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Ausgabe:

April/2019

Spalte:

358–360

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Geier, Manfred

Titel/Untertitel:

Wittgenstein und Heidegger. Die letzten Philosophen.

Verlag:

Reinbek: Rowohlt Verlag 2017. 444 S. Geb. EUR 26,95. ISBN 978-3-498-02528-1.

Rezensent:

Thomas Rentsch

Das Buch leistet eine sehr genaue biographisch-genetische Rekonstruktion von Leben wie Werk der beiden so bedeutenden Philo-sophen. Ihr Weg zur Philosophie, ihre Kriegserfahrungen werden vergegenwärtigt. Wittgensteins Tractatus entsteht im Krieg, er ringt um ein sinnvolles Lebensverständnis. Er will eine Zeitlang Mönch werden, wird Lehrer, Architekt, Gärtner. Auch Heidegger sucht nach dem authentischen, eigentlichen Leben. Der Weg zu Sein und Zeit erscheint wie ein Kampf um die Metaphysik (163 ff.) angesichts von Sorge, Angst und Tod. Auf diesem Hintergrund entwickelt sich die für Heidegger zentrale Seinsgrundfrage. Instruktiv wird seine Diskussion mit dem Neukantianer Ernst Cassirer in Davos erfasst, ebenso Wittgensteins Mitwirkung im Wiener Kreis und seine Diskurse mit Rudolf Carnap.
Eine besondere Leistung Manfred Geiers ist die Herausarbeitung des Verhältnisses Wittgensteins zu Sein und Zeit (124–162). Seine Kernthese ist hier, dass dieser ein tiefes Verständnis des Werks entwickelt. G. begreift diese Nähe existentiell, im Kontext der Augustinus- und Kierkegaard-Rezeption Wittgensteins und im Blick auf die Lebensbedeutsamkeit seines »Anrennens gegen die Grenzen der Sprache«. Noch weiter reicht G.s Kernthese, weil er in Sein und Zeit einen Ursprung von Wittgensteins späterem Weg zur Alltagssprachanalyse und zum »Sprachspiel« sieht. Die Nähe von Heidegger und Wittgenstein gründet auch in der Kierkegaard-Rezeption beider, bei der dessen Analyse der paradoxalen Struktur der menschlichen Existenz zwischen Angst und absoluter Transzendenz Gottes im Zentrum steht (224–229).
Eine weitere weitreichende These G.s entwickelt er unter dem Titel »Ethik ohne Philosophie, Philosophie ohne Ethik« (237–274). Sie zielt subtil auf das Paradox, dass gerade die nächste Nähe von Heidegger und Wittgenstein in Wahrheit wiederum zu größter Distanz führt (238). Dies zeigt er erneut biographisch auf: Wittgenstein verschenkt sein Vermögen, er will ethisch handeln, anstatt eine Theorie zu entwickeln, er zieht sich in die Hütteneinsamkeit zurück, hat Angst vor Wahnsinn und Suizid, unternimmt Beichtversuche.
Im Folgenden analysiert G. sehr genau den Weg Heideggers in den Nationalsozialismus, analog wiederum Wittgensteins Reise in die Sowjetunion, die nur zwei Wochen dauerte und keine politische Bedeutung hatte. Ebenso folgt dann eine vertiefte Erfassung von Heideggers Kehre und Wittgensteins Wende (309–338). Erneut ergibt sich eine gewisse Kreuzung ihrer Wege, deren höchst individuelle Ausprägung jedoch von G. sehr deutlich akzentuiert wird. Der Weg Wittgensteins zum alltäglichen Sprachgebrauch steht dem Heideggers zur radikalen Technikkritik und zu den esoterischen Beiträgen entgegen. Das gilt auch für die Spätwerke (339–368). Während Wittgenstein die intern unendlich komplexe Vielfalt der Sprachspiele auch psychologismuskritisch zu erfassen versucht, radikalisiert der späte Heidegger mit Blick auf Hölderlin und das in der Moderne vergessene Heilige seine alternative Ontologie des »Gevierts« und proklamiert im Interview mit der Zeitschrift Spiegel das legendäre Diktum »Nur noch ein Gott kann uns retten«.
In den Anhängen des Buches befasst sich G. mit dem Liebesleben der beiden. Thematisiert werden die vielen Affären Heideggers, so mit Hannah Arendt, die er mit anderen Partnerinnen auch nach seiner Heirat mit Elfride sehr lange fortsetzte und die sehr leiden musste. Wittgensteins Liebesgeschichten erscheinen äußerst chaotisch, sie wirken höchst ambivalent zwischen Homo-, Bi- und Heterosexualität. In seinem Leben durchmischt sich die Flucht vor der Sexualität zudem mit Liebesverhältnissen zu nahen Freunden. Der zweite Anhang befasst sich mit dem Jüdischen (385–396). Witt genstein verdrängt seine jüdische Herkunft, verbunden mit Schuldgefühlen. Heidegger hat Husserl zum Lehrer und viele jüdische Schüler und Schülerinnen. Dies tritt in Spannung zu seinem NS-Engagement. Bei beiden zeigen sich wieder tiefgreifende Ambivalenzen. Schließlich behandelt der dritte Anhang »das Ende der Philosophie« (396–405). Beide Autoren ringen mit diesem Ende, Wittgenstein im Medium seiner Alltagsanalysen und seiner Theoriekritik, Heidegger im Medium der Seinsgeschichte und der Ohnmacht des Denkens.
Abschließend hebt G. hervor, dass die letzten großen, individuellen Denker in fast jeder Hinsicht der gegenwärtigen Routine in der auch internationalen Fachphilosophie entgegenstehen. Die Analytische Philosophie, die Wissenschaftstheorie, die philosophischen Einzelforschungen – all dies wirkt gleichsam kümmerlich und durchschnittlich angesichts der monumentalen Werke und Leistungen der – wie bereits der Titel des Buches signalisiert – »letzten Philosophen«.
Zunächst ist besonders positiv hervorzuheben, dass das Buch eine beeindruckende Arbeitsleistung darstellt. Der originelle An­satz der Doppelbiographie erweist sich als sehr gewinnbringend und produktiv. Dies ist zum einen so, weil der Zeitraum, der biographisch vergegenwärtigt wird, so auf zweifache, sehr tiefe und intensive Weise in den Blick genommen werden kann. Sowohl die Kriege wie auch die fundamentalen Transformationsprozesse zum Nationalsozialismus, zum Kommunismus und zu den sich konsolidierenden Nachkriegsordnungen werden auf ungewöhnliche, innovative Weise erfahrbar gemacht. Es wird auch deutlich, dass die Genese der Hauptwerke des 20. Jh.s ohne diese vielfach gravierenden Kontexte nicht leicht zugänglich und verstehbar sind. Dennoch muss zudem anerkannt werden, das G. sich davor hütet, eigene systematische Bewertungen und aus den Entstehungsprozessen etwa ableitbare Beurteilungen der Werke und Haltungen der Autoren zu entwickeln. Die biographischen Analysen, so zum NS-Engagement Heideggers oder zum wirren Lebensschicksal und zur Sexualität Wittgensteins, bleiben stets sachlich und neutral. Das tut dem Buch gut und macht es bei hochgradiger Informativität auch sehr gut lesbar. Und es wird sachlich auch klar: Die biographischen Besonderheiten der beiden Autoren sind philosophisch-systematisch nicht so fundamental einflussreich, wie man leicht glauben könnte. Die systematischen Leistungen sind nicht etwa biographisch ableitbar.
Zu kritisieren am Buch ist aus meiner Sicht – und ich sage dies bewusst als amtierender Philosophieprofessor – die Akzentuierung der »letzten« Philosophen sowie die daraus für G. folgende Herabsetzung, ja Diskreditierung der internationalen Philosophie nach Heidegger und Wittgenstein. Denn: Es ist ganz normal und evident, dass es Weltgenies nicht alle fünf Minuten gibt und geben kann. Und dies gilt nicht nur für die Philosophie, sondern auch für alle Fachwissenschaften. So gibt es nicht ständig in der Physik einen Galilei, einen Newton oder einen Einstein, und ihre großen Leistungen sind vor ihnen nicht absehbar, es sind eben »Revolutionen«. Und dies gilt ganz wesentlich auch und gerade für die Philosophie, denken wir nur an Platon und Aristoteles, an Kant, Hegel und Marx. Dass die Gegenwartsphilosophie sich daher unweigerl ich weiter mit Heidegger und Wittgenstein auf deren Niveau beschäftigt, sowohl historisch, editorisch als auch systematisch-rekonstruktiv und kritisch, das ist völlig normal, so, wie es immer normal war und ist, dass es ab und zu geniale Leistungen gibt, aber eben selten. Das jedoch schmälert keineswegs die große Leistung des Buches, das sehr zu empfehlen ist.