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Ausgabe:

April/2019

Spalte:

368–370

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Bergmann, Sigurd, and Forrest Clingerman [Eds.]

Titel/Untertitel:

Arts, Reli-gion, and the Environment. Exploring Nature’s Texture.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2018. 220 S. = Studies in Environmental Humanities, 6. Geb. EUR 94,00. ISBN 978-90-04-35535-4.

Rezensent:

Hans-Günter Heimbrock

Die immer prekärer werdenden Subsistenzbedingungen für alles Leben auf dem Globus angesichts von Phänomenen wie Klimakatastrophen und riesigen Müllfeldern aus Plastik auf den Ozeanen drängen seit geraumer Zeit wissenschaftliche Forschung dazu, Einsichten zum wirksamen Gegensteuern zu liefern. Dass in diesen Krisen die Beschäftigung mit Kunst von Nutzen sein könnte, scheint auf den ersten Blick aberwitzig. Wer das Buch eines von Bergmann und Clingerman initiierten Cross-over-Projektes in die Hand nimmt, wird jedoch bald eines Besseren belehrt. Zehn Autoren aus Europa und den USA im Grenzbereich von Umweltethik, Humanökologie, Klimaforschung, Ästhetik, Kulturanthropologie und Religionsforschung haben sich in einem spannenden Projekt zusammengefunden, um in der Begegnung zwischen Wissenschaftlern und Künstlern neue Wege der Wahrnehmung der Welt in neuen transdisziplinären Verbindungen zu erproben. Wie die beiden Herausgeber in der Einleitung skizzieren, sollen dabei Tradition einer philosophischen Anthropologie, die von der hermeneutischen Kompetenz des Menschen ausgeht, mit der Herausforderung verbunden werden, die Texturen der Natur durch leibhafte, sinnliche Begegnung und geschärfte Wahrnehmung zu erkunden.
Die Beiträge des Bandes gehen zurück auf die Arbeit eines Netzwerkes, das die beiden Herausgeber, Sigurd Bergmann, deutsch-schwedischer systematischer Theologe aus Trondheim, und Forrest Clingerman, umweltethisch engagierter Theologe aus Ohio, in Forschungskolloquien 2010 auf Hiddensee und 2014 in Jena zusammengebracht haben.
Das zugegebenermaßen disparate Problemfeld des Projektes wird in zehn überschaubaren Beiträgen bearbeitet, die unter drei Leitbegriffe »Seeing«, »Wondering« und »Connecting« angeordnet sind. Die unterschiedlichsten Bezüge zur bildenden Kunst bzw. zu künstlerischen Aktionen werden durch zahlreiche Vier-Farb-Ta­feln unterstützt. Allen Einzelkapiteln ist ein informierendes Abstract vorangestellt.
In einer groben Orientierung für die sehr anregende Lektüre kann man fünf eher theoretische Beiträge identifizieren: Sigurd Bergmann verbindet in seinem Beitrag zu ästhetisch angelegter Ethik die Dimensionen von »Raum« und »Geist«. Er plädiert auf Basis kunsttheoretischer Argumente für den Wechsel von »propositionaler« zu »präpositionaler« Erkenntnis. So eröffnet sich in der Erfahrung des gelebten Raumes im Hier und Jetzt neuer Zugang zu den Texturen der Natur (With-In: Towards an Aesth/Ethics of Prepositions, 17–42). Whitney Bauman, Religionswissenschaftler aus Florida, entfaltet E. Haeckels Ästhetik der Natur als Ästhetik der Transzendenz im Kontext von Romantik und der Entwicklung eines naturalistischen Weltbildes (Wonder and Ernst Haeckel’s Aesthetics of Nature, 61–83). Tim Ingold, schottischer Umwelt-Anthropologe, rekonstruiert in seinem autobiographisch angelegten Beitrag zu den Wandlungen der eigenen wissenschaftlichen Grundorientierung deren lebensweltliche Basis und beleuchtet damit zugleich überpersönliche Krisen einer Naturwissenschaft, die mehr und mehr den Kontakt mit dem Lebendigen zu verlieren droht (Between Science and Art: An Anthropological Odyssey, 96–114). Arto Haapala, Philosoph in Helsinki, problematisiert am Beispiel von Gärten und Parks die konventionellen Grenzziehungen zwischen Natur und Kultur (Cultivated and Governed or Free and Wild? On Assessing Gardens and Parks Aesthetically, 149–165). J. Sage Elwell, Hochschullehrer für Religion und Kunst aus Texas, entfaltet in einer Meditation über das künstlerische Werk eines deutsch-amerikanischen Künstlers, und seine Partnerin im Fo-kus von Erde-Körper-Skulpturen die Ver-Körperung der Umwelt (Where Embodiment Meets Environment: A Meditation on the Work of Hans Breder and Ana Mendieta with an Accompanying Interview with Hans Breder, 166–185).
Daneben finden sich drei Beiträge, die innovative Projekte von Umweltkünstlern präsentieren: Die US-amerikanische Aktionskünstlerin Karolina Sobecka beschreibt in ihrem Beitrag Wetter-Aktionen in Kalifornien und regt damit zu einer neuen Wahrnehmung von Luft als elementarem Bestandteil der Umwelt an (The Atmospheric Turn, 43–58). George Steinmann, Schweizer Künstler und Musiker, demonstriert am Beispiel eines Abwasserprojekts in Bern Interventions-Kunst mit dem Anspruch, Erkenntnisse für menschliches Leben auf unserem Planeten zu erbringen (Art with-out an Object but with Impact, 85–95). Reiko Goto und Tim Collins, ein Paar von Umweltkünstlern aus Japan und den USA, be­schreiben exemplarisch Erkundungen dazu, wie Leben mit der Natur über einen längeren Zeitraum zu neuer empathischer Wahrnehmung der Natur führt (The Black Wood: Relations, Empathy and a Feeling of Oneness in Caledonian Pine Forests, 117–148).
Im letzten Kapitel schließlich spannt der zweite Herausgeber, Forrest Clingerman, den gedanklichen Bogen von der Einleitung durch die verschiedenen Beiträge hindurch zu seiner Schlussthese: Die Krise der Sinngebung muss als Krise der ästhetischen Erfahrung der Umwelt begriffen werden (Conclusion: The Aesthetic Roots of Environmental Amnesia. The Work of Art and the Imagination of Place, 186–212).
Um es gleich vorweg zu sagen: Wer den Band zur Hand nimmt mit der Vorerwartung, zünftiges Wissen über die aufgeworfenen Fragen in einem speziellen Fach zu bekommen, der mag enttäuscht sein. Denn hier werden Wege der Wahrnehmung der Umwelt unter weitgehendem Verzicht auf Gelehrsamkeit und auf das folgerichtige Argumentieren auf der gesicherten Basis eines status quaestionis präsentiert. Ich möchte die Lektüre des Bandes gleichwohl empfehlen. Denn ich meine, das Risiko der Herausgeber hat sich gelohnt, Wissenschaftler verschiedenster Disziplinen zusammen mit Aktions-Künstlern an einen Tisch zu bringen.
In ihren Einzelbeiträgen thematisieren sie Phänomene, die nicht nur ohne Frage relevant sind für eine genauere Beschäftigung mit ökologischen Krisen der Gegenwart (wie Luft, Erde, Wasser oder Wetter), sondern bei denen, wie man lernen kann, ästhetische Repräsentationen in Korrespondenz zu vielfältigen religiösen Deutungsmustern verschiedenster Kulturen stehen. Und um die Zusammenhänge zu demonstrieren, muss hier erfreulicherweise niemand esoterische Gedankengänge mobilisieren.
Die Texte des Bandes richten sich vor allem an eine englischsprachige Leserschaft. Diesem Umstand ist es vermutlich geschuldet, dass deutschsprachige Leser manche Bezugnahme auf zünftiges Denken in theologischen Diskursen vermissen werden, etwa zur theologischen Interpretation der Wunderfrage, zur Kulturhermeneutik, zur Theologie der Naturerfahrung und zur theologischen Kosmologie im Anschluss an Paul Tillichs »vieldimensionale Einheit der Wirklichkeit«. Umgekehrt gesprochen hält der Band aber mannigfaltige Anregungen dazu bereit, die thematisierten Phänomene in gegenwärtige theologische Diskurse einzubringen, sei es im Bereich der Pneumatologie, sei es im Bereich einer ästhetisch erweiterten Hermeneutik, sei es in erneuerter Rezeption der Evolutionsbiologie.
Manche der vorgetragenen Thesen regen zu theoretisch di-mensionierten Rückfragen an, so bleibt etwa der im Untertitel genannte Begriff der »Texturen der Natur« im Band leider etwas unterbelichtet. Und auch die steile These »art as research« (84) hätte mit Gewinn weiter entfaltet werden können. Gleichwohl hält der Band grundsätzliche wissenschaftsmethodische Anregungen bereit. Viele seiner Beiträge spiegeln für mich etwas von der von Habermas u. a. reklamierten Krise des szientistischen Wissens. Herausgeber und Autoren riskieren es neu, Zusammenhänge von Denken und Handeln, von wissenschaftlicher Forschung und künstlerischem Engagement durchzuspielen. Und damit geben sie ihren Lesern vielfache Einsichten und Impulse zu individueller wie zu kultureller Umorientierung in drängenden ökologischen Krisen.
Schließlich eine forschungsstrategische Anmerkung: Das dem Buch zugrundeliegende Projekt einer transdisziplinären Forschung im Bereich Theologie/Ästhetik/Environmental humanities verdient großen Respekt, denn hier ergeben sich originelle Einsichten und Anregungen jenseits disziplinärer Forschung und Lehre. Die Aufgabe nicht zuletzt im Blick auf die deutschsprachige Theologie wird es freilich sein, das angemessen in relevante Fachdiskurse zurückzukoppeln.