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Ausgabe:

April/2019

Spalte:

370–371

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Hagedorn, Jonas

Titel/Untertitel:

Oswald von Nell-Breuning SJ. Aufbrüche der katholischen Soziallehre in der Weimarer Republik.

Verlag:

Paderborn: Ferdinand Schöningh 2018. 532 S. m. 2 Abb. u. 1 Tab. Geb. EUR 69,00. ISBN 978-3-506-78795-8.

Rezensent:

Andreas Fritzsche

Das Buch von Jonas Hagedorn ist die leicht überarbeitete Fassung einer Dissertation, die 2017 an der Technischen Universität Darmstadt eingereicht wurde, und richtet sich an ein Publikum, das mit dem Fachjargon der gegenwärtigen christlichen Sozialethik – insbesondere der katholischen Soziallehre – vertraut ist. Geduld muss der Leser mitbringen, denn die einführenden und vorbereitenden Teile ziehen sich bis auf S. 204 hin. Im IV. Teil werden Oswald von Nell-Breuning und sein Beitrag zur katholischen Soziallehre in den Jahren der Weimarer Republik bis zur S. 469 dargestellt. H. verfolgt zielstrebig eine Intention: »Vielleicht kann es gelingen, den solidaristischen Korporatismus als Modell einer modernen postliberalen Wirtschafts- und Sozialordnung ins Spiel zu bringen und dieses als ein möglicherweise auch heute noch taugliches Konzept […] zur Diskussion zu stellen.« (28.29)
Die ausgiebigen Vorarbeiten stellen Oswald von Nell-Breuning in den historischen und theoretischen Kontext der Weimarer Re­publik und sind schon darum hilfreich, weil die zentralen Begriffe wie Korporatismus und Solidarismus heute nicht mehr üblich sind. Auch die Akteure des Sozialkatholizismus, deren Konzepte und Konfliktzonen, sowie die politischen Konkurrenten außerhalb des katholischen Milieus werden dem Leser wohl unbekannt sein und verdienen es, dargestellt zu werden, um einen Verstehenshorizont für Nell-Breuning zu gewinnen. Interessant sind die sozialen Konzepte bzw. Staatslehren der Sozialdemokratie, die sogenannte Wirtschaftsdemokratie, und des politischen Katholizismus, welche auf die Sozialenzyklika Leos XIII. »Rerum novarum« von 1891 folgte und sich grundsätzlich an Gemeinwohl und Naturrecht orientierte. Eine Pluralität von drei Strömungen innerhalb des Katholizismus stellt H. dar und diskutiert diese durchgängig durch das ganze Buch: christlicher Sozialismus (Fritz Naphtali), Universalismus ( Wiener Schule, insbesondere Othmar Spann) und Solidarismus (Oswald von Nell-Breuning). Auch wenn der politische Katholi-zismus mit der Zentrumspartei eine der beiden staatstragenden Parteien der Weimarer Republik war, musste er gedanklich erst einmal in einer parlamentarischen Demokratie ankommen und von einem monarchischen Ständestaat Abschied nehmen.
Im Hauptteil widmet sich H. der Weiterentwicklung der katholischen Soziallehre durch Nell-Breuning, welche ihren deutlichsten Niederschlag in der Sozialenzyklika Pius’ XI. »Quadragesimo anno« vom 15. Mai 1931 fand. Dankenswerterweise werden zuerst die Sozialprinzipien Solidarität, Subsidiarität und Gemeinwohl im Kontrast zum Individualismus und Kollektivismus präsentiert. Leider fällt dieses Kapitel zu kurz aus und die Personalität kommt nicht vor. Dafür erhält die Dissertation Nell-Breunings über die Börsenmoral, die er 1928 an der Universität Münster im Fach Moraltheologie einreichte, eine ausführliche Darstellung, so dass der Leser Appetit bekommt, diese selbst zu lesen. In den weiteren Kapiteln werden Grundpfeiler der katholischen Soziallehre wie Eigentum, Entproletarisierung des Proletariats und Sozialpolitik, wie sie Oswald von Nell-Breuning verstand, wiedergegeben. Diese Kapitel sind schon deswegen interessant, weil sich diese Positionen im »sozialen Rechtsstaat« der Bundesrepublik Deutschland (Sozialversicherungen, Mitbestimmung etc.) wiederfinden. In einem abschließenden Kapitel stellt H. die Staats- bzw. Wirtschaftslehre Nell-Breunings, den »solidaristischen Korporatismus«, summarisch vor: berufsständige Ordnung, Differenzierung sowohl nach Klasse als auch nach Berufsstand und die Prinzipien (Autonomie, Gewerkschaften, Parlament, Modernität und Evolution). Der Begriff »sozial temperierte[r] Kapitalismus« fällt in diesem Zusammenhang. Dem Rezensenten kommt dabei der »rheinische[r] Kapitalismus« der Bonner Republik in den Sinn. Im Fazit wertet H. den Beitrag Nell-Breunings:
»Der Solidarismus bedarf nicht nur eines nachmetaphysischen Upgrades; auch sind die Möglichkeiten seines Ausbaus angesichts der gegenwärtigen Herausforderungen des Wohlfahrtsstaates unvoreingenommen abzuwägen. Der Solidarismus […] leistete Begründungsarbeit für zwei tragende Säulen von Wohlfahrtsstaatlichkeit in Deutschland: das solidaritätsgestützte Sozialversicherungssystem und den subsidiaritätsbasierten Korporatismus der industriellen Beziehungen. Damit lieferte er gewissermaßen nachträglich den normativen Support für die beiden genannten Konstituenten des deutschen Wohlfahrtsstaates.« (468)
In dieser Hinsicht wird der Jesuitenpater Oswald von Nell-Breuning als »Nestor der katholischen Soziallehre« angemessen vorgestellt und seine Verhaftung in der Nationalökonomie sowie dem neuscholastischen Naturrechtsdenken nachgesehen. Hilfreich sind die Quellen-, Personen- und Sachregister am Ende des Buches sowie die durchgängige Zitation von Primärquellen in den Fußnoten.
Kritisch fällt dem Rezensenten der synonyme Wortgebrauch von Sozialstaat und Wohlfahrtsstaat auf. Beide Begriffe werden nur gegenüber dem Versorgungsstaat abgegrenzt, jedoch nicht inhaltlich bestimmt oder gar voneinander abgehoben. Leider vermischt H. sachliche Darstellungen mit impliziten Wertungen, wobei dem Leser das Maß der Wertung nicht vorgelegt wird. Warum muss zum Beispiel von »idealtypisch stilisiertem Familienbild« (327.336) ge­sprochen werden? Warum haben postliberale und nachmetaphysi sche Theorie den Durchblick? Ist der Mainstream das wertende Maß?