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Ausgabe:

Mai/2019

Spalte:

463–464

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

McKnight, Scot

Titel/Untertitel:

The Letter to the Colossians.

Verlag:

Grand Rapids u. a.: Wm. B. Eerdmans 2018. LX, 442 S. = The New International Commentary on the New Testament. Geb. US$ 55,00. ISBN 978-0-8028-6798-8.

Rezensent:

Joel White

Ein Jahr, nachdem Scot McKnight, Professor für Neues Testament am Northern Seminary in Lisle (nahe Chicago), USA, in der renommierten amerikanischen Reihe New International Commentary on the New Testament einen Philemon-Kommentar veröffentlichte, erscheint nun in derselbe Reihe sein Kolosser-Kommentar. Das Werk spiegelt markante Trends in der angelsächsischen Kolosser-Forschung wider, darunter eine neue Offenheit für die Möglichkeit, dass der Kol von Paulus stammt (vgl. dazu P. Foster, Colos-sians, BNTC, London 2016, 67), dass der Brief nicht in Rom, sondern in Ephesus geschrieben worden ist und dass die Lehre, die der Autor im Brief bekämpft, mehr oder weniger gänzlich jüdischer Herkunft ist. (Ich bin neuerlich völlig unabhängig von McK. zu denselben Ergebnissen gekommen; vgl. Joel White, Der Brief des Paulus an die Kolosser, HTA, Witten/Gießen 2018, 16–50.)
Kolosserforscher kennen das Für und Wider hinsichtlich der Frage nach der Verfasserschaft des Briefes. Die deutsche Forschung ist Bujard in seiner Überzeugung, der Stil des Kol sei eindeutig deuteropaulinisch, größtenteils gefolgt; neuere stilometrische Untersuchungen verweisen auf methodische Vorbehalte, die ein solches Ur­teil erschweren. Der allgemeine Konsens ist, dass die Theologie des Kol zu fortgeschritten sei, um von Paulus zu stammen; aber alte und neue Stimmen warnen vor den Fehl- und Zirkelschlüssen, denen Datierungsthesen aufgrund von vermeintlichen, aber nicht beweisbaren (d. h. nicht falsifizierbaren) theologischen Entwicklungen all zu leicht unterliegen. McK. geht hier anders vor und fordert die Forschung heraus, sich mit neueren Einsichten zur Abfassung von Briefen in der Antike im Allgemeinen und den Paulusbriefen im Besonderen auseinanderzusetzen. Er argumentiert, dass das Corpus Paulinum keinen einzigen »pure Pauline« Brief beinhalte, an dem wir die anderen Briefe messen können.
Alle Paulinen, auch die Hauptbriefe, verrieten den Einfluss anderer Personen auf das Endprodukt: »[W]hat we have in each of the letters attributed to Paul is Paul and his coworkers and a secretary or two, and some discussions and some drafts and contributions by one or more in varying degrees.« (8–9) Der Kol könne somit den gleichen Anspruch erheben, paulinisch zu sein, wie jeder andere dem Apostel zugeschriebene Brief im Neuen Testament auch. McK.s Ausführungen sind überlegenswert, aber sie kratzen leider nur an der Oberfläche dieser vielversprechenden Forschungsrichtung. Vielleicht war eine gründlichere Analyse im Rahmen dieser Reihe nicht möglich, denn sie vermeidet bewusst technische Diskussionen jeglicher Art. Trotzdem bleibt McK. seinen Lesern eine tiefergehende Analyse in dieser Hinsicht schuldig.
In der Frage des Abfassungsdatums und -ortes des Kol folgt McK. einer wachsenden Minderheit in der Forschung, die (insofern sie den Kol für paulinisch hält) die traditionelle Auffassung, der Brief sei 60–61 n. Chr. während der römischen Gefangenschaft geschrieben, hinterfragt und eine Abfassung 53–55 n. Chr. während des Aufenthaltes des Apostels in Ephesus vorzieht. Zwar gibt es keine sicheren Beweise dafür, dass Paulus in Ephesus gefangen gehalten wurde, aber er spricht in 2Kor 6,5; 11,23 – also vor seinen längeren Gefängnisaufenthalten in Cäsarea und Rom – davon, dass er mehrmals im Gefängnis war. Zumindest vorstellbar ist dies für Ephesus. Auch hier wäre eine gründlichere Analyse wünschenswert gewesen. Es ist nämlich nicht ausreichend, auf die oft unterschätzte Problematik einer römischen Provenienz des Kol hinzuweisen, sondern es müssen auch die ernstzunehmenden Einwände gegen Ephesus als Abfassungsort besprochen werden. Diese scheinen McK. zu wenig bewusst zu sein.
Ausführlich und überzeugend hingegen ist McK.s Diskussion der Lehre der Gegner in Kolossä. Er pflichtet neueren Studien bei, die den Hintergrund der kolossischen »Irrlehre« – der Begriff ist umstritten, leistet aber einen befriedigenden Dienst als Beschreibung der Sicht des Autors des Kol (vgl. White, Kolosser, 35, Anm. 1) – in mystisch angehauchten Strömungen des Frühjudentums orten (vgl. u. a. Dunn, Sappington, Smith). Er stellt sich somit gegen die Neigung einer früheren Forschergeneration, die kolossische Irrlehre als synkretistische Mischung jüdischer Gesetzesobservanz mit »Elementen« der hellenistischen philosophischen Schulen (so ihre Deutung der στοιχεῖα) zu interpretieren. McK. ist m. E. darin zuzustimmen, denn solche synkretistischen Glaubensrichtungen sind zu diesem Zeitpunkt für Kleinasien nicht historisch greifbar. Es ist auch nicht nötig sie zu postulieren, um die Bestandteile der Irrlehre adäquat zu beschreiben, solange man die Vielfalt frühjüdischer Frömmigkeit beachtet und ihre Ausdrucksformen nicht an einem anachronistischen Standard jüdischer Orthodoxie be­misst. Auf dieser Basis gelingt es McK. einerseits, ein kohärentes Bild der Gegner in Kolossä zu zeichnen, und andererseits, den Ko­losserbrief als genuin paulinische Antwort auf diese Lehre zu interpretieren.
Im exegetischen Teil des Kommentars fällt erneut auf, dass die Analyse oft zu kurz kommt (wiederum ist dies vermutlich den Vorgaben der Reihe geschuldet). Exegetische Optionen werden aufge-listet und eine davon gewählt, aber nicht immer werden diese Entscheidungen zufriedenstellend begründet. Ganz dem Mainstream entsprechend hält McK. den Christushymnus für ein Stück hellenis-tischer Weisheitspoesie. Gordon Fees starkes Gegenargument sowie andere Voten, etwa Christian Stettlers These zur Anlehnung an die jüdische Berekah-Tradition, werden nicht erwogen. In seiner Diskussion der Haustafel ist McK. bemüht zu zeigen, dass Paulus die Bildung einer tragfähigen christlichen Identität vorantreiben will, die die Gemeinschaft einerseits auf neue Wege führt, aber gleichzeitig ihre Grenzen aufzeigt. Heutzutage wird selten gefragt, ob dies dem Apostel in seinem Kontext gelungen ist; zu schnell drängen sich die Fragen nach der Anwendbarkeit der Haustafel in unserer egalitären Gesellschaft auf. Auch McK. vermeidet nicht ganz einen moralisierenden Ton in Bezug auf Auseinandersetzungen zwischen »egalitar-ians« und »complementarians« in der nordamerikanischen evange-likalen Szene, an der er auch (auf der Seite der »egalitarians«) beteiligt ist. Er bemüht sich aber redlich, Paulus zunächst in seinem Kontext zu verstehen, statt ihn einfach aufgrund moderner Selbstverständlichkeiten zu verurteilen – was der englische Historiker E. P. Thompson treffend als »the enormous condescension of posterity« bezeichnet hat.
Insgesamt kann man McK. bescheinigen, einen Kommentar verfasst zu haben, der vor allem neuere angelsächsische Forschungsergebnisse widerspiegelt und aktuelle theologische und ekklesiologische Auseinandersetzungen im nordamerikanischen Kontext rezipiert. Auch wenn er selbst keine neuen Wege beschreitet, ist sein Werk in dieser Hinsicht nützlich.