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Ausgabe:

Mai/2019

Spalte:

438–439

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Kalbarczyk, Nora

Titel/Untertitel:

Sprachphilosophie in der islamischen Rechtstheorie. Zur avicennischen Klassifikation der Bezeichnung bei Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī (gest. 1210).

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2018. 292 S. = Islamic Philosophy, Theology and Science. Texts and Studies, 103. Geb. EUR 99,00. ISBN 978-90-04-36632-9.

Rezensent:

Tilman Nagel

Seit der Wende zum 9. Jh. n. Chr. gewinnt in der islamischen Welt die Überzeugung die Oberhand, dass das Recht sich nicht an innerweltlichen Kriterien und an dem diese durchdringenden juris-tischen Sachverstand ausrichten dürfe. Es müsse vielmehr dem Gesetzeswillen Allahs Genüge tun, der unmittelbar im Koran und mittelbar im Hadith vorliege. Rechtsgelehrsamkeit wandelt sich zur Suche nach Einsicht, arabisch fiqh, in die normativen Mitteilungen der beiden genannten Quellengattungen. Deren diesbezügliche Aussagen sind naturgemäß begrenzt, wohingegen die Zahl der juristisch zu bewertenden Sachverhalte unbegrenzbar ist. Bis zum Ende des 11. Jh.s hoffte man, dieses Problem vorzugsweise mit Analogieschlüssen zu lösen, musste sich freilich eingestehen, d ass deren Ergebnisse äußerst widersprüchlich ausfallen konn-ten. Da lag es nahe, Hilfe bei der auf Aristoteles zurückgehenden Sprachphilosophie zu suchen. Diese war von Avicenna (gest. 1037) bearbeitet worden. Unter den Rechtsgelehrten, die sie aufgriffen und ihren Zielen anpassten, ragt Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī hervor. Seinem diesbezüglichen Schaffen ist die vorliegende Doktorarbeit gewidmet.
Des Näheren untersucht Nora Kalbarczyk die wichtigste Frage dieses Themenkreises, die Frage danach, was ein Wort bzw. eine in Sprache gefasste Sinneinheit bezeichne. Unter Bezugnahme auf Avicenna entfaltet sie ar-Rāzī in seinem rechtstheoretischen Werk: Auf dreierlei Art vermöge ein Wort etwas zu bezeichnen, nämlich in vollständiger Kongruenz mit dem Bezeichneten, sodann gemäß Inklusion und gemäß Implikation. Letztere ist für den fiqh besonders fruchtbar. Ar-Rāzī betont, dass die schariatische Gelehrsamkeit bei der juristischen Erschließung der beiden erwähnten autoritativen Textgattungen den Verstand nutze, aber eben nur im Rahmen ihrer inhaltlichen Vorgaben. Ein von ihnen unabhängiger Einsatz des Verstandes zum Zwecke der Schaffung von »menschengemachten« Rechtsnormen ist nicht gestattet.
Den Kern dieser Dissertation bildet die Auseinandersetzung mit der Passage in ar-Rāzīs rechtstheoretischem Werk, die sich mit der Dreiheit der Wortbezeichnungen beschäftigt. K. übersetzt diese Passage und legt dar, welche Stelle sie innerhalb dieses Werkes einnimmt: Sie ist bei ar-Rāzī zu einem unentbehrlichen Teil des Rüstzeugs des Schariagelehrten geworden. Bei Avicenna, auf dem ar-Rāzī fußt, hatte sie diese Funktion nicht. Sie war vielmehr ein Teilbereich der Logik, um dessen Klärung Avicenna, wie K. zeigen kann, lange rang. Al-Ġazālī (gest. 1111) erkannte die Bedeutung, die die avicennasche Bezeichnungslehre für die Schariagelehrsamkeit habe, wollte die Fachkenner aber noch nicht verpflichten, sie sich anzueignen.
Die Schariagelehrten vor ar-Rāzī stützten sich bei der Erschließung der gottgegebenen Normen auf die Erkenntnisse der Grammatiker. Ar-Rāzī lässt dieses Verfahren nicht fallen; er untermauert es vielmehr durch die avicennasche Lehre, die bei ihm zu einem unaussonderbaren Element der Auslegung der einschlägigen Aussagen von Koran und Hadith wird. Hierbei kann es sich freilich nicht um die Bedeutung einzelner Wörter handeln, sondern in aller Regel um komplexe, »zusammengesetzte« Aussagen.
Was diese implizieren können, unterscheidet er in mehreren Kategorien. Es kann erstens eine notwendige Voraussetzung sein, bei deren Vorliegen die Aussage gilt. Diese muss mit dem Verstand erschlossen werden. So setzt Mohammeds Ausspruch: »Von meiner Gemeinde wurden Irrtum und Vergessen genommen« den Verstandesschluss voraus, dass es dem Propheten einzig um den Irrtum in Sachen der Scharia gegangen sei.
Laut Sure 2, Vers 187, ist in den Nächten des Ramadan der Geschlechtsverkehr erlaubt, bis man im Morgengrauen einen schwarzen von einem weißen Faden unterscheiden kann. Heißt das nun, dass man die rituelle Reinheit zu diesem Zeitpunkt wiederhergestellt haben muss, damit das Fasten ritualrechtlich gültig ist, oder darf man das Fasten wieder aufnehmen und nun erst sich reinigen? Ar-Rāzī liest den Koranvers genau und entdeckt in ihm eine Implikation mittels Andeutung: Es müsste ausdrücklich gesagt sein, dass die Lizenz zum Beischlaf schon vor dem genannten Zeitpunkt endet. Da dies nicht der Fall ist, muss die Wiederaufnahme des Fastens ohne die vorherige Reinigung statthaft sein.
Besonders schwierig ist die Frage der Implikation mittels eines Umkehrschlusses. Wenn ein Hadith besagt: »Für freiweidende Schafe ist die Zakat-Abgabe zu erlegen«, darf man dann daraus folgern, dass sie für im Stall gefütterte entfällt? Hier hilft die Lehre von den Arten der Bezeichnung allein nicht weiter. Denn einerseits könnte man argumentieren, dass »freiweidend« der Grund für die Besteuerung sei; entfalle dieser, dann entfalle auch der Grund für die Besteuerung, so dass von einer Implikation durch einen Um­kehrschluss nicht die Rede sein dürfe. Andererseits könne man behaupten, das Gebot der Besteuerung freiweidender Schafe sei lediglich eine von Mohammed ausgesprochene Spezifizierung des allgemeinen Gebots, Schafe zu besteuern. Angesichts derartiger Ungewissheit möchte ar-R āzī festhalten, dass in aller Regel eine Implikation durch einen Umkehrschluss unzulässig ist, sofern er Annahmen voraussetzt, von denen die autoritative Aussage schweigt. Allerdings gelte dies nicht immer und grundsätzlich, aber ar-Rāzī zeigt erhebliche Skepsis gegenüber diesem Verfahren.
Etwas festeren Grund als mit Analogien vermögen die Schariagelehrten mit der Auslegung der Bedeutungen zu erlangen. Daher ist es verständlich, dass Epigonen ar-Rāzīs auf unterschiedliche Weise diese Methodik in ihre rechtstheoretischen Abhandlungen einbauten. K. gibt hierüber einen kursorischen Überblick. In der Gegenwart bemüht man sich, sämtliche schariatischen Entscheidungen, die überliefert sind, zusammenzutragen. Aus diesem gewaltigen Material möchte man in eklektizistischer Manier ein vereinheitlichtes Recht gewinnen, das die in manchen Staatsverfassungen erhobene Forderung erfüllt, dass der Islam eine oder die eine Grundlage des Rechtssystems sein müsse. Dieses Thema liegt aber außerhalb des Gesichtskreises dieses Buches.
Es kann in dieser Rezension nur darum gehen, vom Inhalt dieser sehr guten Doktorarbeit einen flüchtigen Eindruck zu vermitteln. Es soll deutlich werden, dass sie eine schwerwiegende Lücke in den Kenntnissen von der Geschichte der schariatischen Rechtstheorie schließt. Im Übrigen möchte ich hervorheben, dass K. im Zuge ihrer Analyse streng auf die Quellen bezogen vorgeht und sich daher auf einem sicheren Boden bewegt. In dieser Hinsicht sticht die Dissertation positiv von Arbeiten ab, die sich dieser Mühen nicht unterziehen und stattdessen Spiegelfechtereien mit der Sekundärliteratur und mit den in ihr schon viele Male wiederholten soziologischen oder politologischen Weisheiten treiben.