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Ausgabe:

April/2019

Spalte:

380–381

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Nord, Ilona

Titel/Untertitel:

Fest des Glaubens oder Folklore? Praktisch-theologische Erkundungen zur kirchlichen Trauung.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2017. 240 S. m. 9 Abb. Kart. EUR 30,00. ISBN 978-3-17-033361-1.

Rezensent:

Dörte Gebhard

Beides! Die Titelfrage wird sofort beantwortet. Die anzustrebende Komplementarität beider Aspekte wird hervorgehoben und be­gründet, obgleich man sie nicht unmittelbar mit der kirchlichen Trauung in Verbindung bringt. Alsbald werden erwartbare Di­mensionen hinzugefügt: »Für die kirchliche Trauung selbst gilt, dass sie zuallermeist als Familienfest begangen wird« (171).
Ilona Nord, Professorin für Evangelische Theologie in Würzburg mit Schwerpunkt Religionspädagogik und Didaktik des Religionsunterrichts, erkundet die kirchliche Trauung praktisch-theologisch. Eingangs (1.) führen acht Thesen vor Augen, wieviele Fragen im Wandel der Zeiten, der gesellschaftlichen und kirchlichen Rahmenbedingungen und der Beziehungsformen ihre traditionellen Antworten eingebüßt haben. Das Kapitel zu den spätmodernen Lebensformen (2.) und die »Erkundungsgänge zur theologischen Deutung von Liebe« (3.) widmen sich den gegenwärtigen Ge­schlechterverhältnissen ebenso wie aktuellsten Trends, exemplarisch den Kommunikationsritualen mit Smartphone und dem international verbreiteten Liebesschloss-Schlüsselversenken-Ritual. Man wird diese Analysen alle Jahrzehnte erneuern müssen. Spätestens nach einem Jahrhundert werden sie eine Fundgrube an Verständnishilfen für längst vergangene Zeiten sein. Für die Ge­genwart sind N.s Beobachtungen für die gesamte Praktische Theologie fruchtbar zu machen und beziehen sich keineswegs nur auf diejenige Kasualie, die derzeit am wenigsten begehrt wird. Die Studien halten mehr, als der Titel verspricht, z. B. bei den Reflexionen zum Tod (65 ff.). Trauungen kommen sodann als kulturelles Phänomen (4.) an bestimmten Orten (5.) in den Blick.
Dass die Trauung keine christliche Erfindung ist (101 ff.) und es durchaus Bezüge zwischen medial forcierten »Märchenhochzeiten« und dem Evangelium gibt (115 ff.), muss von Generation zu Generation neu erschlossen werden. N. hat weder Zeit noch Mühen gescheut, Filme, Youtube-Videos, sogar Computerspiele (119–123) auf liturgische Formen, christliche Rituale und ihren theologisch beschreibbaren Gehalt zu ›durchschauen‹.
Ein weiteres Kapitel (6.) widmet sich den beiden Medien Bibel und Musik; Letztere gilt als »wunder Punkt« (158). N. erwartet eine hohe Medien-, Moderations- und Deutekompetenz nicht nur von den Pfarrpersonen, sondern auch von der anwesenden Gemeinde, die aktiv zu beteiligen sei. Die Verheißung wirkt am Ende des Kapitels zaghaft-riesig: »Es könnte sein, dass diese Aufgabe auch theologisch Freude bereitet« (168).
Das vorletzte Kapitel (7.) »Zur Vielfalt von Traugottesdiensten: ein Beitrag zu einer inklusiven Kasualtheorie« löst sicher die meis-ten Diskussionen aus.
Gründlich und im Detail geht N. den üblichen Herausforderungen im Pfarramt nach: Traufen, Zweit- und Dritttrauungen, Segnungen unverheirateter Paare, christlich-muslimische Trauungen, Trauungen von homosexuellen Paaren und Trauungen von Paaren, die mit Behinderungserfahrungen leben, last but not least die Bedeutung von Lebensformen der jeweiligen Pfarrpersonen. Unaufgeregt werden z. B. die exegetischen Befunde und bibelwissenschaftlichen Erträge zur Wahrnehmung von Homosexualität zusammengetragen (195–199).
N. stellt in ihren kulturtheologischen Studien fest: »Wer homo- oder inter- bzw. transsexuell, nicht weißer Hautfarbe ist, mit Be­hinderungserfahrungen lebt, auch wer alt ist oder wer religiös plural orientiert ist bzw. wer einen Partner oder eine Partnerin hat, der oder die nicht einer christlichen Kirche angehört, und sich trauen lassen will, hat immer noch mit Diskriminierungen in ge­sellschaftlichen und kirchlichen Kontexten zu rechnen« (227). Ziel einer zu fördernden gesellschaftlichen Entwicklung und einer in­klusiven Kasualtheorie für die Praktische Theologie sei, dass »Vielfalt und Heterogenität nicht nur ertragen, sondern geschätzt, ge­wollt und gefördert werden« (ebd.).
Dieses Programm ist im Neuen Testament bereits angelegt. Un­übersehbar wird überliefert, dass Menschen, die an den Rändern der Gesellschaft lebten (Sklavinnen), in den christlichen Ge­meinden eine neue Identität erhielten, frei wurden von gesellschaftlichen Diskriminierungszwängen und das soziale Leben offener und gerechter wurde. Paulus’ Ausführungen in Gal 3,26–28 begründen N.s Gedankengänge. »Es ist insofern keine neue Mode [Hervorhebung im Original] oder etwa der Anpassung an eine liberalistische postmoderne Kultur geschuldet, Kasualtheorie in einen diversitätsorientierten Fokus zu setzen und inklusiv zu betreiben. Es liegt vielmehr eine Art theologisches Revisionsbedürfnis vor […]« (176).
Kontroversen, hervorgehend aus der biblischen Überlieferungsvielfalt und angesichts der stark individualisierten Ansprüche an Trauungen, sind nicht nur zu erwarten oder gar Ausdruck einer Krise (231), sondern Zeichen lebendiger Auseinandersetzung mit dem Wandel.
N. hebt den rasanten Wandel, das Einzigartige jeder menschlichen Liebesbeziehung und damit auch jeder liebevoll gestalteten Trauung so stark hervor, dass Pfarrerinnen und Pfarrer zu Recht nach Kompensation und Entlastung fragen dürften. Im pfarramtlichen Alltag – mit Blick auf ein begrenztes Zeitbudget – werden erprobte Texte und häufig gewählte Musik, bewährte liturgische Stücke und alles, was die Zeitlosigkeit der Liebe symbolisiert, weiterhin eine wesentliche Rolle spielen. Die Spannungen zwischen Versprechen und Segen, die uralte Frage nach der Treue und der Umgang mit dem Scheitern sind bleibende Herausforderungen.
Die Lektüre ist für Studierende orientierend und für Pfarrpersonen mit vielen Dienstjahren fortbildend. Alternative Sichtweisen, inwiefern etwa die Braut »Herrin des Verfahrens« (Hervorhebung im Original, 222) bleibt, auch wenn sie sich vom Vater bis zum Bräutigam führen lässt und dabei keineswegs unter einer patriarchal-problematischen Sichtweise leidet, stellen Denkgewohnheiten, seien sie dafür oder dawider, in Frage.