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Ausgabe:

April/2019

Spalte:

315–317

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Barthélemy, Dominique

Titel/Untertitel:

Critique textuelle de l’Ancien Testament. Tome 5: Job, Proverbes, Qohélet et Cantique des Cantiques. Rapport final du Comité pour pur l’analyse textuelle de l’Ancien Testament hébreu institué pas l’Alliance Biblique Universelle, établi en coopération avec A. R. Hulst, N. Lohfink, W. D. McHardy, H. P. Rüger et J. A. Sanders, édité à partir du manuscrit inachevé de D. Barthélemy par C. Locher, S. D. Ryan et A. Schenker.

Verlag:

Fribourg: Academic Press Fribourg; Göttingen: Vanden-hoeck & Ruprecht 2016. XXVIII, 974 S. = Orbis Biblicus et Orientalis 50/5. Geb. EUR 300,00. ISBN 978-3-7278-1786-1 (Academic Press Fribourg); 978-3-525-54402-0 (Vandenhoeck & Ruprecht).

Rezensent:

Ludger Schwienhorst-Schönberger

In den Jahren 1969 bis 1979 trafen sich die Mitglieder des Hebrew Old Testament Text Project (HOTTP), zu denen u. a. Alexander R. Hulst, Norbert Lohfink, William D. McHardy, Hans Peter Rüger und James A. Sanders gehörten, zu zehn Sitzungen und arbeiteten jeweils einen Monat lang an textkritischen Problemen alttestamentlicher Bücher. Ziel ihrer Arbeit war die Erstellung eines auf mehrere Bände angelegten Arbeitsinstruments, das modernen Bibelübersetzern eine wissenschaftlich basierte Entscheidungshilfe für den Umgang mit textkritisch problematischen Stellen des Masoretischen Textes an die Hand geben sollte. Dominique Barthélemy wurde damit beauftragt, die Berichte der jeweiligen Sitzungen zu erstellen. Mit dem hier vorzustellenden Band liegt der fünfte und letzte Band der aus der Arbeit des Komitees hervorgegangenen Reihe Critique textuelle de l’Ancien Testament vor. Das Werk bleibt ein Fragment, da die Arbeiten zum Pentateuch in der ursprünglich von Dominique Barthélemy geplanten Form wohl nicht mehr erscheinen werden. Umso begrüßenswerter ist, dass Adrian Schenker, Clemens Locher und Stephen D. Ryan die mühevolle Arbeit auf sich genommen haben, die in einer ersten Redaktion vorliegenden Aufzeichnungen zu den Psalmen und zu den Büchern Ijob, Proverbien, Kohelet und Hohelied, die Barthélemy noch vor seinem Tod im Jahre 2002 erstellen konnte, abzuschließen und zu publizieren. Adrian Schenker informiert im Vorwort über die außergewöhnlichen Herausforderungen, nicht zuletzt technischer Art, mit denen sich die Herausgeber konfrontiert sahen.
Das Projekt ist gedacht als Entscheidungshilfe bei der Übersetzung textkritisch schwieriger Stellen des Masoretischen Textes. Pragmatisch orientiert es sich an verbreiteten englischen, französischen und deutschen Bibelübersetzungen aus der zweiten Hälfte des 20. Jh.s. Insgesamt werden 603 textkritisch strittige Fälle behandelt: 291 aus Ijob, 222 aus den Proverbien, 55 aus Kohelet und 35 aus dem Hohelied. In der weitaus überwiegenden Zahl wurde dafür plädiert, den Masoretischen Text beizubehalten. Das Procedere integriert in der Regel folgende Schritte: 1. Präsentation des hebräis chen Textes aufgrund der vom Komitee getroffenen Entscheidung, 2. Optionen der ausgewählten modernen Übersetzungen, 3. Korrekturen, die in älteren Übersetzungen oder Kommentaren anzutreffen sind, 4. antike Textzeugen, 5. Begründung der textkritischen Entscheidung des Komitees mit Angabe eines Sicherheitsgrades, 6. Vorschlag einer Interpretation. Bisweilen werden die Schritte durch kleinere Exkurse in die mittelalterliche jüdische Auslegungsgeschichte ergänzt.
An zwei Beispielen sei das Verfahren veranschaulicht: In Ijob 42,6 steht die hebräische Verbform סאמא. (’m’s) Einige Übersetzungen ergänzen ein Objekt. Septuaginta und Vulgata verstehen das Verb als Reflexivum, Peschitta versteht es als Intransitivum im Sinne von »rester silencieux«, Targum ergänzt ein Objekt (»ma richesse«). Mit Verweis auf Ijob 7,5, wo das Verbum ebenfalls ohne Objekt verwendet wird, plädiert das Komitee für die Beibehaltung des Masoretischen Textes und spricht seiner Entscheidung den zweithöchs-ten Sicherheitsgrad (B: »grand probalité avec une certaine marge de doute«) von insgesamt vier Graden von: »très hautement probable« (A) bis »possible, mais très incertain« (D) zu. Nach diesem Muster werden die einschlägigen, in den genannten gängigen Übersetzungen textkritisch strittigen Fälle diskutiert und am Ende eine Lösung vorgeschlagen.
Die in der Forschung kontrovers diskutierte Frage nach einer Abgrenzung zwischen Text- und Literarkritik bleibt – wohl aus pragmatischen Gründen – offen. So greift das Komitee auch Fälle auf, in denen in modernen Übersetzungen vom Masoretischen Text abgewichen wird, ohne dass es dafür einen Anhaltspunkt in den Handschriften gäbe. So dürfte der folgende Fall eigentlich zur Literarkritik zu rechnen sein: Die Worte Ijobs in 42,4 »Höre doch, ich will nun reden, ich will dich fragen, du belehre mich!« werden von einigen Übersetzungen und Kommentaren als sekundär angesehen, obwohl es dafür in den Handschriften keinerlei Anhaltspunkte gibt. Zu Recht weist das Komitee eine solche Konjektur zurück und spricht seiner Entscheidung den höchsten Sicherheitsgrad (A) zu. Als Begründung verweist es auf Ijob 13,22, ein mit 42,4 korrespondierender Vers. Die Frage, ob der Vers in einem literarkritischen Sinn nicht doch sekundär ist, bleibt davon natürlich unberührt.
Selbstverständlich kann das Handbuch nur eine Auswahl treffen. Diese orientiert sich an abweichenden textkritischen Entscheidungen der verbreiteten Übersetzungen Revised Standard Version, Bible de Jérusalem, Revidierte Lutherbibel, New English Bible und Traduction Œcuménique de la Bible. Es gibt natürlich auch Fälle, die exegetisch interessant sind, deren Übersetzungsprobleme jedoch vom Mainstream der Übersetzungen nicht wahrgenommen werden. Dazu ist Koh 5,19 zu rechnen, der nicht behandelt wird. Im­merhin präsentiert Norbert Lohfink in seinem Kommentar zum Koheletbuch zwei sehr unterschiedliche Lesarten: 1. »weil Gott ihn sich um die Freude seines Herzens bemühen lässt« und 2. »weil Gott (ihm) durch die Freude seines Herzens Antwort gibt« (N. Lohfink, Kohelet, Würzburg 41993, 46). Nach Auskunft von Ludwig Levy ist Koh 5,19 sogar »der archimedische Punkt, in dem die Hebel zur Lösung der vermeintlichen Widersprüche des eigenartigen Buches anzusetzen sind.« Levy versteht die Stelle als »Offenbarung Gottes in der Freude« (L. Levy, Das Buch Qohelet, Leipzig 1912, 99). Eine umfangreiche Bibliographie (927–974) schließt den Band ab.
Den Herausgebern ist für ihre verdienstvolle Arbeit in höchs-tem Maße zu danken. Wenngleich fragmentarisch, so ist die Reihe doch ein würdiges Zeugnis für die Lebensleistung Dominique Barthélemys (1921–2002), eines wahren Meisters der alttestamentlichen Textgeschichte und Textkritik.