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Ausgabe:

April/2019

Spalte:

320–322

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Müller, Monika

Titel/Untertitel:

Und der Herr wohnt in Zion (Joel 4,21). Literaturwissenschaftliche und theologische Untersuchungen zu Joel 3 und 4.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (Neukirchener Theologie) 2017. 274 S. = Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament, 150. Geb. EUR 50,00. ISBN 978-3-7887-3125-0.

Rezensent:

Burkard M. Zapff

In neueren Untersuchungen der Joelschrift standen bisher insbesondere Ort, Entstehungszeit und theologische Aussage sowie redaktionsgeschichtliche Überlegungen zur Einbettung im Ge­samt des Zwölfprophetenbuches im Vordergrund. Demgegenüber trat die Frage, was den inneren Zusammenhang der Joelschrift als solcher ausmacht und was sie beim Leser für Eindrücke und Assoziationen weckt, eher in den Hintergrund. Dieser Frage geht nun die Arbeit von Monika Müller nach. Dabei liegt der Schwerpunkt auf den beiden letzten Kapiteln 3 und 4 der Joelschrift, die in ihrer Endgestalt in den Blick genommen werden. M. interessieren vor allem die »Verständnismöglichkeiten« des 3. und 4. Kapitels, die sich dem Leser im Lektürevorgang anbieten. Leitend ist dabei insbesondere die Frage, »wie literarische und theologische Grundlinien durch die letzten beiden Kapitel hindurch […] auf diesen letzten, markanten Satz: ›Und der HERR wohnt in Zion‹ hin zulaufen« (5).
Nach einem kurzen forschungsgeschichtlichen Überblick (8–25) widmet sich das zweite Kapitel der »Joelschrift in synchroner Leserperspektive«. Folgende Aspekte sind hier leitend: 1. Die Joelschrift rückt den Propheten sehr nahe an JHWH heran, so dass »beide […] selten voneinander zu trennen« (28) sind. 2. Die Schwierigkeit, die Adressaten zu bestimmen, gibt dem Text eine gewisse »Doppelbödigkeit« (32) mit einer Tendenz zur Universalisierung. 3. Ähnlich bleibt beim Tag JHWH (TJ) offen, ob dieser eine vergangene, gegenwärtige oder künftige Realität ist (34). 4. Ambivalent ist auch das Gottesbild, das zwischen Drohung und Erbarmen schwingt. 5. Dabei meint M. eine gewisse Offenheit der Joelschrift bezüglich des Schicksals der Völker erkennen zu können, so dass für diese ähnlich wie für Israel der Weg zu Gottes Erbarmen grundsätzlich möglich ist.
Teil II der Arbeit widmet sich dem eigentlichen Thema: der Analyse von Joel 3 und 4. Der Übersetzung, text- und literarkritischen Anmerkungen sowie Hinweisen zur Gliederung folgt jeweils eine »Beschreibung« des Inhaltes sowie eine »Sprechaktanalyse«. Grundsätzlich gilt für beide Kapitel, dass der »Text für den Leser eine Herausforderung ist, da vieles offen und unbestimmt bleibt«. Das deutet M. als Aufforderung an den Leser, »sich mit den angestoßenen Fragestellungen auseinanderzusetzen und sie nicht vorschnell ad acta zu legen« (117).
In Joel 3 steht insbesondere »der individuelle Mensch« stark im Fokus. Ob dieser JHWH anruft, wird zum Verheißungskriterium schlechthin und zur zentralen Grundentscheidung des Menschen. Demgegenüber tritt in Joel 4 Gott vor allem »als Handelnder stärker in den Mittelpunkt«. Dabei wird der aktive Gott jedoch gleichzeitig auch »zum Ruhepol und sicheren Anker« (118). Das 5. Kapitel verbindet die Analyse von Joel 3 und 4 mit der Aufdeckung von Bezügen und gemeinsamen Motiven mit Joel 1–2. Anhand des TJ wird deutlich, dass sich dieser in verschiedene Phasen zerdehnt, die für das Volk Israel die entscheidende Veränderung hin zum verheißenen Heil ermöglichen. Zentrales Moment der Joelschrift ist dabei immer wieder die Gottesbeziehung: »Gott ist als Ursache für den Untergang zugleich der Grund für die Rettung, und entscheidend ist, wie der Einzelne, das Volk Gottes und die Nationen sich zu Gott stellen« (172). Im 6. Kapitel geht M. der Interpretation des textkritisch schwierigen Verses Joel 4,21a nach. Der Elberfelder Übersetzung folgend deutet sie den Vers als Aussage, die Juda und Jerusalem nun endgültig als »unschuldig« erklärt (179). Da ansonsten von einer Schuld Israels in der Joelschrift nicht die Rede ist, zeigt sich, dass die Joelschrift ein Vorwissen zum Verständnis erfordert, das anderen Schriften des Zwölfprophetenbuches zu entnehmen ist. Joel 4,21b hingegen ist letztendlich Antwort auf den die Frage der Völker zitierenden Zweifel Israels in Joel 2,17 (184).
Teil III der Arbeit widmet sich schließlich »intertextuellen Bezügen innerhalb der Endpunkte ausgewählter prophetischer Schriften.« In den Blick genommen werden hier »wiederkehrende Zitate, Motive und Echos« im Kontext des Zwölfprophetenbuches und des Corpus Propheticum. Ausgewählt dafür wurden Amos 9 (Kapitel 8), Sacharja 8 (Kapitel 9) und Ezechiel 47 und 48 (Kapitel 10), »da sie alle markant mit einer Aussage zur Gegenwart Gottes bzw. seiner Verbundenheit mit seinem Volk enden« (195).
Eine Sprechaktanalyse der ausgewählten Endverse jener vier Vergleichstexte (Joel 4,21; Am 9,15; Sach 8,23 und Ez 48,35) in Kapitel 11 der Arbeit kommt zu folgendem Ergebnis: Durch den Wechsel des Sprechers in Joel 4,21 wird die theologische Botschaft des Joelbuches zusammengefasst und zwar als eine Wirklichkeit, die Ge­genwart und Zukunft umfasst (239). Die direkte Anrede des Lesers in Amos 9,15 hingegen schafft einen emotionalen Bezug. Die Beziehung zu Gott ist demnach »Zuspruch Gottes« an den Menschen (241). Sach 8,23 hingegen beschreibt die beiden Elemente, die auch in Joel eine Rolle spielen: »das Zugehen Gottes auf die Menschen und deren Antwort darauf« (243). Ez 48,35 schließlich endet mit einer der zentralen Aussagen des Ezechielbuches: »Gott ist wieder bei seinem Volk« (244).
M. hat sich in ihrer Arbeit einer schwierigen Frage gestellt, nämlich wie sich die so divergierenden Aussagen in den einzelnen Teilen der Joelschrift für den Leser zu einem sinnvollen Ganzen verbinden lassen und damit eng zusammenhängend, welches Gottesbild und welche theologische Aussage dahinter zu erkennen ist. Dieser Versuch ist insofern bemerkenswert, weil angesichts der zahlreichen Spannungen die Neigung in der Exegese groß war (und ist), die literar- und redaktionskritische Schere anzusetzen, um aus der Joelschrift durch die Annahme verschiedener Überarbeitungen und Ergänzungen doch noch ein einigermaßen sinnvolles Ganzes zu machen. Insofern ist die Lösung, die M. vorschlägt, dass die Joelschrift in ihrer Unbestimmtheit den Leser dazu auffordert, sich nicht allzu schnell auf bestimmte Adressaten, Zeiten und Vorstel lungen von Gott festzulegen, durchaus interessant. Die Aussage »Und der HERR wohnt auf Zion« wäre dann tatsächlich eine Art Anker, um in dieser Vielgestaltigkeit und Unbestimmbarkeit nicht unterzugehen. Dennoch kann natürlich dieser synchrone Ansatz, der in einer gewissen Unbestimmtheit bleibt, nicht dafür genutzt werden, der exegetischen Auseinandersetzung mit dem konkreten Text auszuweichen. Zu kurz kommt deshalb m. E. in der Arbeit die Frage, was denn eigentlich die zahlreichen schriftgelehrten Bezüge in diesem Zusammenhang bedeuten. Denn auch sie leiten ja den Leser zu einem bestimmten Verständnis an.
So spricht M. mehrfach davon, dass der Leser dies oder jenes im Hinterkopf hat, wenn er eine bestimmte Passage der Joelschrift liest. Was bedeutet dies beispielsweise für die Vorstellung vom TJ, bei dem ja nicht nur auf ein häufig in der prophetischen Literatur vorkommendes Motiv zurückgegriffen wird, sondern dieser konkret auf Jes 13 zurückverweist (vgl. Joel 2,1/Jes 13,6; Joel 2,6/Jes 13, 8; Joel 2,10/Jes 13,10), wo ja der TJ als Objekt Babel hat? Gilt dies auch hier oder ändert sich der Adressat? Besser als der recht allgemein geratene Vergleich von Joel 3 und 4 mit den Schlusskapiteln anderer prophetischer Schriften (Sach 8 wird übrigens nur in einer diachronen Analyse der Sacharjaschrift als Schlusskapitel gesehen!) wäre es, nach der Funktion zu fragen, welche die Joelschrift – auch synchron gelesen – im heutigen Zwölfprophetenbuch hat. Schließlich findet sich etwa das Motiv der Dürre oder des TJ im Zwölfprophetenbuch mehrfach (vgl. Zef 1,14–18). Interessant wäre auch, was die ähnlichen Motive am Ende der von M. aufgelisteten Schriften im Hinblick auf mögliche, gemeinsame Tradentenkreise bedeuten würden.
Damit hinterlässt die Arbeit beim Leser einen etwas zwiespältigen Eindruck. Einerseits beeindrucken die Verbindungen und Beziehungen, die innerhalb der Joelschrift bestehen, und die Schluss-folgerungen, die M. daraus zieht, andererseits drängt sich der Eindruck auf, dass hier eine methodische Beschränkung vorgenommen wird, die der Joelschrift und ihrer Stellung im Zwölfprophetenbuch und überhaupt im Corpus propheticum zu wenig gerecht wird. Die Unbestimmtheit, die die Joelschrift in ihrer Botschaft prägt, überträgt sich damit leider bisweilen auch auf die vorliegende Arbeit.