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Ausgabe:

Mai/2019

Spalte:

455–457

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Barclay, John M. G.

Titel/Untertitel:

Paul and the Gift.

Verlag:

Edinburgh: Alban Books (Grand Rapids: Wm. B. Eerdmans) 2017. XVI, 656 S. Kart. US$ 55,00. ISBN 978-0-8028-7532-7.

Rezensent:

Karl-Wilhelm Niebuhr

Die zuerst im Jahr 2015 erschienene Paulus-Monographie von John M. G. Barclay hat bereits erhebliches Echo in der Paulus-Forschung gefunden. Die Paperback-Ausgabe von 2017 bietet Gelegenheit, das Buch auch in der ThLZ vorzustellen. Zahlreiche Vorarbeiten dazu, die 2011 in einem WUNT-Sammelband erschienen waren, wurden hier bereits kurz angezeigt (ThLZ 137 [2012], 540 f.). B.s Monographie zum Galaterbrief (Obeying the Truth, Edinburgh 1988) war von Otto Merk besprochen worden (ThLZ 118 [1993], 225–227).
Das Buch stellt nicht weniger dar als den Versuch, den Zentralbegriff der paulinischen Theologie »Gnade« auf eine neue exegetische und hermeneutische Basis zu stellen. Indem dieser seit der Spätantike und bis heute stark durch ein bestimmtes Verständnis der paulinischen Theologie geprägte Begriff schon im Titel durch den Terminus »Gabe« ersetzt wird (im Englischen gift statt grace), soll die Fixierung der Deutungsperspektive der paulinischen Theologie auf eine »westliche«, späterhin europäisch-neuzeitliche Engführung des Denkens aufgebrochen und auf ein stärker durch die antiken semantischen Horizonte sowie die kultur-, sozial- und religionsgeschichtlichen Zusammenhänge bestimmtes Verständnis der paulinischen Texte hin geöffnet werden. In dieser Intention scheinen sich B.s Ansatz und Ziel mit den Anliegen und Zugängen der so genannten New perspective on Paul zu treffen, der es ja, grob gesagt, auch darum ging, die paulinische Theologie aus einem westlich-neuzeitlichen introspective view (K. Stendahl) und einer ›lutherischen‹ Engführung (E. P. Sanders) zu befreien. Allerdings grenzt sich B. in seiner eigenen Argumentation nicht weniger deutlich von den Hauptvertretern der New perspective wie von denen der klassischen protestantischen Paulusexegese ab. Ihm geht es darum, einen eigenen Weg der Paulus-Auslegung zu bahnen und zu begehen, der die Stärken ebenso wie die Schwächen beider Grundtypen der Paulus-Interpretation kritisch reflektiert. Mit der New perspective betont B. den Ursprungszusammenhang der Aussagen zu Glaube und Rechtfertigung in der paulinischen Mission von Nichtjuden und ihrer Einbindung in die endzeitliche Heilsgemeinschaft Israels mit seinem Gott und wendet sich gegen die antithetische Gegenüberstellung der paulinischen gegen eine »jüdische« Theologie. Kritisch beurteilt er deren Einengung der theologischen Relevanz der paulinischen Aussagen auf soziologische Fragen der frühesten Missionsgeschichte und ihre mangelnde Re-flexionstiefe im Blick auf die paulinische Anthropologie und Theologie. An der klassisch-protestantischen Paulusdeutung kritisiert B. eine auf innerchristliche Rezeptionsstufen der paulinischen Rechtfertigungsaussagen (Augustinus, Luther) zurückgehende Eingrenzung ihrer Relevanz, die deren ursprünglichen Israel-Bezug verloren gibt, teilt mit ihr aber die Sicht, dass in den Aussagen zum Christusgeschehen die entscheidende theologische Innovation des Paulus zu finden ist, die in seinen Briefen mit dem Wortfeld »Gabe« benannt wird.
Das Programm wird in drei großen Schritten durchgeführt, deren dritter in zwei Abschnitte unterteilt ist: Der erste Hauptteil (The Multiple Meanings of Gift and Grace) legt die methodischen und forschungsgeschichtlichen Grundlagen, der zweite (Divine Gift in Second Temple Judaism) zieht zentrale frühjüdische Texte zum Vergleich heran, der dritte und vierte behandeln die einschlägigen Passagen aus dem Galater- (The Christ-Gift and the Recalibration of Worth) und dem Römerbrief (Israel, the Gentiles, and God’s Creative Gift).
Seinen Ausgangspunkt nimmt B. bei dem Soziologen und Ethnologen Marcel Mauss und seinem Essay sur le don (1925), lässt aber diesen »Aufhänger« bald hinter sich, um sich den Zusammenhängen von Gabe und Gegengabe in der antiken griechisch-römischen Kultur zuzuwenden. Diesem für die gesamte Antike grundlegenden Prinzip der Sozialgemeinschaft stellt er The Emergence of the Western »Pure« Gift (51) gegenüber, eine Entwicklung, die er mit gesellschaftlichen Veränderungen in der Neuzeit wie Urbanisierung, Massenproduktion, modernen Besteuerungssystemen und Demokratisierung verbindet. Durch Kant sei das Ideal der reinen Gabe ohne Gegenleistung auf die Ebene der universalen Moralphilosophie gehoben worden.
Zentrale Bedeutung für den Fortgang seiner Untersuchung hat ein Zwischenschritt, bei dem B. sein Verständnis von Gabe definiert (The Perfections of Gift/Grace, 66–78). Hier entwickelt er eine Art Taxonomie, mit deren Hilfe er später die unterschiedlichen antiken Texte, in denen von Gabe/Gnade die Rede ist, vermessen und miteinander vergleichen wird. Entscheidend ist dabei, dass er den Begriff Gabe/Gnade nicht anhand eines semantischen Merkmals erfassen und definieren möchte, sondern sechs verschiedene se­mantische Elemente beschreibt, die sich in jeweils unterschiedlichem Grade bei der konkreten Verwendung der Begrifflichkeit beobachten lassen. Da diese Terminologie sich nicht leicht und klar verständlich übersetzen lässt, nenne ich hier die englischen Ausdrücke, mit denen B. das Bedeutungsfeld von Gabe/Gnade erfassen und vermessen möchte: superabundance, singularity, priority, in-congruity, efficacy, non-circularity. Je nach Text und Kontext ist also im Einzelnen zu überprüfen, ob Aussagen z. B. stärker die Unermesslichkeit einer Gabe herausstreichen wollen oder ihre Einzigartigkeit, ob sie ihren Vorrang vor dem Tun des anderen bzw. ihr Vorangehen betonen oder ihre Unvergleichbarkeit, ihre (Allein-)Wirksamkeit oder ihren Geschenkcharakter ohne Gegenleistung. Der Vorteil einer solchen differenzierten Taxonomie besteht darin, dass sie flexibel auf sehr unterschiedliche Aussagezusammenhänge an-gewendet werden kann, ohne diese über einen Kamm zu scheren. Nicht jede Verwendung der Begrifflichkeit muss daran gemessen werden, ob sie einem oder gar allen sechs Bedeutungselementen von Gabe/Gnade vollkommen gerecht wird (d. h. als perfection of gift/grace), sondern jeder konkrete Text kann in einem breiteren Spektrum von Aussagemöglichkeiten zum Wortfeld Gabe/Gnade präziser eingeordnet werden.
Bevor nun dieser methodische Ansatz in den exegetischen Hauptteilen des Buches auf die frühjüdischen und paulinischen Texte angewendet wird, folgt erst noch ein sehr ausführliches und gründliches Kapitel zu Modellen der Auslegungsgeschichte der paulinischen Theologie (Interpreting Paul on Grace: Shifting Patterns of Perfection, 79–182). Die hier behandelten Positionen (Markion, Augustinus, Luther, Calvin, von Barth bis J. L. Martyn, Sanders und die New perspective, neueste Stellungnahmen zu Paulus und Gnade) stehen aber nicht als Forschungsgeschichte für sich, sondern dienen dazu, die zuvor entworfene Taxonomie des paulinischen Gnadenverständnisses anhand der genannten Auslegungstypen zu überprüfen. In diesem Sinne werden sie auch später immer wieder zum Vergleich herangezogen, wenn frühjüdische oder paulinische Texte mit dieser Methodik analysiert worden sind. Auf diese Weise entsteht ein enges Netz von Textbefunden und Interpretationsmöglichkeiten, und Textanalyse und Auslegungsgeschichte erscheinen eng miteinander verknüpft.
Der zweite Hauptteil bietet Analysen zu fünf ausgewählten frühjüdischen Schriften bzw. Autoren (Sapientia Salomonis, Philon, 1Q-Hodayot, Liber Antiquitatum Biblicarum, 4Esra). Es zeigt sich, wie zu erwarten, dass diese frühjüdischen Stimmen nicht nur untereinander divers und zuweilen inkompatibel sind, sondern dass sie sich auch nicht auf ein Grundmodell reduzieren lassen, wie es etwa E. P. Sanders unter dem Stichwort covenantal nomism kreiert hatte (»Sanders is right that grace is everywhere; but this does not mean that grace is everywhere the same.«, 319). Gerade die Vielfalt der Konzeptionen von Gabe/Gnade im Frühjudentum eröffnet aber die Möglichkeit, nun auch Paulus mit seiner sehr spezifischen Weise, von Gnade zu sprechen, genauer in ein solches frühjüdisches Meinungsspektrum einzuordnen (Placing Paul in the Mix, 321–328).
Diesem Ziel sind die beiden letzten Hauptteile des Buches gewidmet. Sie bieten eine Interpretation weiter Teile des Galater- und des Römerbriefes, die hier auch nicht ansatzweise nachgezeichnet werden kann. Im Blick auf den Galaterbrief stechen heraus »the radical implications of the Christ-gift, which was given without regard to worth (ethnic, social, or other)« (443), woraus sich in der Konsequenz die Bildung innovativer Gemeinschaften von Juden und Nichtjuden ergab, für die Paulus mit seinem Brief theologisch streitet, indem er das Wertesystem der Tora in seiner Relevanz für diese Gemeindebildung grundsätzlich ablehnt. Im Blick auf den Römerbrief ermöglicht es B.s Ansatz, gerade die Kapitel 9–11 als konsistenten und in sich kohärenten Argumentationsteil zum Erweis des souveränen Gnadenhandelns Gottes gegenüber seinem Volk Israel und allen Menschen im Christusgeschehen verständlich zu machen.
Das Buch führt die aktuelle Fachdiskussion um die paulinische Theologie erheblich weiter und aus manchen Sackgassen heraus, in die man sich zwischen der ›lutherischen‹ Paulusdeutung und der New perspective on Paul verfahren kann. Damit bietet es auch denen exegetische und theologische Wegweisung, die nicht selbst mit allen Richtungen vertraut sind, die in der jüngeren Paulusforschung so gefahren werden. Deren Dokumentation ist in B.s Buch breit und differenziert; die wesentlichen Positionen der interna-tionalen Paulusforschung – mit umfassender Einbeziehung älterer und neuerer deutsch- und französischsprachiger Arbeiten – werden berücksichtigt und kritisch gewürdigt. Leicht und schnell zu lesen ist das Buch freilich nicht, was möglicherweise dazu führen könnte, dass es nicht in dem Maße, wie es wünschenswert wäre, gerade auch von Nichtspezialisten der Paulusforschung zur Kenntnis genommen wird.