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Ausgabe:

April/2019

Spalte:

364–367

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Viertbauer, Klaus

Titel/Untertitel:

Gott am Grund des Bewusstseins? Skizzen zu einer präreflexiven Interpretation von Kierkegaards Selbst.

Verlag:

Regensburg: Verlag Friedrich Pustet 2017. 200 S. = ratio fidei, 61. Kart. EUR 29,95. ISBN 978-3-7917-2888-9.

Rezensent:

Heiko Schulz

Diese Monographie von Klaus Viertbauer geht auf eine 2015 an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Salzburg verteidigte Dissertation zurück; ihre Drucklegung wurde im Rahmen des Projektes Analytic Theology and the Nature of God u. a. von der John Templeton Foundation finanziert. Thematisch bewegt sich das Buch im Fahrwasser jener Debatten um Eigenart und Genese des menschlichen Selbstbewusstseins, die in Deutschland vor allem durch die einschlägigen Publikationen Dieter Henrichs angestoßen wurden. Zu den prominentesten Vertretern dieser, d. h. der sogenannten Heidelberger Schule gehört Manfred Frank, in dessen umfangreichen problemgeschichtlichen und systematischen Studien zur Selbstbewusstseinsproblematik zumindest am Rande deutlich wird, dass die erstmals durch Fichte aufgedeckten Aporien einer egologisch-reflexionstheoretischen Explikation des Selbstbewusstseins bereits Mitte des 19. Jh.s unter dem Einfluss der Frühromantik überwunden wurden: und zwar mit der Konzeption einer nicht-egologisch-präreflexiven Form des Selbstbewusstseins als Möglichkeitsbedingung von Selbstreflexion, wie sie zunächst und vor allem bei F. D. E. Schleiermacher (1768–1834), dann aber auch bei S. Kierkegaard (1813–1855) greifbar wird. Bezüglich des Letzteren belässt es Franks Überblick freilich bei Andeutungen – und genau hier setzt V. an: Er möchte Letztere hermeneutisch erschöpfend ausbuchstabieren sowie problemgeschichtlich und systematisch zuspitzen: Ersteres durch eine konzise Rekonstruktion der Kierkegaardschen Theorie des Selbst in der Krankheit zum Tode (vgl. Abschn. 2., 3. und 5.), die flankiert wird durch Seitenblicke auf einige andere, als thematisch relevant erachtete Schriften; zweitens durch Herausarbeitung problemgeschichtlich und material einschlägiger Parallelen zwischen Kierkegaard und Schleiermacher (vgl. Abschn. 9.1 u. 9.2); drittens durch Skizzierung des systematischen Ertrages der voranstehenden Analysen im Bezug auf sowie in Abgrenzung von einschlägigen Überlegungen Wittgensteins (Abschn. 9.3).
Abschnitt 2 (29–86) bildet das Kernstück der Untersuchung. Die Unterabschnitte 2. und 3. liefern dabei eine Satz- für Satz-Lektüre der Eröffnungsabschnitte des Kierkegaardschen Verzweiflungsbuches; Abschnitt 4. profiliert den eigenen in Abgrenzung von konkurrierenden (J. Ringleben, M. Theunissen) bzw. flankierenden (M. Frank) Interpretationsansätzen; Abschnitt 5. schließlich setzt die Kierkegaardsche Theorie des Selbst mit dessen Verzweiflungsphänomenologie in Beziehung, wobei Letztere freilich – vorherrschende Forschungstendenzen bewusst konterkarierend – »der Selbstanalyse nachgeordnet und nur zur Erläuterung auf diese hin bezogen« (68) wird. Die hermeneutisch auffälligste Weichenstellung ergibt sich aus der Wahl dreier Leitbegriffe, in deren Horizont die zentralen Interpretationsergebnisse eingezeichnet werden: Selbstbegriff, Selbstmodell und Selbstverhältnis (Letzterer erscheint hier unausgesprochen, aber faktisch in der bezeichneten Funktion).
Der Selbstbegriff wird auf zweifache Weise exponiert; erstens in Abgrenzung vom Begriff des Geistes. Leider schwankt V. in diesem Punkt (vgl. 71). Einer gereinigten Lesart des Textes zufolge müsste menschliches Selbstsein demnach als hinreichende Bedingung des Geistes, Geist umgekehrt notwendige Bedingung für menschliches Selbstsein gelten: überall da Geist, wo Selbst; nur da Selbst, wo Geist (vgl. 33.46.71). Doch wie aktualisiert sich das Selbst? Im Zuge der Beantwortung dieser Frage tritt das innovative Potential der V.schen Re-Lektüre des Textes unverkürzt zutage: »Für Kierkegaard wird ein Mensch nicht allein aufgrund des Geistes ein Selbst« (33; Hervorh. H. S.); etwas anderes muss hinzutreten, nämlich die Gottesbeziehung. Dass und inwiefern diese konstitutiv ist, erläutert V. in einem zweiten Explikationsgang von Kierkegaards Selbstbegriff: Das Selbst ist ein Verhältnis (von Unendlichkeit und Endlichkeit, Freiheit und Notwendigkeit etc.), »das sich zu sich selbst verhält«; der Begriff Selbst bezeichnet, genauer gesagt, dasjenige »Ereignis« (2017a, 172), »dass dieses [Verhältnis] sich zu sich selbst verhält«. Mit diesem zweischrittigen Explikationsvorschlag ist nach V.s Meinung indessen le­diglich der idealistische Ausgangspunkt der Subjekt-Objekt-Dichotomie erreicht – nebst der entsprechenden Aporien.
Mit der ersten Formulierung werde von Kierkegaard – und zwar ganz bewusst– die traditionelle Spaltung in einen Subjekt- und Objekt-Pol aufgenommen bzw. nachvollzogen, wobei diese dann durch die zweite Formulierung konkretisiert, dabei aber in deren intrinsischer Problematik de facto noch verschärft werde. Denn die spätestens seit Fichte bekannte Aporetik einer am Gegenstandsbewusstsein orientierten Explikation des Selbstbewusstseins als Selbstreflexion trete – nochmals: mit voller Billigung Kierkegaards – in beiden Fassungen mehr oder weniger unverhüllt zutage: Struktur und Vollzugsereignis des Selbstbewusstseins können nur um den Preis eines potentiell infiniten Regresses aufgeklärt – auf diese Weise also: gerade nicht – aufgeklärt werden. Will man folglich in punkto Selbstbewusstsein (a) den explikationslogischen Aporien des Reflexionsmodells entgehen; und ist Letzteres (b) vom Subjekt-Objekt- bzw. Ich-Nichtich-Schema unablösbar, dann hat nur diejenige Theorie menschlicher Selbstbeziehung Aussicht auf Erfolg, die diese (a) in deren ursprünglichster sowie reflexionsformativ konstitutiver Fassung als nicht- bzw. präreflexives Phänomen – mit Dieter Henrich gesprochen: als ursprüngliches und begrifflich unvermitteltes Vertrautsein mit sich –, ferner (b) dessen Struktur nicht-egologisch expliziert (vgl. 171 f.). Ebendies, so V., habe Kierkegaard aber bereits klar gesehen und im Fahrwasser der frühromantischen Kritik an Fichtes Ausweg aus der bezeichneten Aporie (Stichwort Tathandlung) in einen eigenen Lösungsvorschlag münden lassen, der mindestens materialiter beziehungsreiche Parallelen zu Schleiermachers – hier freilich: transzendentaler (vgl. 131.140) – Selbstbewusstseinstheorie erkennen lasse. Die (u. a.) über Henrich hinausgehende Pointe liegt dann nach Auffassung V.s darin, dass mit dem Moment des Präreflexiven zugleich das des Intersubjektiven – bei Kierkegaard im Speziellen: das des Gottesbezuges – ins Spiel komme, Alteritätserfahrung bzw. Fremdbeziehung mithin als notwendige Bedingung der Möglichkeit von Selbstbeziehung fungiert. Kierkegaard zufolge aktualisiert sich das Selbstsein des Menschen (und in der Folge zugleich: sein Geistsein) also dadurch, dass sich dieser zugleich zu Gott verhält; umgekehrt ist das Gottesverhältnis Funktion und mindestens impliziter terminus medius in aller menschlichen Selbstbeziehung.
Vor dem Hintergrund dieses alteritätstheoretisch spezifizierten Selbstbegriffs unterscheidet V. dann unter Berufung auf die Vorgaben der Verzweiflungsschrift drei Typen des Selbstverhältnisses bzw. dessen prototypische Formen (vgl. 145–148): erstens das Verhältnis im Sinn einer Relation zwischen zwei Polen – gemeint ist das dichotomisch-negative, zudem laut V. unbewusste Verhältnis von Unendlichkeit und Endlichkeit etc. im menschlichen Dasein (= V1); zweitens das trichotomisch-positive Verhältnis im Sinn eines Zwischenseins, das sich als solches reflexiv und willentlich zwischen den Polen als Interesse positioniert bzw. zu sich selbst verhält (= V2); drittens das Verhältnis im Sinn eines Verhaltens zu seinem eigenen Grund (= V3). Letzteres bezeichnet dabei ein, jedenfalls ursprünglich, präreflexives, obschon durchaus bewusstes Verhältnis; denn Kierkegaard zufolge ist jede Reflexion bewusst, aber nicht jedes Bewusstsein reflexiv (vgl. 35 ff.).
V.s hermeneutische Zusatzpointe liegt dann erstens darin, Relationstyp eins und zwei im Anschluss an Franks Terminologie egologisch – und zugleich: propositional –, Typ drei hingegen nicht-egologisch – und zugleich: nicht-propositional – zu interpretieren (vgl. 138.140 f.); sie liegt zweitens in der Behauptung, dass den damit verbleibenden beiden Grundformen des menschlichen Bewusstseins zwei sogenannte Selbstmodelle (S1 und S2) zugeordnet werden können, die jene Disjunktion Kierkegaards reflektieren, wonach das Selbst »sich entweder selbst gesetzt« haben oder »durch ein Anderes gesetzt« sein muss (vgl. 29 ff.).
V. schlägt vor, diese Disjunktion nicht – oder genauer: nicht nur – als rein metaphysische, sondern auch als phänomenologische Option des Autors der Verzweiflungsschrift zu lesen. Natürlich geht dieser, wie auch V. in Rechnung stellt, ohne Weiteres davon aus, dass metaphysisch gesehen allein These zwei der Wahrheit entspricht: Der Mensch ist ein (durch Gott) gesetztes Selbstverhältnis (= S2). Phänomenologisch gesehen aber nimmt, so V., Kierkegaard auch die erste Alternative durchaus ernst: Der Mensch kann, wenn auch irrtümlich, immerhin glauben, das eigene Selbst als solches gesetzt zu haben (= S1). Zwecks Plausibilisierung dieser Lesart zieht V. einschlägige Passagen aus dem pseudonymen Werk heran, die aus seiner Sicht nahelegen, (a) dass mit Ausnahme der sogenannten Religiosität B (= Christentum) alle Repräsentanten des jeweiligen Existenzstadiums (Ästhetik, Ethik, Religion) zumindest stillschweigend Verfechter von S1 sind (vgl. 103.105.167); ferner (b) dass der Selbstsetzungshypothese laut Nomenklatur der Krankheit zum Tode die Verzweiflungsform der Schwäche, der Fremdsetzungsthese hingegen die der Verzweiflung des Trotzes korrespondiert (vgl. 72.76 f.).
Laut Anticlimacus kann offenbar jene präreflexive Erfahrung »am Grund des Bewusstseins« als Gott identifiziert werden; aber muss sie das auch? Den Zweifel an dieser stillschweigenden Vorannahme deutet auf indirekte Weise bereits die Frageform im Haupttitel des V.schen Buches an; direkt wird er in dessen letztem Kapitel artikuliert (vgl. Kapitel 9.4, besonders 168 f.), das die Resultate der vorangegangenen Analysen systematisch weiterzudenken versucht. V. exponiert dabei im Anschluss an Wittgensteins Philosophische Untersuchungen, speziell dessen Überlegungen zum sogenannten Hase-Ente-Kippbild, folgende These: »So wie sich das schwarz-weiß Bild als ›Ente‹ oder ›Hase‹ auffassen lässt, so lässt sich das Andere im Grund des eigenen Selbst sowohl als ›Nichts‹ als auch als ›Gott‹ deuten.« (168) Beide Wege, so V., sind mit prinzipiell gleichem Recht von atheistischen (Sartre, Camus: Variante eins) wie von christlichen Existenzdenkern (Kierkegaard, Marcel: Variante zwei) beschritten worden. Es handelt sich hier demnach um zwei ganz »unterschiedliche Sprachspiele, die in zwei verschiedenen Lebensformen eingebettet sind und den Menschen in zwei voneinander abweichenden Existenzstadien kennzeichnen« (169).
Die Dissertation bietet eine ebenso scharfsinnige wie minutiöse Interpretation eines klassischen, notorisch schwierigen und daher nach wie vor auslegungsbedürftigen Textes. Dieser prima facie positive Eindruck wird bei näherem Zusehen allerdings durch eine Reihe teils hermeneutischer, teils systematischer Mängel ein Stück weit getrübt. Die hermeneutische Unentschiedenheit in V.s Rekonstruktion des Kierkegaardschen Selbstbegriffs wurde bereits en passant moniert. Exegetisch anregend, aber durchaus diskussionswürdig scheint ferner V.s Unterscheidung der beiden Selbstmodelle (S1/S2), deren phänomenologische Lesart durch den Text der Verzweiflungsschrift kaum gedeckt ist. Selbst wenn V. hier aber exegetisch im Recht sein sollte, bleibt die Verknüpfung von S1 und Reflexion problematisch: Denn beide, S1 wie S2, bilden sowohl präreflexive wie reflexive Formen aus. Schließlich überzeugt die stadientheoretische Zuordnung von S1 (Ästhetik, Ethik, Religion) nicht – zumindest für den Fall der sogenannten Religiosität A. Weitere hermeneutische Probleme ergeben sich mit Blick auf die von V. unterschiedenen drei Typen bzw. Stufen des Selbst verhältnisses (V1–V3). Hier scheint vor allem die Lesart von V1 als »unbewusstes Verhältnis« exegetisch unsachgemäß: Ein Wunsch z. B. markiert Kierkegaard zufolge eine Überschreitung des Endlichen im Medium der Verunendlichung (= V1); er stellt aber zugleich eine Form des Bewusstseins dar. Selbst wenn aber V.s Interpretation korrekt wäre, bliebe immer noch unklar, wie sich bei Kierkegaard die von V. als unbewusst ausgegebene (und damit a fortiori präreflexive), gleichwohl aber egologisch interpretierte Relationsform im Sinne von V1 zu ihrem nicht-egologisch-präreflexiven, aber gleichwohl bewussten Pendant im Sinne von V3 verhält.
In systematischer Hinsicht vermisst der Leser u. a. ein abschließendes Kapitel, in dem die (theologische und/oder) philosophische Tragfähigkeit und Reichweite der Kierkegaardschen Selbstbewusstseinstheorie (in der Lesart V.s) im Kontext einschlägiger Gegenwartsdebatten hätten taxiert werden müssen. Hier wäre zugleich Anlass und Gelegenheit gewesen, die Grenzen einer »präreflexiven Interpretation« des Selbstbewusstseins auszuloten: Erstens garantiert der Umstand, dass B (= Selbstreflexion) nur unter Voraussetzung von A (= präreflexives Selbstbewusstsein) möglich ist, keineswegs, dass A selber möglich ist. Jedes »unmittelbare Vertrautsein mit sich« ist eben immer noch Vertrautsein: mit sich. Das notorische Iterationsproblem ergibt sich daher nicht erst aus der gegenstandstheoretischen Konzeption des Selbstbewusstseins, sondern aus deren Verhaftetsein am Reflexionsmodell. Und dieses Modell infiziert bereits dasjenige, was die damit bezeichnete Krankheit heilen soll: die nur vermeintlich präreflexive Form des Selbstbewusstseins (worauf bereits rein sprachlich das Reflexivum [!] »sich« in der Henrichschen Formel verweist). Zweitens gelingt V. keine bündige Verknüpfung von Präreflexivität und Gottesbewusstsein: Gezeigt wird, dass (a) die ursprünglichste Form des Gottesbewusstseins, ferner (b) jenes Selbstbewusstsein, in dem Ersteres, mit Schleiermacher gesprochen, »mitgesetzt« ist, präreflexiver Natur, mindestens aber kein Fall von Gegenstandsbewusstsein (s. o.) ist. Nicht gezeigt wird, dass, inwiefern und auf wel- che Weise jede ursprüngliche Selbstbeziehung, als präreflexive, zugleich Gottesbewusstsein sein kann – geschweige denn sein muss. Schließlich und drittens muss V.s Koextensitivitätsbehauptung von egologischen und reflexionstheoretischen bzw. nicht-egologischen und prä-reflexiv profilierten Konzeptionen von Selbstbewusstsein als vorschnell gelten: Bekanntlich sind egologisch-präreflexive (z. B. Sartre) ebenso wie nicht-egologisch-reflexionstheoretische Konzeptionen (z. B. Kierkegaards »Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält«) denkbar.
Fazit: Auch nach Veröffentlichung der vorliegenden Dissertation bleibt auf dem Felde der Selbstbewusstseinstheorie noch manches zu tun – nicht nur in Kierkegaard-exegetischer, sondern auch in systematischer Hinsicht.