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Ausgabe:

Mai/2019

Spalte:

439–442

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Middelbeck-Varwick, Anja

Titel/Untertitel:

Cum aestimatione. Konturen einer christlichen Islamtheologie.

Verlag:

Münster: Aschendorff Verlag 2017. 387 S. Kart. EUR 56,00. ISBN 978-3-402-13169-5.

Rezensent:

Friedmann Eißler

Der Titel (Nostra Aetate 3) zeigt die theologische Positionierung an: »Mit Wertschätzung und Hochachtung« soll das Bewusstsein für das Verbindende in Christentum, Islam und auch dem Judentum gestärkt und der »bisherigen dogmatischen Geringschätzung« (10) gegenüber dem Islam entgegengewirkt werden. Die monotheistischen Religionsgemeinschaften müssten gesellschaftlich deutlich werden lassen, dass ihr Bekenntnis nicht zu Gewalt und Konflikten führt, sondern zu Versöhnung und friedlichem Miteinander. Unter »grundlegend veränderten Vorzeichen« will die vielfältig im christlich-islamischen Dialog engagierte und in Flensburg katholische Theologie (Vertretung) lehrende Vfn. die tradierten kontroverstheologischen Fragestellungen dialogisch neu angehen. Anja Middelbeck-Varwick tut das in fünf Kapiteln, von denen das letzte aus sieben knapp ausgeführten Thesen besteht. Dem Buch, das im Zuge eines Habilitationsverfahrens entstand, ist (nur) ein Literaturverzeichnis beigegeben.
Die Einführung widmet sich Nostra Aetate 3 als »Magna Charta des Dialogs«, die für die christlich-islamischen Beziehungen eine Wende weg von der polemischen Abgrenzung hin zur Betonung von Gemeinsamkeiten und zum Dialog auf Augenhöhe bedeutet. Vorgeschlagen wird in den »religionstheologischen Grundlegungen« (II) ein »wechselseitiger (mutualer, reziproker) Inklusivismus«, der im Anschluss an Michael Bongardt und vor allem Reinhold Bernhardt nachgezeichnet wird. Er wird mit kritischen An-fragen von Seiten der Komparativen Theologie konfrontiert, deren Stärken einerseits gewürdigt werden, ohne andererseits die Wahrheitsfrage zu verabschieden. Mit Bernhardt werden mutualer Inklusivismus und Komparative Theologie komplementär verstanden. Endgültig zu verabschieden sei die selbstbezogene Ab­grenzung und Überbietungslogik, nicht aber der Bezug auf das Christusereignis als Maßstab zur interreligiösen Relationierung (das für alle Menschen »absolute Bedeutung« hat, 355!). Das zu etablierende Prinzip der Gegenseitigkeit interreligiösen Verstehens setzt das empathische Hineinversetzen in den Anderen voraus und das Aufspüren dessen, was in der anderen Religion »wahr und heilig« ist. Ebenso aber auch die Einsicht in die Universalität der Zuwendung Gottes zu allen Menschen, was impliziert, dass die Verkündigung des Eigenen (im Modus der Einladung) im Dialog der Religionen Platz hat; von daher »bedeutet Dialog dann auch Sendung, eine Mission, die lernoffen für das ist, was ihr begegnet« (67). Mission spielt immer wieder eine Rolle, in den Thesen am Schluss etwas prägnanter als sonst. Ohne den Begriff genauer zu klären, wird er als Bezeugen unter gleichberechtigten Partnern ohne Bekehrungsintention interpretiert.
Ein neuer und eigener Akzent ist die dezidierte Einbeziehung des christlich-jüdischen Gesprächs bzw. der christlichen »Israeltheologie« in das theologische Verstehen des Islam. Die Reflexion des Verhältnisses der verschiedenen – bisher weitgehend unverbundenen – Dialoge hat in den letzten Jahren größeres Gewicht erhalten. Dadurch rückt zum einen die Einzigartigkeit des Verhältnisses zum Judentum in den Blick (»deutlich eine ganz andere Differenz«, 224), zum anderen die Notwendigkeit, eine Kongruenz – und damit dogmatische Kohärenz – zwischen Argumentationsweisen und Positionierungen (z. B. der eine Gott, Christologie) in beiden Dialogzusammenhängen herzustellen. »Israeltheologie« muss Sensibilität für andere Religionen aufweisen, Religionstheologie darf das besondere Verhältnis zum Judentum nicht übergehen. Im Blick auf den Islam ist die Israeltheologie vorzuordnen (zentral ist das »kanontheologische Argument«, 78), ohne deren Erkenntnisse einfach als funktionale Schablone anzulegen. Wie schwierig das im Einzelnen ist, zeigt sich im Lauf der Untersuchungen verschiedentlich, z. B. wenn gefordert wird, dass Muslimen endlich zugestanden werden sollte, was dem Judentum zugebilligt wird (Ablehnung der Trinität, 224 – wo der treffende Einwand F. Körners zitiert, aber abgewiesen wird; s. a. 145). Es soll die Bedeutung Israels nicht eingeebnet, aber doch vor allem nicht mit zweierlei Maß gemessen werden.
Kapitel III beschäftigt sich mit »offenbarungstheologischen Statusfragen«. Die Offenbarungsschrift (Koran) sowie die Offenbarungsmittler (Jesus, Muhammad, auch Mose) werden ausführlich sowohl aus islamischer wie aus christlicher Sicht beleuchtet. Ziel ist »inkludierendes Verstehen«, d. h. die unvermittelbaren Gegensätze sollen methodisch hinter das »Annehmbare« (das »Wahre und Heilige« der anderen Religion) zurücktreten, um auf diese Weise neue Gesprächsfäden zu finden. So sei aufgrund des Christuskriteriums gegenüber dem Koran wie auch gegenüber der Anerkennung Muhammads als Prophet zwar deutlich Distanz zu wahren, zugleich stehe vieles der christlichen Lehre nicht nur nicht entgegen, sondern könne die Christusbeziehung vertiefen helfen (z. B. der koranische Aufruf, der Mächtigkeit Gottes zu trauen, Dienst und Demut zu erlernen, 212; Sure 1 ist komplett christlich »an­nehmbar«, 114). Bis zu Spitzenaussagen wie der, dass »auch in der Tradition des islamischen Propheten möglicherweise der Gott gesucht und erkannt werden [kann], der sich in Christus geoffenbart und sich allen Menschen zugesagt hat« (210; mit Bezug auf Wilfred C. Smith, 112). Gleichrangig mit dem Christusereignis sei der Koran nicht, aber gerade die universale Maßgeblichkeit Christi lasse annehmen, dass im Koran Wahres und Heiliges aufscheine, der mithin ein »islamisches Gesprächsangebot« sei, dem man ohne falsche Rechthaberei begegnen sollte (109 f.). Andererseits wird das Christusereignis gerade nicht als ausschließliche Vermittlungsinstanz der Gnade Gottes, sondern repräsentativ als concretum universale verstanden, die Soteriologie hingegen nicht auf einen be­stimmten Ereignisraum begrenzt (mit Bernhardt, 145.356). Von daher kann Muhammad als ein »Ort der Begegnung« von Christen und Muslimen anerkannt werden (gegen C. Troll, 153.210 f.), der in seiner Originalität und in seinem »Glaubenszeugnis als Verweis auf den einen Gott« zu deuten ist. Es verwundert gleichwohl, dass die Historizität der Quellen in Bezug auf Muhammad überhaupt nicht angesprochen wird (166–175: Sīra und Sunna). Angesichts der komplexen Problematik wäre die unmittelbare (unkritische) Rezeption der Quellen zumindest als solche anzuzeigen.
Vier komparative Einzelstudien zu gewichtigen Themen enthält Kapitel IV: zur Gotteslehre, zur Gebetstheologie (ohne interreligiöses Gebet), zu Abraham/Ibrahim (Selbigkeit Gottes) sowie zur Bedeutung der Glaubensgemeinschaft (Kirche/Umma) und ihrer globalen Verantwortung (Ethik am Beispiel Armut). Es werden die Unterschiede der Gottesverständnisse klar benannt, gleichzeitig die Übereinstimmung der koranischen Gottesaussagen »mit einem Großteil der Bilder und Vorstellungsweisen« der Bibel festgestellt (228). Im Koran begegne Offenbarung des stets größeren Gottes »in anderer Gestalt und zu anderer Zeit«. Man sollte gewillt sein, an­nehmbare »Momente« der Verkündigung Muhammads zu »integrieren« (210), auch wenn christlicher Beurteilung entzogen bleibt, ob Gott zu Muhammad gesprochen hat (211). Ausgeschlossen werden muss »allein, dass Gott sich als ein anderer offenbaren kann, als der er sich in Jesus Christus gezeigt hat« (227, mit Bongardt). Folgerichtig muss die traditionelle islamische Auffassung der Trinität als »Beigesellung« ein »Missverständnis« sein (221).
Diese Zusammenstellung ist verkürzend und exemplarisch zu­gespitzt, aber die entstehenden Spannungen lassen sich ahnen. Sie hängen mit der Voraussetzung der eindeutigen Selbigkeit Gottes zusammen, die schwer ohne Widersprüchlichkeit zu denken (und zu leben!) ist, wenn denn die jeweiligen Selbstverständnisse ohne Reduktionen (so der Anspruch) ernstgenommen werden sollen und außerdem ein »Schnittmengenmodell« abgelehnt wird (222).
Damit ist eine Reihe von interessanten Aspekten und wichtigen Impulsen in diesem Buch noch nicht angesprochen. Die Konturen einer Islamtheologie und ihrer Aufgaben sind in ihm klar umrissen, darunter hervorgehoben die Verhältnisbestimmung zur Israeltheologie. Die Durchdringung ihrer Topoi indes bleibt dem Dialog und weiterer Arbeit aufgegeben, wie die Vfn. an vielen Stellen ihrer Untersuchungen selbst anmerkt.
Im Übrigen kann man auf die Kalligraphie-Kunstwerke von Shahid Alam, deren eines auf dem Umschlag abgebildet ist, nur mit empfehlendem Nachdruck hinweisen.