geschaffen, wie die Beiträge von Falk Eisermann (411–425) und Hartmut Kühne (427–457) darlegen. Die Ablassquantitäten, welche ein Mensch auf diese Weise zu akkumulieren vermochte, wuchsen in den Bereich des Unvorstellbaren hinein, und so nimmt es nicht wunder, dass, wie Nienke Miedema anhand von Reiseführern für Besucher der Ewigen Stadt feinfühlig und nuancenreich berichtet, gerade jener exorbitante Zahlenwust zu einem paradoxen Symbol der Einsicht gedieh, dass angesichts Gottes und der Ewigkeit alles Rechnen, Zählen und Zahlen an die Grenzen seiner Plausibilität stößt (459–481). Trotzdem: Der Ablass wurde als der Kirche gewährte Gabe und gestellte Aufgabe von den Verantwortlichen ernst genommen und entsprechend sorgfältig traktiert, wie die Studien von Andreas Meyer (127–167) und Ludwig Schmugge (169–191) zu den Ablass-Korrespondenzen der päpstlichen Kanzlei und der Poenitentiarie zeigen.
Ihnen korrespondieren zwei in ihrer regionalen Ausrichtung sehr eng zusammengehörige Fallstudien: Peter Wiegand präsentiert drei prominente Propagatoren päpstlicher Ablässe und die besonderen Bedingungen und Resultate ihres Wirkens in Sachsen: »Marinus de Fregeno – Raimund Peraudi – Johann Tetzel. Beobachtungen zur vorreformatorischen Ablasspolitik der Wettiner« (305–333). Nur päpstliche Ablässe waren Plenarablässe, weswegen sie beson-ders gefragt waren. Ihr Ertrag ging jedoch zu einem Gutteil außer Landes, und darum mussten Landesherren abwägen zwischen solchen Interessen, welche ihnen die Zulassung päpstlicher Ablässe in ihren Territorien nahelegten, und solchen, die sie eine restriktivere Gangart bevorzugen ließen. Sehr schön zeigt Wiegand, dass hier durchgängig politisch operiert wurde, also rational-zweckorientiert und mit der Absicht, langfristige Partnerschaften zu erhalten und zu pflegen, auch wenn zeitweilig Interessendivergenzen das Tagesgeschäft be stimmten. Während hier die politische und kirchenpolitische Funktiona-lisierung des Ablasswesens thematisiert wird, wählt Enno Bünz eine an der Lebenswelt vornehmlich von Städtern sich orientierende Perspektive, wenn er »Ablässe im spätmittelalterlichen Bistum Meißen« untersucht und »Einige Beobachtungen zur Anzahl und Verbreitung der Indulgenzen« anstellt (337–368). Eindrucksvoll wird etwa an den Regesten der Ablassurkunden für die Frauenkirche in Dresden deutlich, wie sich in den Jahren zwischen 1319 und 1520 die unterschiedlichen Partikularablässe akkumulierten und übereinander schichteten und wie penibel hierüber Buch geführt wurde. Aber letztlich war das doch alles nur sehr vergängliches Stückwerk – was muss demgegenüber die Möglichkeit bedeutet haben, den einen, großen alles bereinigenden Ablass gar noch gedruckt und damit auf Vorrat für den Ernstfall erwerben zu können!
Nun gab es ja in der spätmittelalterlichen Kirche auch Bewegungen, die sich, wie man gern annimmt, dem Mainstream entgegenstemmten. Mussten nicht die Bettelorden, die Verfechter des »evangelischen« Armutsideals, zwangsläufig gegen die Mesalliance von Gott und Geld, von Frömmigkeit und Finanzinteressen opponieren? Das taten sie ganz und gar nicht, wie Robert W. Shaffern, ausgehend von der Wunderapologetik gerade radikaler Franziskaner für den Portiuncula-Ablass nachweist; inzwischen hat Étienne Doublier (Ablass, Papsttum und Bettelorden im 13. Jahrhundert, Köln u. a. 2017) alle in dieser Frage eventuell noch obwaltenden Unklarheiten beseitigt. Andere Ordensgemeinschaften verfuhren allerdings beim Ablass-gestützten Fundraising für ihre karitativen Institutionen noch erheblich hemdsärmeliger, wie Andreas Rehberg an den einschlägigen Unternehmungen des Heilig-Geist-Ordens nachweist (219–270).
Wer nun hofft, er könne am Konziliarismus einen Gefährten seines Unbehagens am päpstlichen Geschäft mit dem Plenarablass finden, wird enttäuscht: Thomas Izbicki (79–104) lässt konziliaristische Kanonisten zu Wort kommen. Sie vertraten die These, dass das Konzil, welches Funktionen des Stellvertreters Christi und Nachfolgers Petri zu übernehmen vermöge, selbstverständlich auch einen Plenarablass gewähre könne. Im Zentrum der Kontroverse stand der 62. Kanon des IV. Laterankonzils von 1215, der den Plenarablass dem Papst vorbehielt. Wohlgemerkt: Es ging nicht um die Gültigkeit, sondern allein um die Auslegung dieser Bestimmung, und beide Parteien kamen darin überein, dass eine Kirche ohne Plenarablass nicht denkbar sei.
Diese Studien zeigen: Die Einstufung des Ablasswesens als einer zweifelhaften Grauzone kirchlicher Praxis trägt ebenso wie die schnellfertige retrospektive Unterscheidung zwischen dem Ablass selbst und seinen Missbräuchen unreflektiert moderne Beurteilungskriterien an mittelalterliche Menschen, an ihr Denken und an ihr Tun heran.
Zwischen dem mittelalterlichen Ablasswesen und seinen mo­dernen Kritikern liegt augenscheinlich eine massive tiefgreifende Neukonfiguration der Bewertungsmaßstäbe. Sie geschah mit und seit der Reformation, wirkte aber auch auf die Papstkirche zurück, wie die Trienter Reform des Ablasswesens zeigt. Darum ist es gut, dass dieser Band auch zwei Studien evangelischer Theologen enthält, die diesen Ruck in der abendländischen Religions- und Mentalitätsgeschichte thematisieren – von seiner Vorgeschichte her. Berndt Hamm (501–522) druckt das Schlusskapitel seiner lebhaft diskutierten Monographie (Ablass und Reformation. Erstaunliche Kohärenzen, Tübingen 2016) ab. Er vertritt eine Doppelthese: Luthers reformatorisches Denken sei einmal nur zu verstehen im Kontext der das gesamte Spätmittelalter durchwaltenden Tendenz, Gottes Heilsgeschenk den Sündermenschen immer näher zu bringen und die Bedingungen für dessen Aneignung immer weiter herabzusetzen. Das spätmittelalterliche Ablasswesen sei sodann ein treuer Ausdruck ebendieser Tendenz. Diese beiden Annahmen legen ein Verständnis des Ablasswesens nahe, das für seinen Verzicht auf Skandalisierungen nicht einmal künstliche Unterscheidungen von richtig und falsch praktiziertem Ablass bemühen muss. Tendenziell ganz ähnlich verfährt Volker Leppin (523–564), der unter dem Titel »Das ganze Leben Buße« das primäre positive Widerlager von Luthers Ablasskritik in einer zugleich kontritio-nistischen und sakramentsskeptischen bußtheologischen Linie lokalisieren will, die in der Frühscholastik (Abaelard) ihren An-fang genommen habe. Auch hier waltet also das Bestreben, den Ablass, aber auch Luthers Kritik an ihm einzuordnen in ein integra-tives Gesamtverständnis mittelalterlich-papstkirchlichen Chris-tentums.
Ob und inwieweit Hamm und Leppin jeweils den innovatorischen Gehalt und die transformative Dynamik von Luthers neuem Denken mit der genügenden Schärfe und Präzision gefasst haben, muss andernorts diskutiert werden. Deutlich ist so viel: Sie zeigen, dass Luthers Ablasskritik samt der aller Späteren notwendig formal ungerecht ist, weil sie auf neuartigen kategorialen Prämissen beruhte, von denen Ablasstheoretiker und -praktiker zwischen dem 11. und dem frühen 16. Jh. nichts ahnen konnten.