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Ausgabe:

April/2019

Spalte:

371–374

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Kellermann, Regine

Titel/Untertitel:

Interkulturelle Kommunikation und die Einheit der Kirche. Untersucht am Beispiel der Vielfalt im Lutherischen Weltbund.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2018. 452 S. Kart. EUR 48,00. ISBN 978-3-374-05418-3.

Rezensent:

Daniel Lenski

Der Umgang mit dem Thema menschliche Sexualität führt in der Gegenwart viele Kirchen und kirchliche Weltbünde an ihre Grenzen. Auch im Lutherischen Weltbund (LWB) wurden diese Spannungen nicht erst spürbar, als die äthiopische Mekane-Yesu-Kirche die Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft mit der Church of Sweden und der Evangelical Lutheran Church in America aufkündigte.
Regine Kellermann hat in ihrer Dissertation die Diskussion im LWB zum Thema Homosexualität als ein Beispiel interkultureller Kommunikation untersucht. Ihre Arbeit wurde von Bernd Oberdorfer, Dogmatiker an der Universität Augsburg, betreut, der selbst dem Rat des Weltbundes angehört. K. hat von 2007 bis 2016 als Referentin für Internationale Jugendbegegnung und Interkulturelle Bildung bei der Evangelischen Jugend München gearbeitet und war dabei selbst für zahlreiche Begegnungen von kirchlichen Gruppen aus verschiedenen kulturellen Kontexten verantwortlich.
K. gelingt es, die zahlreichen Aspekte zu benennen, die hinter den gegenwärtigen weltkirchlichen Auseinandersetzungen über die Themen menschlicher Sexualität stehen. Der gründlich recherchierten Darstellung dieser zentralen Themen sind die ersten zwei Drittel ihrer Studie gewidmet. So beginnt sie anhand der Themen Mission, »westliche Hegemonie«, Orientalismus und Rassismus mit einer Aufzählung der Gründe, die für grundsätzliche Verständigungsschwierigkeiten zwischen Kirchen aus verschiedenen Kulturen verantwortlich sein können (Kapitel 2). Im Anschluss zeigt sie, wie postkoloniale und konstruktivistische Ansätze dazu ermutigen, dass sich Vertreter verschiedener Kulturen in einen Dialog »auf Augenhöhe« begeben (Kapitel 3). In einem weiteren Schritt wird gefragt, ob aus den gegenwärtigen interreligiösen und ökumenischen Dialogen hilfreiche Ansätze übernommen werden können, um die zwischen lutherischen Kirchen wahrgenommenen Unterschiede bei gleichzeitiger Wahrung kirchlicher Einheit zu bearbeiten (Kapitel 4 und 5). Es folgen Ausführungen zum Verhältnis von Kultur und Religion (Kapitel 6) zur Kommunikation im Allgemeinen und zur interkulturellen Verständigung im Besonderen (Kapitel 8). Ekklesiologisch wird das Verhältnis von Einheit und Vielfalt innerhalb der christlichen Kirche thematisiert und im Hinblick auf die lutherischen Bekenntnisschriften sowie die Geschichte und Struktur des LWB anschaulich konkretisiert (Kapitel 7 und 9). Auf diese grundlegenden Kapitel folgt endlich unter der Überschrift »Interkulturelle Kommunikation im Lutherischen Weltbund« der Teil, der die Diskussion der letzten Jahre im Weltbund zum Thema Familie, Ehe und Sexualität darstellt (Kapitel 10). Die Arbeit endet mit zusammenfassenden »Schlussfolgerungen«, in denen sich K. bemüht, die vorherigen grundsätzlichen Überlegungen mit der konkreten Situation des LWB in Verbindung zu setzen.
Der Aufbau der Arbeit verdeutlicht bereits: K. ist sich bewusst, dass die gegenwärtigen Auseinandersetzungen nur unter Berücksichtigung äußerst vielfältiger Einflussfaktoren wie Kultur, Kommunikation und Hermeneutik zu analysieren sind. Wer sich mit der interkulturellen Dimension dieser Themenfelder bisher nicht auseinandergesetzt hat, wird von K. in die grundlegenden Theorien und die gegenwärtigen Diskurse der deutschsprachigen Forschung eingeführt.
Wie gegenwärtig in postkolonialen Studien üblich, legt K. zu Beginn offen, dass sie aus der Perspektive einer weißen, europäischen Frau schreibt, die beim Thema Homosexualität einen liberalen Standpunkt vertritt (18). Entsprechend verwendet sie mutig das auktoriale Ich und lässt auch ihre eigenen Erkenntnisprozesse und die Erfahrungen aus ihrer Arbeit mit Jugendlichen in die Studie einfließen (z. B. 342). Sie hält den Kirchen des globalen Nordens den Spiegel vor, wenn diese beispielsweise finanziellen Druck auf Kirchen mit anderen theologischen Positionen ausüben und damit einen Dialog »auf Augenhöhe« unterlaufen (359). Auch zeigt sie, wie allein schon durch die Übersetzungspolitik bestimmte theologische Positionen zugänglicher und damit eher im Diskurs vertreten sind als andere (82). Selbstbewusst vertritt sie eigene Überzeugungen (z. B. 44), was manchmal allerdings auch zu recht apodiktischen Aussagen führt, die nicht weiter belegt oder argumentativ dargelegt werden (vgl. 26.42.238.342.385).
Die größte Schwierigkeit der Studie besteht in der Abwesenheit einer eindeutigen Fragestellung. Dies wird bereits in der Einleitung deutlich, in der keine Auseinandersetzung mit einem Forschungsstand erfolgt, und setzt sich in den folgenden Kapiteln fort: Statt einer konkreten Frage zu folgen, werden in den ersten acht Kapiteln etwa Kultur- und Kommunikationsmodelle wie in einem Seminarreader aneinandergereiht, ohne abschließend noch einmal abgewogen zu werden. Entsprechend allgemein und unbestimmt bleiben die jeweiligen Schlussfolgerungen der einleitenden Kapitel (z. B. 223). Zu diesem unbefriedigenden Tatbestand trägt auch K.s Gliederung bei: K. entscheidet sich, neben kurzen Andeutungen zu Beginn die Situation des LWB erst gegen Ende der Studie zu erläutern. Dadurch müssen die vorhergehenden Kapitel immer wieder auf eine Thematik vorgreifen, die bisher kaum dargestellt wurde (vgl. 85.205.295).
Im anschließenden 10. Kapitel verbleibt die Schilderung des LWB-Konfliktes dann in weiten Teilen bei der Deskription und der Auswertung zahlreicher LWB-Texte. Leider bleiben die Hintergründe, die zur Entstehung der jeweiligen Texte geführt haben, wie z. B. die hintergründigen Konflikte zwischen einzelnen Akteuren, oft unerwähnt oder werden nur angedeutet (vgl. 331, Anm. 101). Gerade weil K. plausibel erläutert, dass einige Kirchen die Thematik in grundlegende familienethische Fragen einbetten, während andere sich auf die Frage des Umgangs mit Homosexualität konzentrieren, wäre eine ausführlichere Darstellung der Diskussionsprozesse innerhalb der jeweiligen LWB-Mitgliedskirchen hilfr eich gewesen. Diese sind in unterschiedlicher Intensität dargestellt und oft nur angerissen (vgl. 331, Anm. 99; 334–336.343–351). Gerade hier könnten sich etwa die Unterschiede in Kommunikationsprozessen abbilden, die zuvor in grundsätzlicher Form be­schrieben wurden.
An dieser Stelle zeigt sich die grundsätzliche Problematik der Arbeit: Geht es K. tatsächlich um die Vielfalt des LWB als Beispiel für interkulturelle Kommunikation, fällt ihre Untersuchung mit der Fokussierung auf die Thematik der Homosexualität äußerst mo-nothematisch aus. Weitere Beispiele, wie z. B. die Diskussion über das Verständnis von Rechtfertigung, werden lediglich angedeutet (311). Bei der gewählten Konzentration auf die Thematik des Um­gangs mit sexueller Diversität fallen die Darstellung und Analyse der eigentlichen Diskussion aber extrem kurz aus. In dem wichtigen elften Kapitel präsentiert K. nämlich gewinnbringend tiefergehende Erkenntnisse, wie etwa die präzise Analyse, dass sich in der gegenwärtigen Diskussion liberale und konservative Positionen gegenseitig eine kulturelle Verhaftung ihrer jeweiligen Argumentation vorwerfen, was die Schwierigkeit der Trennung zwischen »theologischen« und »nicht-theologischen« Faktoren offenlegt (409 f.). Auch ist ihr Hinweis auf die zunehmende Bedeutung des »story tellings« (408 f.) hilfreich. Doch nach knapp 300 Seiten einleitender Kapitel und knapp 100 Seiten, in denen die Situation des LWB weitgehend deskriptiv dargestellt wird, verbleiben für die eigentliche Analyse weniger als ein Zehntel der Arbeit. Dadurch kann die Anwendung der eingangs ausführlich geschilderten Konzepte auf die konkrete Problemstellung beim Lutherischen Weltbund nur andeutungsweise erfolgen.
Nichtsdestotrotz besteht der wesentliche Gewinn der Studie darin, dass es K. durch eine verständliche Sprache, konkrete Beispiele und eine klare Gliederung gelingt, einen guten Überblick über die Aspekte zu gewinnen, die mit den gegenwärtigen Auseinandersetzungen zum Thema menschlicher Sexualität zusammenhängen. Ihre Arbeit hilft, die Sensibilität für den interkulturellen Kontext zu schärfen, in dem die gegenwärtigen Auseinandersetzungen beim LWB stattfinden. Zugleich können ihre konkreten Hinweise für das Gemeindeleben, wie die inhaltliche Gestaltung von Gemeindepartnerschaften und kirchlichen Workshops (414. 419), sowie für die Gespräche innerhalb des LWB (386) hilfreich sein und mutatis mutandis auch auf zahlreiche weitere christliche Weltbünde übertragen werden.