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Ausgabe:

April/2019

Spalte:

301–305

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Schulze, Thies [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Grenzüberschreitende Religion. Vergleichs- und Kulturtransferstudien zur neuzeitlichen Geschichte. Hrsg. unter Mitarbeit v. Ch. Müller.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013. 319 S. m. 1 Tab. Geb. EUR 70,00. ISBN 978-3-525-31021-2.

Rezensent:

Markus Wriedt

Das Forschungsparadigma des Kulturtransfers spielt auch eine gewichtige Rolle in der Dokumentation eines Editorial Workshop, der vom 24. bis zum 25. März 2011 in Münster stattgefunden hat. In seiner Einleitung stellt der Herausgeber Thies Schulze zunächst fest, in welchem Rahmen er und die Beiträger den modisch gewordenen Begriff des Kulturtransfers verstehen. Er leitet ihn, ebenso wie Hartmut Kaelble, der einen theoretischen Überblicksartikel beisteuert, von dem bereits älteren Forschungsansatz des historischen Vergleichs ab (Block 1927). Dabei ist es müßig darüber zu streiten, wann und wo der Ansatz der Komparatistik seine Ur­sprünge ge­nommen hat. Wichtig ist vielmehr der Perspektivwechsel, der Phänomene nicht mehr isoliert wahrnimmt und bestenfalls kontextualisiert, sondern nunmehr als ein wechselvolles Be­ziehungsgeflecht beschreibt, das von einer Fülle an Faktoren be­einflusst wird. Religiösen Phänomenen kommt dabei das Verdienst zu, sich sehr früh den Grenzsetzungen von Territorien, Nationen oder Wirtschaftsräumen entzogen zu haben. Aber nicht allein darum wird dieser Untersuchungsgegenstand gewählt, sondern weil der historischen Rekonstruktion religiöser Zusammenhänge in besonderer Weise paradigmatische Bedeutung zukommt: Sie enthält ein Stück »Deutungskultur«, welche die ganze Wirklichkeit der Lebenswelt konstituiert (Thomas Nipperdey). Unter Berufung auf Rebekka Habermas kann die Hochkonjunktur der historiographischen Beschäftigung mit Religion auch dadurch erklärt werden, dass auf diesem Feld das Instrumentarium historischer Untersuchungen für dieses Gebiet fruchtbar gemacht werden kann.
So sind denn auch mit der Ausnahme des Religionswissenschaftlers Markus Hero alle Beiträgerinnen und Beiträger des vorliegenden Bandes Historiker. Sie rekrutieren sich aus Mitgliedern und lose verbundenen Forscherinnen und Forschern aus dem Umfeld des Münsteraner Exzellenz-Clusters »Religion und Politik«. Warum in dieser Zusammensetzung keine anderen Vertreter historisch arbeitender Disziplinen berücksichtigt worden sind, bleibt offen. Der Herausgeber muss sich fragen lassen, was er damit – ungesagt – in die Debatte einträgt, obwohl er nachweislich beispielsweise von Ansätzen der konfessionellen Kirchengeschichtsschreibung (13, Anm. 16) durchaus Kenntnis hat. Die Beiträge de-cken das weite Feld der neuzeitlichen Geschichte seit dem 16. Jh. ab. Sie alle sind geeignet, die Meistererzählung der den Entwicklungen der Moderne inhärierenden Tendenz zur Nationalstaatsbildung in einen größeren Zusammenhang zu setzen und so deren starre Grenzziehungen zu überwinden. Die Ansätze der historischen Vergleichsforschung und der Kulturtransfertheorie bieten unterschiedliche Analyseinstrumentarien, die in den folgenden Beiträgen miteinander in Beziehung gesetzt werden. Dabei gilt es, so­wohl im weitesten Sinne topographische Engführungen als auch die Priorisierung einzelner Methoden zu vermeiden.
Der emeritierte Sozialhistoriker Hartmut Kaelble aus Berlin entdramatisiert in seinem knappen Forschungsüberblick die progresstheoretisch oder das Konkurrenzparadigma überstrapazierenden Beziehungsdeutungen zwischen historischem Vergleich und dem Konzept des Kulturtransfers. Er behauptet, es habe sich eine wohltuende Normalität bei der vergleichenden Untersuchung von historischen Phänomenen eingestellt, die stärker Ge­meinsamkeiten als Differenzen der Vergleichsobjekte berücksichtigt.
Die folgenden Beiträge sind in vier größeren Zusammenhängen geordnet, deren erste drei sich auf europäische Geschichte konzentrieren und allein im vierten Kapitel einen Blick in den transkontinentalen Vergleich wagen.
Das erste Kapitel thematisiert das Beziehungsgeflecht von Herrschaft und Recht im Blick auf Praxis und Institutionen. Iris Fleßenkämper diskutiert das frühneuzeitliche Eherecht in Emden und Bremen als Feld konkurrierender Größen von säkularer und kirchlicher Ordnungshoheit. Beide reformierten Städte nutzen das gleiche Corpus an Rechtsordnungen. Dabei erweist sich die zunehmende staatliche Besetzung der gerichtlichen Fragen um Ehe und Familie als ein durchaus flexibles Aushandlungsfeld zwischen Kirche und Staat. Auch wenn im Zuge der weiteren Entwicklung nach der Reformation die staatliche Kontrolle Überhand gewinnt, werden die kirchlichen Entscheidungsträger nicht völlig marginalisiert. Am Beispiel der Region Cadiz im 19. Jh. fragt auch Jens Späth nach dem Bedeutungsgehalt von Religion in diesem vorzugsweise römisch-katholischen Gebiet. Der sich in Italien und Spanien herausbildende frühliberale Konstitutionalismus enthält die religiöse Ausrichtung als ein konstituierendes Element. Zugleich erlaubt die methodische Kombination von Vergleich und Kulturtransfer, dass die Übernahme der spanischen Verfassung in allen drei Gebieten beschrieben werden kann, sich darin aber doch erkennbare Unterschiede und Differenzierungen rekonstruieren lassen. Späth formuliert im Ergebnis seine These, dass hier ein südeuropäisches Spezifikum des politischen Liberalismus entstanden sei, das sich von ähnlich charakterisierten Prozessen in den liberalen Verfassungsstaaten der modernen westlichen Welt deutlich absetzt.
Drei Beiträge sind dem Bereich Bildung, Erziehung und Schule gewidmet. Stefan Ehrenpreis diskutiert Schulsysteme, Bildungsnetzwerke und religiöse Erziehungslehren. Vergleich und Transfer stellen dabei wichtige Elemente der Methodik frühneuzeitlicher Pädagogik dar. Er benennt drei Bereiche, in denen eine ergänzende Behandlung der Themen durch die Kulturtransferforschung angeregt werden kann. Zunächst fordert er eine genauere und quantifizierend bewährte Festlegung der grundlegenden Parameter frühneuzeitlicher Bildungsgeschichte. Sodann sollte der Transfer nicht länger auf Schulmodelle, Studierende und Lehrende be­schränkt werden, sondern den Austausch von Ideen und Lehrmaterialien in den Blick nehmen. Schließlich sind die methodischen Konzepte von Vergleich und Transfer sorgfältiger zu differenzieren und im Blick auf ihre Tauglichkeit für die frühneuzeitliche Bildungsgeschichte zu evaluieren. Christian Müller untersucht die Frühphase des Schulstreites in Belgien, Frankreich und den Niederlanden zwischen 1857–1870. Danach exerzierten unterschiedliche politische Gruppierungen anhand der Schulfrage ihre Vorstellungen vom moralischen Fundament der Gesellschaft und der Stellung ihrer Gruppe in der Gesellschaftsformierung durch. Die Gruppenmitglieder waren dabei national wie international gut vernetzt und trugen dazu bei, dass die Prozesse nicht getrennt voneinander abliefen. Müller formuliert eine steile These, wonach Religion in den transnationalen Diskussionsräumen vor allem als ein Mittel zur Abgrenzung und Definition politischer Positionen diente (138). Die dafür dienlichen Foren boten die wissenschaftlichen und katholischen Kongressbewegungen, in denen sich Liberale, Republikaner und Katholiken gleichermaßen positionierten. »Die religiös-politische Polarisierung der Gesellschaft wurde von den Kongressen propagandistisch unterstützt, die wiederum auf lokalen Netzwerken aufbauten und durch sie unmittelbar zurückwirkten. Auf die lokalen und nationalen Spannungen wirkten die transnationalen Kongresse als zusätzliche Katalysatoren zur Polarisierung der sich dialektisch entwickelnden Felder der dogmatischen und politisierten Religion und liberal-republikanischen und antiklerikalen Politik.« (139) Die dichte Formulierung der Thesen regt zur weiteren Diskussion an. Sie ist aber auch geeignet, Akteure und Aktanten in ihren individuellen Handlungen zu verschleiern und so zu abstrakten Intentionsmarkern zu kondensieren. Thies Schulze schließlich wendet sich der Gestaltung des religiösen Primarschulunterrichtes in Elsass-Lothringen und Südtirol in den 1920er Jahren zu. Kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs kam es in mehreren Staaten bei der Neukonstitution des Erziehungswesens zu öffentlichen De­monstrationen und einer in der Bevölkerung breit wahrgenommenen Debatte. Der Beitrag illustriert hervorragend, wie in der vergleichenden Untersuchung Gemeinsamkeiten, aber auch spezifische Differenzen der Regionen sichtbar werden. Insbesondere die internationale Einflussnahme führte zu recht unterschiedlichen Reaktionen der Bevölkerung. Der Mehrwert vergleichender Geschichtsforschung ist hier mit den Händen zu greifen.
Das dritte Kapitel wendet sich den Mischformen religiöser Praktiken zu und löst damit die engen Grenzziehungen religiös identischer Gesellschaften auf. Dominic Green beschreibt dies am Beispiel von Lord George Gordon, einem religiösen Aktivisten, der gleichermaßen gegen den Katholizismus wie auch die englisch-protestantische Staatskirche zu Felde zog. Green macht deutlich, dass dieser bisher nicht zu sehr beachtete radikale Reformer tatsächlich erst im internationalen Vergleich Profil gewinnt und als Vorläufer ideologischer Positionierung zu gelten hat, wie sie in der Französischen Revolution vorherrschte. Er stellt mithin keine britische Besonderheit, sondern den Typus eines marginalisierten Radikalen dar, mit dem die englische Geschichte sichtlich an der gesamteuropäischen Entwicklung partizipiert. Ekatarina Emeliantseva untersucht zwei marginale Gruppen in Polen und Russland. Auch ihre Untersuchung trägt zu dem einleitend erhobenen Befund bei, dass erst im transkulturellen Vergleich Eigenheiten und Gemeinsamkeiten hinreichend zur Sprache kommen – gleichwohl bleibt die Betrachtung des beschriebenen Phänomens insgesamt ein Sonderfall der europäischen Religionsgeschichte. Immerhin: Er ist geeignet, die These von der Mystik als Ausdrucksform marginalisier-ter und unterdrückter Gruppen zu unterstützen. Markus Hero betrachtet das in populären Wiedergaben häufiger schon beobachtete Feld des Einflusses Zen-buddhistischer Meditation und Frömmigkeit auf die Protestbewegungen der Nachkriegszeit. Die Adaption buddhistischer Praktiken erweist sich als ultimative Alter-nativität und dient der Inszenierung individueller Distanz zum herrschenden System. Der Buddhismus wird zum Lebensstil. Eine weiterführende Analyse der Alternativbewegung im Höhepunkt des Wirtschaftswunders nach dem Zweiten Weltkrieg ist im me­thodischen Ansatz des Kulturtransfers möglich und erst in Ansätzen geschrieben.
Das vierte Kapitel untersucht Religion in den kulturellen Verflechtungen Nordamerikas und trägt damit transatlantische Perspektiven in die Analysen ein. Ulrike Kirchberger untersucht die Wiedergabe indianischer Schöpfungsmythen in den Berichten britisch-protestantischer Missionare in der zweiten Hälfte des 18. Jh.s. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass die Übersetzungen der indianischen Aussagen in die englischsprachigen Texte der Missionare von christlichen Perzeptionen überfrachtet waren. Das bestimmt eine massive Asymmetrie des vermuteten globalen Kulturtransfers. Faktisch ist die Vermittlungsleistung der nordamerikanischen Missionare als gering einzuschätzen. Felicity Jensz untersucht Missionsgesellschaften und ihre rechtlichen Rahmenbedingungen in Australien und Kanada. Sie kommt zu dem – erwartbaren – Ergebnis, dass es bislang keine systematischen Vergleiche zu den Bildungsmöglichkeiten für die indigene Bevölkerung in den britischen Kolonien gibt. Sichtbar wird allerdings die anthropologische Abwertung der »Missionsobjekte«, denen die Weitergabe der christlichen Botschaft vor allem als Zivilisationsschub dienen sollte. Gleichermaßen sind der Missions- wie auch der Kolonialgeschichte damit wichtige Aufgaben gestellt. Der Abschnitt endet mit einer musikhistorischen Beschreibung des US-amerikanischen Oratoriums als musikalischer Gattung und seiner Verschmelzung religiöser Ausdrucksformen und politischer Indoktrination. Letztere trägt erheblich zur Ausbildung nationaler Identität und Überzeugung bei. Das Medium der Musik lässt dabei weiterführende As­pekte der Wissensvermittlung erkennen.
Auch für diese Dokumentation gilt, dass es eine in vielerlei Hinsicht lückenhafte und ergänzungsbedürftige Sammlung ist. Dennoch werden wichtige, innovative Forschungsansätze erprobt und exemplarisch durchgeführt. Nachwuchswissenschaftler erhalten so eine Plattform, sich auf dem großen Markt akademischer Angebote sinnvoll zu präsentieren. Insofern ist es müßig, sich über die Arbitrarität der Forschungsbeiträge zu echauffieren. Im Gegenteil: Die Beiträge reizen zum weiteren Nachdenken und der Überprüfung von Anschlussfähigkeiten der genannten Themen. Würde das Gespräch über diesen Band weitergeführt und die Beiträge nicht i n Regalen der Hochschulbibliotheken verstauben, wäre das ein schwer zu überschätzender Erfolg, der die finanziellen Investi-tionsleistungen der Förderungsorganisationen allemal kompensiert.