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Ausgabe:

April/2019

Spalte:

324–326

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Dunn, James D. G.

Titel/Untertitel:

Neither Jew nor Greek. A Contested Identity.

Verlag:

Grand Rapids u. a.: Wm. B. Eerdmans 2015. XIV, 946 S. = Chris-tianity in the Making, 3. Geb. US$ 60,00. ISBN 978-0-8028-3933-6.

Rezensent:

Wolfgang Grünstäudl

Mit dem zu besprechenden Band, im Sommer 2014 abgeschlossen und den Abschied von großen akademischen Schreibprojekten markierend (XIII–XIV), legt James Dunn (emeritierter Lightfoot Professor of Divinity an der University of Durham) nach Jesus Remembered (2003) und Beginning from Jerusalem (2009) den letzten Teil seiner viel beachteten Trilogie zu den Anfängen des Christentums (Christianity in the Making) vor. Der umfangreiche, mit großer Kompetenz und Sorgfalt gefertigte Schlussstein des opus magnum eines der mit Sicherheit prägendsten Neutestamentler der Gegenwart nötigt als solcher bereits Respekt und Anerkennung ab. Umso mehr, als sich der Band einer ebenso diffizilen wie ge­wichtigen Thematik widmet: Neither Jew nor Greek stellt die Entwicklungslinien des frühen Christentums von der Zerstörung des Zweiten Tempels bis zum Wirken des Irenäus von Lyon dar und möchte zeigen, wie am Ausgang des 1. und im Verlauf des 2. Jh.s »[t]he identity of what was and what should count as ›Christianity‹« (40 f.) geformt wurde. Damit wird nicht nur ein Zeitraum von gut 100 Jahren (ca. 70–180 n. Chr.; zur Begründung der Abgrenzung vgl. 6 f.) abgeschritten, sondern auch die Grenze zwischen neutestamentlicher Wissenschaft und der Geschichte der Alten Kirche überbrückt. Dass Letzteres eine Notwendigkeit ist, die im Übrigen seit den Zeiten Adolf von Harnacks und Theodor Zahns allzu oft vergessen wird, schreibt D. künftigen Generationen von Neutestamentlerinnen und Neutestamentlern ins Stammbuch (vgl. 5).
Gegliedert ist Neither Jew nor Greek in fünf Teile zu insgesamt zwölf Paragraphen, wobei auf beiden Ebenen die Zählung der Gesamttrilogie fortgeführt wird; es handelt sich somit um die Teile 11 bis 14 und die Paragraphen 38 bis 50. Wie bereits in Beginning from Jerusalem praktiziert und in der thematischen Einführung (§ 38) erläutert (vgl. 40–42), dienen als grundlegendes Ordnungsprinzip die Gestalten Jesus (»Jesus still remembered«: §§ 41–44, Teil 11), Jakobus (zugleich Chiffre für die Größe Judenchristentum; »Jewish Christianity and the Parting of the Ways«: §§ 45–46, Teil 12), Paulus (§ 47) und Petrus (§ 48; zusammengefasst unter Teil 13 »The Continuing Influence of Paul and Peter«), sowie – neu hinzutretend – Johannes (§ 49; etwas verwirrend mit dem Schlussabschnitt [§ 50: »A Contested Identity«] im Teil 14 »Beyond the First Generation« vereint). Eine umfangreiche Darstellung des Quellenbefundes (§§ 39–40; ausschließlich frühchristliche Texte, s. u.) ist vorangestellt, während detaillierte Register (Autoren, Sachen, antike Texte) und eine Bibliographie den Band abrunden. Ein eigenes Verzeichnis der Primärquellen samt der benützten Editionen fehlt, was vor allem im Hinblick auf die zum Teil etwas unübersichtliche Quellenlage zum 2. Jh. zu bedauern ist.
Indem D. das personale Ordnungsprinzip mit einer vornehmlich an Texten orientierten Darstellung kombiniert, finden sich zu den meisten frühchristlichen Schriften, vor allem den später kanonisch gewordenen, mehrere über den gesamten Band verteilte thematische Abschnitte (z. B. wird Joh zuerst als Quelle vorgestellt [71–80], dann als Teil der kanonischen Evangelien [202–206] sowie als Gegenstück zum EvThom [312–371.397–399.402–404] beschrieben und schließlich im Johannes-Teil im Rahmen der johanneischen Schriften kontextualisiert [757–774.799 f.]), was bei der Lektüre zu eifrigem Blättern nötigt. Zahlreiche Quer- und Rückverweise sowie kurze Rekapitulationen von an früherer Stelle Erörtertem erlauben es dennoch, sich rasch in den beinahe 1000 Seiten zu orientieren und stets den Überblick über Darstellungsverlauf und Argumentationsgang zu behalten. Zudem ist Neither Jew nor Greek ein vorzügliches Beispiel für jene wohl typisch angelsächsische wissenschaftliche Prosa, die fachliche Präzision mit literarischer Kunst-fertigkeit zu verbinden weiß und nicht zuletzt Lektüregenuss be­reitet. Die angemessene Berücksichtigung internationaler, nicht nur englischsprachiger Forschung (überraschend fehlen allerdings für das 2. Jh. so gewichtige Namen wie François Dubois und Enrico Norelli) ist bei D. natürlich eine Selbstverständlichkeit.
Kontinuität ist dabei im doppelten Sinne das große Thema des Bandes: Zum einen führt er als forschungsbiographische summa zentrale Erkenntnisse und Anliegen eines bewegten Exegetenlebens zusammen (nicht zufällig entfallen die meisten Einträge im Autorenregister auf den Verfasser selbst), zum anderen möchte er als literaturgeschichtliche demonstratio ecclesiae das Verhältnis zwischen der Verkündigung Jesu und der Gestalt der »great Church« (vgl. 7, Anm. 12, in Anlehnung an Celsus bei Origenes, Contra Celsum, 5.59) des späten 2. Jh.s als organische Verbindung und sachgemäße Entwicklung erweisen. Anders gewendet: Irenäus von Lyon ist nicht nur der chronologische, sondern auch der inhaltliche Zielpunkt der Darstellung (z. B. 7: »conclusion or climax«; 42: »fulcrum or tipping point«).
Dem handbuchartigen Charakter des Werkes samt seiner enzyklopädischen Fülle ist in einer knappen Besprechung kaum gerecht zu werden; sicherlich lohnt aber der Blick auf die wesentlichen Grundentscheidungen hinter D.s Entwurf, wobei insbesondere 1. die Wahl des Leitbegriffs »Identität«, 2. die Auswahl und Behandlung der Quellen, sowie 3. die Einordnung des frühen Christentums gegenüber seinem »principal ›other‹« (671) – dem Judentum – nähere Betrachtung verdienen.
1. Hinsichtlich des Titelstichworts identity ist zu notieren, dass es zwar im gesamten Band häufig verwendet, nie aber auf dem Hintergrund aktueller Forschungsdiskurse eingehender reflektiert wird. Dies muss umso mehr auffallen, als sich Publikationen und Forschungsansätze zum Thema »Identität« – unter durchaus reger Beteiligung der neutestamentlichen Wissenschaft – gegenwärtig geradezu explosionsartig vermehren. In kritischer Gegenbewegung wurde bereits auf die bisweilen »verwirrende Vielfalt heterogener, ja konträrer Bedeutungsinhalte und Konnotate« (Chr. Strecker) des Identitätsbegriffs im Bereich neutestamentlicher Forschung hingewiesen und sogar die theologische Angemessenheit dieser Analyse- bzw. Darstellungskategorie insgesamt in Frage gestellt. Es wird deshalb die Aufgabe weiterer Forschung sein, die von D. mit dem Begriff »Identität« verknüpften Beobachtungen zur Geschichte des frühen Christentums mit identitätstheoretisch informierten exegetischen und kirchengeschichtlichen Diskursen in Beziehung zu bringen.
2. Der Vorstellung der von ihm herangezogenen Quellen widmet D., wie schon erwähnt, breiten Raum (43–184). Sein systematischer Durchgang schafft beinahe ein »Buch im Buch« im Sinne einer Einleitung in die frühchristliche Literatur der ersten beiden Jahrhunderte, wobei der Leser allerdings genötigt ist, zum Großteil des Corpus Paulinum (85–96 werden nur Past und Hebr besprochen) sowie zu Apg, Jak und 1Petr (vgl. 96) die entsprechenden Abschnitte in Beginning from Jerusalem nachzuschlagen. Hinsichtlich der später neutestamentlich gewordenen Texte bewegt sich D. innerhalb der Schwankungsbreite des kritischen mainstream, favorisiert darin jedoch durchgehend eher frühe Datierungen (ohne das Phänomen kanonisch gewordener Pseudepigraphie grundsätzlich abzulehnen, vgl. 80–85), so dass nur für 1–3Joh und 2Petr eine Entstehung im (frühen) 2. Jh. erwogen wird.
Nichtliterarische Quellen wie Inschriften und archäologische Befunde begegnen zwar ab und an in den Anmerkungen, besitzen aber gegenüber den prominent vorgestellten Texten nur marginale Bedeutung. Im Rahmen einer Untersuchung, die anstrebt »to examine the factors and primary influences which gave early Christianity its distinctive character« (182), vermisst man insbe-sondere eine Diskussion so auffälliger Charakteristika frühchristlicher Manuskripte wie der sogenannten nomina sacra oder der sich bereits früh ab­zeichnenden Präferenz des Kodex. Zudem will D. zwar keinesfalls eine Geschichte der Sieger schreiben (vgl. z. B. deutlich 7), präferiert aber die kanonisch gewordene gegenüber der nicht kanonisch gewordenen Literatur (182: »spin-off liter-ature […] poorer in quality than what became acknowledged as the canonical literature«) in einer Entschiedenheit, die doch die Frage aufwirft, ob damit einer differenzierten und unvoreingenommenen Suche nach frühchristlicher Identität bzw. Identitäten gedient ist (vgl. z. B. auch das Fehlen von sowohl ApkPetr [vorgestellt: 179 f.] als auch AscJes [erwähnt: 177, Anm. 346; 572] in der tabellarischen Quellenübersicht, 183). Nicht nachvollziehen lässt sich bei alledem der beinahe ausschließliche Fokus auf christliche Quellen – wo doch gerade bei Identitätsfragen ein intensiver Rekurs auf die (im Untersuchungszeitraum wenigen, aber gerade deshalb wichtigen) Außenperspektiven (z. B. Plinius [vgl. 615 f. mit Verweis auf Beginning from Jerusalem in Anm. 80], Celsus) aufschlussreich gewesen wäre.
3. Wie nur wenige andere Forscher hat D. in den letzten Jahrzehnten die Debatte um das Verhältnis des frühen Christentums zum Judentum mitgestaltet und bis in die Terminologie hinein geprägt. Umso spannender ist es, im vorliegenden Band D.s Ringen um eine adäquate Begrifflichkeit für diesen Differenzierungsprozess zu verfolgen: Wieder und wieder wird – zu Recht! – die Pluralität sowohl dessen, was man (im Untersuchungszeitraum) »Judentum«, wie auch dessen, was man (im selben Zeitraum) »Christentum« nennen könnte, betont, wieder und wieder wird – wiederum zu Recht – darauf verwiesen, dass das sich entwickelnde Christentum zuallererst als eine Gruppierung innerhalb des Judentums zu verstehen ist. Gleichzeitig changiert die Beschreibung des Trennungsprozesses zwischen parting of the ways (598–672) und partings of the ways (14–22), ja, es wird sogar konstatiert, »the imagery of ›the parting of the ways‹ is more misleading than helpful« (599; vgl. die Reflexionen zur Terminologie, 598–602). Wenn D. die unterschiedlichen Grade von Nähe und Distanz zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten betont (die rich-tige Antwort auf die Frage »When did the ways part?« laute: »Over a lengthy period, at different times and places, and as judged by different people dif-ferently, depending on what was regarded as a non-negotiable boundary marker and by whom.« [21 f.]), so könnte sich dafür das Bild eines Tanzes (T. Nicklas) anbieten und somit die Rede von einer party of the ways heuristisch wertvoll sein.
Das Schlussstatement des Abschnitts zu »The Parting of the Ways« (598–672) – »bonds are for many more important and more endur-ing than boundaries« (672) – darf dabei auch als Verweis auf D.s eigene Perspektive verstanden werden: Durchgehend wird das »Ju­dentum« und »Christentum« Verbindende gegenüber dem Trennenden unterstrichen. Dieser aller Ehren werte Ansatz führt bei Texten, die sich durch einen pointierten Fokus auf »boundaries« auszeichnen, wie dem Barnabasbrief (658: »Although it is hard to avoid the impression of a theology regarding Israel heading into supersessionism, Barnabas is more regretful that Israel ›finally lost it‹, than denunciatory or derogatory in his language.«) oder Justins Dialog mit Trypho (mit einem Zitat R. S. MacLennans als »friendly exchange« [665, Anm. 320] beschrieben) allerdings bisweilen allzu harmonistisch wirkenden Lektüren.
Künftigen Generationen hinterlässt D. mit seinem monumentalen Werk ein kraftvolles Plädoyer, die unauslöschlich jüdisch geprägte Identität des Christentums ebenso wenig zu unterschätzen wie die sachliche Rückbindung der frühen Kirche an das Wirken Jesu. Künftige Generationen werden in ihrer eigenen Beschreibung der Entwicklungsprozesse frühchristlicher Identitäten versuchen, nicht-literarische Quellen und Außenperspektiven noch stärker einzubeziehen, und danach streben, den Beitrag disso-nanter und später verklungener Stimmen noch besser hörbar zu machen, an D.s Entwurf vorbeigehen werden sie mit Sicherheit nicht.