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Ausgabe:

April/2019

Spalte:

331–333

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Kaden, David A.

Titel/Untertitel:

Matthew, Paul, and the Anthropology of Law.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2016. XIV, 238 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 424. Kart. EUR 79,00. ISBN 978-3-16-154076-9.

Rezensent:

Martin Vahrenhorst

Leserinnen und Leser, die am paulinischen oder matthäischen Gesetzesverständnis interessiert sind, müssen etwas Geduld aufbringen, wenn sie sich auf den Weg durch David A. Kadens Studie machen. K. führt sie zunächst in philosophische bzw. religionssoziologische Diskurse ein und nimmt sie sodann mit auf eine lange und spannende Reise zu ganz verschiedenen Kulturen in Indonesien, Mexiko, auf den Philippinen und auf Hawaii. Dabei kann man lernen, dass in all diesen Kontexten das Gesetz – oder was man dafür halten mag – zum Gegenstand des Diskurses wurde, als z. B. im Zuge der Kolonialisierung fremde Normen und Gesetze zusätzlich zu den lokal geltenden auf den Plan traten. Der Kontakt zwischen beiden nötigt zum Nachdenken über das Gesetz.
Nach 65 Seiten wendet sich K. dem Neuen Testament zu und legt einen detaillierten und aktuellen Forschungsüberblick zur Frage nach dem Gesetzesverständnis bei Matthäus (71–88) und Paulus (88–107) vor. Diese Frage sei in der neueren Forschung auch immer mit dem Interesse gestellt worden, den Standort der beiden Autoren gegenüber dem bzw. im Judentum zu bestimmen. K.s »literature review« über einschlägige Forschungen zum Matthäusevangelium von Barth bis Foster stellt zusammenfassend fest, dass die besprochenen Studien erstens herauszuarbeiten versuchten, was Matthäus über das Gesetz sage, und danach erwogen, wie ihn diese Aussagen gegenüber dem Judentum (»›synagogue Judaism‹, ›formative Judaism‹, ›Pharisaic‹ or ›rabbinic‹ Judaism, ›Judaism‹ it­self, or something similar« [88]) positioniere. Dabei kämen die Autoren jedoch zu widersprüchlichen Ergebnissen. Dieser Befund veranlasst K. zu einer weitreichenden Schlussfolgerung: »The contradictory reconstructions lead me to conclude that this debate has reached a stalemate, and that the prevailing approach to investigating Matthew and the law, which tries to situate Matthew vis-à-vis his contemporaries in Judaism should be questioned and revised.« (88) Im Blick auf Paulusstudien kommt er zu einem ähnlichen Ergebnis: »There are a variety of hypotheses that try to explain Paul’s complicated views of the law, but as to the question of where Paul’s views situate him vis-à-vis first century Judaism, scholarship is neatly divided: inside or outside of Judaism« (102). Wie in Qualifikationsarbeiten leider oft üblich, konzentriert sich K. darauf, die vermeintlichen oder tatsächlichen Schwächen der Forschung in den vergangenen 50 Jahren aufzuzeichnen. Dabei vermeidet er es weitgehend, sich mit den in den Studien vorgelegten Auslegungen der matthäischen bzw. paulinischen Texte näher zu beschäftigen. Ihm genügt die Tatsache, dass die Forschung zu widersprüchlichen Ergebnissen kommt. Ob die eine oder andere Wahrnehmung den biblischen Texten vielleicht mehr oder weniger angemessen ist, lässt K. offen. Stattdessen entwickelt er ein eigenes Forschungsprogramm: »I am less interested in what Matthew and Paul say about the law […] than I am in what makes possible the statements that the two writers make about the law« (67).
Um diese Frage zu beantworten, bedient sich K. des methodischen Werkzeugs, das Michel Focault entwickelt hat. Dieser geht davon aus, dass Objekte nicht von dem Diskurs getrennt werden können, in dem sie thematisiert werden (19). Im Blick auf das Gesetz spitzt K. Focaults These wiederholt zu: »there is nothing inherent in law as such that necessitates its emergence as an object of discourse« (67). Unter welchen Umständen aber wird das Gesetz zu einem relevanten Thema des Diskurses? K.s Antwort: »it is the tactics of power that constitute it as an object« (67). K.s Auswertung sozialanthropologischer Studien zu vier unterschiedlichen Kulturen ermöglicht es ihm, diesen Satz noch zu präzisieren: »My main argument is that law emerges as an object in the space where power is exercised; more specifically, at the point where there is interac-tion between macro and micro relations of power« (64). In dem Moment, in dem lokal operierende »micro relations of power« in Kontakt mit »broader webs of power« treten, werden »laws or law-like customs« zum Problem (144). Dies ergibt sich für K. auch aus der Analyse von Philos Legatio ad Gaium und Josephus’ Referaten römischer Gesetze, die Juden (K. spricht von »Judeans«) bestimmte Privilegien einräumten (108–144). Sobald lokale Organisationsformen mit der Legislation des Römischen Reichs in Kontakt kommen, werden das jüdische Gesetz bzw. die väterlichen Überlieferungen zum Thema (142). Das trifft nach K. auch auf Matthäus und Paulus zu. Beide Autoren schreiben in Zeiten, »in which relations between Judeans and Romans were becoming increasingly fractious« (146).
K. räumt zwar ein, dass sich weder bei Paulus noch bei Matthäus »explicit indication that their discussions of law have been influ-enced by this broader context« fände (146), aber möglich sei es dennoch. Nicht zuletzt, weil beide es zum Programm erhoben hätten, ihr jeweiliges Evangelium unter die Völker (ethne) zu bringen, und sich damit in einen breiteren Diskurs über gentes/ethne in ihren jeweiligen geographischen Räumen begäben, der in der spätaugusteischen Zeit begonnen habe (147). K. kann sich dabei auf Studien von W. Carter berufen, der darauf hingewiesen hat, dass im Matthäusevangelium der Disput mit »the ideology of the empire« auf jeder Seite geführt werde (151). Anders als Carter sieht K. im MtEv jedoch keinen Gegenentwurf zur römischen Ideologie, ebenso we­nig bei Paulus: »Matthew and Paul did not undermine imperial discourse, but appropriated and reinscribed it, albeit in a different context than military expansionism« (159). So vertrete der matthäische Jesus im Missionsbefehl eine Strategie, die der hellenistischer und römischer Herrscher ähnlich sei (164). Wenn Paulus vorwiegend römische Provinznamen verwende, dann akzeptiere er »the macro exercise of Roman power« als Grundlage seiner Missionstätigkeit (169).
Was bedeutet all dies für die paulinischen und matthäischen Aussagen zum Gesetz? K. sieht eine Analogie zur Praxis der actio ficticia des römischen Rechts (171). Dabei werde der rechtliche Rahmen gewahrt, allerdings auf Fälle angewandt, auf die er eigentlich nicht anwendbar sei. So auch Matthäus und Paulus. Beide halten an der Geltung des »judäischen« Gesetzes fest, »accommodating this framework to an new exigency created by the missionary agenda« (173). Diese Praxis vermöge auch die vermeintlichen Spannungen im matthäischen Gesetzesverständnis zu erklären. Matthäus be­kenne sich einerseits zur bleibenden Geltung der Tora (Mt 5,17 ff.), setze in den Antithesen und den Zusammenfassungen der Tora die Zeremonialgesetze ins zweite Glied (179). Damit ermögliche er es den ethne, Gottes Willen vollständig zu erfüllen, ohne diese Gebote halten zu müssen. »The bridge that makes this ›fiction‹ possible is the authority/ power of Jesus« (181). Bei Paulus liege die Autorität bei ihm selbst, nachdem sie ihm vom Auferstandenen verliehen wurde (181).
K.s Studie leistet einen originellen Beitrag zu der Frage, wie reale oder vermeintliche Spannungen in den Aussagen zum Gesetz bei Matthäus und Paulus zu erklären seien. In seiner Wahrnehmung der neutestamentlichen Quellen orientiert er sich jedoch vornehmlich an der Literatur. Eigene intensivere exegetische Überlegungen stellt er dabei kaum an. So wiederholt er manches (Vor-) Urteil zum Beispiel zu den sogenannten »Antithesen«. Das schmälert in den Augen des Rezensenten das Verdienst dieser Studie, die daran erinnert, dass Paulus und Matthäus ihre Diskurse unter den Bedingungen des Römischen Reiches führen.