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Ausgabe:

April/2019

Spalte:

306–309

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Feldmeier, Reinhard, u. Hermann Spieckermann

Titel/Untertitel:

Menschwerdung.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2018. XVI, 418 S. = Topoi Biblischer Theologie, 2. Kart. EUR 39,00. ISBN 978-3-16-155776-7.

Rezensent:

Ulrich Heckel

Fast zeitgleich mit der 2. Auflage ihrer Gotteslehre (Der Gott der Lebendigen. Eine biblische Gotteslehre; vgl. ThLZ 137 [2012], 651–654) haben der Göttinger Alttestamentler Hermann Spieckermann und sein neutestamentlicher Kollege Reinhard Feldmeier in be­währter Zusammenarbeit einen bemerkenswerten zweiten Band veröffentlicht: »Menschwerdung«. Beide Werke verhalten sich »wie die komplementäre Tafel eines Diptychons« (VII). Während die Gotteslehre »ein biblisch-systematischer Entwurf auf biblisch-geschichtlicher Grundlage« ist, bietet die Menschwerdung »die biblisch-geschichtliche Entfaltung der theologischen Zentralvorstellung des Neuen Testaments in ihrer alttestamentlichen Anbahnung und neutestamentlichen Auslegung« (5). Darum versucht das vorliegende Werk nicht von der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus aus dicta probantia im Alten Testament zu identifizieren, sondern »aus der theologischen Eigenbewegung der Schriften der jüdischen Bibel heraus zu erhellen, wieso und in welcher Weise sich Gott bestimmter Menschen bedient« (2).
Die Menschwerdung Gottes ist »in der biblischen Theologie christlicher Provenienz das zentrale Thema, das im Religionsgespräch mit dem Judentum und dem Islam Quelle der Kontroverse ist«, weil die christliche Theologie »das Gottsein Gottes gerade im Beziehungswillen zu seiner Schöpfung, insbesondere zu seinem ebenbildlichen Menschen, als in Gott selbst integriert erkennt« und bereits »innergöttlich in seiner Beziehung zum einziggeborenen Sohn verankert« (5). Dies hat Konsequenzen für die Anthropologie und Ethik, wenn Menschen im Glauben als Kinder Gottes »Zeugen der Menschwerdung Gottes und zugleich Künder wahren, gottgewollten Menschseins« sind (6). Die These lautet: »Menschwerdung ist endgültige Liebestat des Gottes, der in seiner Schöpfung, besonders in seinem liebsten Geschöpf, dem gottebenbildlichen Menschen, das Gegenüber geschaffen hat, ohne welches er nicht Gott sein will« (1; vgl. 329). Das Vorhaben gliedert sich in zwei Hauptteile: »A Die Vorgeschichte der Menschwerdung« (184 Seiten) und »B Konzeptionen der Menschwerdung« (137 Seiten).
Die alttestamentliche Vorgeschichte setzt ein bei der Ur­sprungsgeschichte der Welt mit der Spannung zwischen Gottes gutem Willen und dem Eigenwillen seines ebenbildlichen Ge­schöpfes, um mit Noah, Abraham und Melchisedek die ruinösen Folgen menschlicher Selbstbestimmung in die Frage nach Gottes Gerechtigkeit als dem verborgenen Thema der Urgeschichte münden zu lassen (9–26). Im zweiten Kapitel »Mittler der Gottesnähe« (27–83) werden die vorexilischen Institutionen Königtum, Priestertum und Prophetie ohne alttestamentliches Vorbild systematisierend unter dem Mittlerbegriff zusammengefasst, weil sie eine Vermittlungsfunktion zwischen Gott und Welt bzw. Menschen ausüben. Dann folgen aus der nachexilischen, königlosen Zeit »Neue Gestalten der Gottesnähe« (84–145), die an die Gestalt Davids anknüpfen, vor allem die »Gesalbten Jhwhs« im Psalter und die neuen Hoffnungsträger bei Jesaja (7; 9; 11), die selber jedoch nicht als Gesalbte bezeichnet »und deshalb auch nicht messianisch ge­nannt werden sollten« (109). Schließlich wird anhand von Menschensohn, Hirte und Davidsohn (Ez; Sach 9–14; Dan 7; PsSal 17 f.) die Vielfalt der erwarteten Hoffnungsträger als Suchbewegung aufgezeigt, »wie das Neue überhaupt zu sagen möglich ist« (132–145; hier 140). Das vierte Kapitel »Am Übergang: Vom Tod zum Leben« (146–190) beschreibt die Hoffnung auf neues Leben, die auf doch sehr unterschiedliche Weise mit dem leidenden Gottesknecht bei Deuterojesaja, Gottes erbarmungsvoller Liebe zu Zion (Jes 54) und den makkabäischen Märtyrern sowie Johannes dem Täufer verbunden ist.
Der neutestamentliche Teil versucht im ersten Kapitel »Der galiläische Gottesmann: Vom erinnerten Jesus zum geglaubten Christus« (193–218) »historisch so plausibel wie möglich […] verständlich zu machen, inwiefern die frühchristlichen Deutungen des Christusgeschehens […] gerade in ihrer nachösterlichen Perspektive dem Leben und Leiden des irdischen Jesus zu entsprechen suchten« (194). Im Schlussabschnitt »Zwischen Inkarnation und Inthronisation: Die Wahrheit des Mythos« werden die mythischen Entfaltungen der Christologie anders als in der Religionsgeschichtlichen Schule nicht einer späteren Hellenisierung zugeschrieben, sondern auf alte Überlieferungen (Philipperhymnus; Maranatharuf) zurückgeführt. Die spannungsvolle Einheit von Mythos und Geschichte ist also kein rein nachösterliches Phänomen, sondern wird in den Evangelien so erzählt, dass »die Erinnerungen an Jesus und die frühchristliche Deutung des Christusereignisses miteinander verschmelzen« (217). Wie der Mensch Jesus nicht ohne seinen Gott zu verstehen ist, so auch Gott nicht ohne seinen Sohn, den Menschen Jesus (218). Das zweite Kapitel »Kyrios Jesus Christos: der Menschgewordene bei Paulus« (219–236) zeigt, dass für das Verhältnis von Vater und Sohn »Dominanz und Subordination inadäquate Bestimmungen« sind (223), da der Apostel »Gott nicht als Spitze einer hierarchisch gegliederten Ontologie (denkt), sondern ihn von der Dynamik schöpferisch-verwandelnder Liebe her (versteht)« (224). Das ist die Pointe des »christologischen Monotheismus«, in dem Paulus am alttestamentlich-jüdischen Bekenntnis zu dem einen Gott festhält (Gal 3,20; 1Kor 8,4), »zugleich aber aufgrund des Christusereignisses diesen einen Gott ganz aus seinem Bezug auf den Sohn versteht« (224), so dass »Gottes Vaterschaft primär keine protologische, sondern eine soteriologisch-eschatologische Pointe (hat)« (229 f.). Das dritte Kapitel »Der Verkündiger als der Verkündigte: Die synoptische Tradition« (237–277) beginnt mit der Darstellung Jesu als Weisheitslehrer in der Logienquelle (237–245). Dann folgt »die Katastrophe als verborgener Triumph« (245–252) mit dem Spezifikum der Kreuzestheologie und des Messiasgeheimnisses bei Markus. Zu Lukas (252–266) werden »Der barmherzige Retter und die Barmherzigkeit der Geretteten« herausgearbeitet, »wie die Gegenwart Gottes in dem Menschen Jesus Christus nicht nur die Menschlichkeit des himmlischen Vaters erfahrbar macht, sondern auch auf die Menschwerdung der Gotteskinder zielt« (258; vgl. Lk 6,36). Bei Matthäus (266–274) ist Jesus »Der Lehrer der Liebe«, der durch seinen einzigartigen Gehorsam als Gottessohn »zum Urbild des Gott entsprechenden Menschen wird« (268; vgl. Mt 3,15; 5,48). Das vierte Kapitel entfaltet »Die Menschwerdung des Logos« in der johanneischen Tradition (278–300), in der durch den einziggeborenen Sohn die Rede vom Vater »gleichsam die zum Eigennamen gewordene Metapher für Gottes Liebe (ist)« (291). Das fünfte Kapitel gibt noch einen knappen Überblick über »Das frühkirchliche Zeugnis« mit unterschiedlichen Akzentuierungen im Verhältnis zwischen der Hoheit und dem Leiden Christi (301–327 zu Apg; Kol und Eph; Hebr; 1Petr; Offb).
Das »Nachwort: Der menschgewordene Gott und die Menschwerdung des Menschen« (329–332) rekapituliert im Grundkonflikt zwischen dem Schöpfer und seinem Geschöpf die starke Ausgangsthese vom »Weg der Liebe Gottes zur Welt und den Menschen« als Auslegung der Passion des Sohnes und seines ihn dahingebenden Vaters. Die Macht dieser göttlichen Liebe ist stärker als alle anderen Mächte dieser Welt. Sie begründet nicht nur die Hoffnung auf die Vollendung der Schöpfung, sondern wird im Doppelgebot der Liebe als Inbegriff des Gotteswillens schon gegenwärtig erfahrbar. »Die Menschwerdung Gottes als Grund und Ziel der Menschwerdung des Menschen ist deshalb Zentrum jeder biblischen Theologie christlicher Provenienz« (332).
Natürlich sind die Konzeptionen der Menschwerdung in den neutestamentlichen Schriften in der Reihenfolge ihrer Abfassung leichter darzustellen als deren alttestamentliche Vorgeschichte, die über einen sehr viel größeren Zeitraum sehr viel unterschiedlichere Traditionen, Vorstellungen und Hoffnungsträger analysieren, strukturieren und unter neuen Kategorien zusammenfassen muss. Hier ist im Blick auf das Neue Testament hilfreich, wie differenziert die Neuanfänge nach dem Exil an die Gestalt Davids anknüpfend in Abgrenzung, Fortführung und Steigerung von Heilserwartungen und Hoffnungsträgern vom Psalter über das Jesajabuch bis zu Daniel entwickelt werden. Am disparatesten sind die Identifikationsgestalten im vierten Kapitel vom Gottesknecht über Frau Zion und die makkabäischen Märtyrer bis zu Johannes dem Täufer. Aber auch in den Schriften des Neuen Testaments wird bei aller Konzentration auf das Christusgeschehen eine überraschende Vielfalt sichtbar.
Im Unterschied zu anderen Gesamtentwürfen werden nicht einzelne Loci oder Themen biblischer Theologie systematisch abgehandelt und auch keine einlinigen heilsgeschichtlichen Entwicklungslinien konstruiert. Vielmehr wird in einer traditionsgeschichtlichen Vorgehensweise aus unterschiedlichen Überlieferungen Gottes Be­ziehungswille, Liebe und Erbarmen mit Höhen und Tiefen, Nähe und Ferne, Gelingen und Versagen als treibende Kraft der Menschwerdung herausgearbeitet. Die einzelnen Texte werden historisch sorgfältig in ihrem ursprünglichen Kontext wahrgenommen und in religionsgeschichtlichen Vergleichen mit der altorientalischen, jüdischen oder hellenistischen Umwelt profiliert, wobei zwischen prägender Tradition und späterer Rezeptionsgeschichte differenziert wird (18.44.96.253 f.262.297). Herangezogen werden Qumrantexte, Philo und andere jüdische Schriften (vgl. Register), aber auch Zeus (291.305), Herakles (245.261.302) und Romulus (262), Sokrates (221.243.245), Platon (221.228 f.279) oder die Stoa (227–229.265.305–308). Erhellend sind mancherlei Rück- und Ausblicke auf den jeweils anderen Buchteil, durch die einzelne Aussagen noch weiter an Profil gewinnen. Exegetisch strittige Fragen werden als solche markiert. Bei den Hoheitstiteln wird die Frage offengelassen, wie es um ihre vorösterliche Geschichte bestellt sein mag (212).
Alles in allem bietet das Werk nicht nur eine steile Ausgangsthese, sondern begründet diese durch viele interessante Einzelbeobachtungen, ohne sich in Details zu verlieren. Die Wortspiele mit dem Motiv der Menschwerdung verraten ein starkes Interesse, die behandelten Inhalte nicht nur historisch nachzuzeichnen, sondern die erkannten Grundeinsichten auch in ihrer theologischen Tragweite zu entfalten. Leitfragen sind die Spannung von Hoheit und Niedrigkeit, Anspruch Gottes und Widerstand der Menschen, Gottesherrschaft und Selbsthingabe, Leiden und (All-)Macht, die in der Macht der Liebe als dem ausschlaggebenden Wesenszug Gottes konvergieren. Gottes Gottsein ist in der christlichen Theologie nicht ohne den Sohn zu begreifen, in dessen Hingabe die Liebe des göttlichen Vaters endgültig offenbar geworden ist, die seine geliebten Kinder zu menschlichen Menschen werden lässt. Das Buch ist ein großer Wurf, der nicht nur historisch solide gearbeitet, sondern auch über engere Fachkreise hinaus für theologisch Interessierte gut verständlich geschrieben ist. Durch seine absolut zentrale Fragestellung ist das Werk nicht nur für die Lehre in der Exegese, sondern auch als Grundlage für die systematisch-theologische Refle- xion sowie für Fragen des interreligiösen Dialogs, christlicher Anthropologie und Ethik sehr zu empfehlen!