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Ausgabe:

April/2019

Spalte:

298–299

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Ceylan, Rauf, u. Benjamin Jokisch [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Salafismus in Deutschland. Entstehung, Radikalisierung und Prävention.

Verlag:

Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang 2014. 268 S. m. 2 Abb. = Reihe für Osnabrücker Islamstudien, 17. Geb. EUR 30,95. ISBN 978-3-631-64458-4.

Rezensent:

Friedmann Eißler

Der islamisch-fundamentalistischen Strömung des Salafismus (bzw. Neo-Salafismus, s. u.), die im Visier des Verfassungsschutzes ist, werden im Frühjahr 2018 in Deutschland etwa 11000 Menschen zugerechnet, davon gelten 1600 als »islamistisch-terroristisches Personen­potenzial«, die Zahl der akuten »Gefährder« wird auf weit über 500 beziffert. Gegenüber dem Zeitpunkt, an dem die Beiträge dieses Sammelbandes abgeschlossen waren, haben sich die Zahlen mehr als verdoppelt bis vervierfacht. Die Brisanz des Themas ist demnach nicht nur geblieben, sondern hat sich verschärft, auch wenn es sich im Ganzen um ein schmales Segment im Spektrum des Islams in Deutschland handelt (weniger als 0,2 Prozent der Muslime).
Der Band enthält zwölf Beiträge, von denen die meisten auf eine Tagung des Instituts für Islamische Theologie der Universität Osnabrück im Januar 2013 zurückgehen. Zwei Drittel werden dem Bereich »Geschichte und Gegenwart des Salafismus in der islamischen Welt« zugeordnet, ein Drittel dem Thema »Salafismus in Deutschland: Aspekte der Radikalisierung und Radikalisierungsprävention«. Deutschland ist im Fokus der Untersuchungen, intensivere Seitenblicke gelten aber etwa Ägypten und Tunesien. Ein gemeinsames Interesse, das auch einleitend hervorgehoben wird, ist die Darstellung des Salafismus als insgesamt neuartiges Phänomen, »das sich historisch nicht als ein dem Islam wesensimmanentes Element erklären lässt« (8), und damit verbunden das Ziel, durch die Herausarbeitung der Abkoppelung des Salafismus von der etablierten islamischen Gelehrsamkeit einem Generalverdacht gegenüber »dem« Islam als Ganzes entgegenzuwirken. Der Rückbezug auf Traditionen des frühen, ursprünglichen Islam ( salaf) sei für nahezu alle islamischen Strömungen charakteristisch und dürfe nicht als Rechtfertigung dienen, eine generelle Prädisposition des vormodernen Islam für den Salafismus der Gegenwart festzustellen.
Es ist folgerichtig, dass Definitionsfragen eine wichtige Rolle spielen. Dabei wird in der Regel auf die relevanten historischen Phasen (Ahmad b. Hanbal, 9. Jh.; Ibn Taimiyya, 13. Jh.; Ibn Abd al-Wahhab, 18. Jh.; »Reform-Salafiyya« Ende des 19. Jh.s) Bezug genommen, allerdings wird der empfohlene Begriff »Neo-Salafiyya« so­wohl auf die Entwicklung seit dem 19. Jh. angewendet (A. Kozalı) als auch gerade im Unterschied zu dieser modernistischen Bewegung – gelegentlich inkonsistent – für die rezenten politisch-extremistischen Formen gebraucht (B. Dziri, M. Kiefer).
Die nicht nur quantitativ, sondern qualitativ sehr unterschiedlichen Beiträge geben durch unterschiedliche Perspektiven und Herangehensweisen differenzierte Einblicke in die geschichtlichen Entstehungszusammenhänge des Salafismus in seiner Vielfalt und seiner innerislamischen Selbst- und Fremdverortung (B. Jokisch, B. Dziri, M. Diaw), analysieren die Terrorstrategie dschihadistischer Gruppierungen (E. Sukhni) oder die Transformationen seit dem »arabischen Frühling«, die einerseits zur Politisierung salafitischer Gruppierungen mit wechselnden Chancen und Risiken beitrugen (und ihrer Konfrontation mit der von Teilen des Spektrums abgelehnten politischen Partizipation, Beispiele Ägypten und Tunesien), andererseits ihren reaktionären Charakter offenbarten (S. Zemni). Dass der ursprünglich nicht auf der Tagung vorgetragene Beitrag von Silvia Horsch zum dschihadistischen Märtyrerkult aufgenommen wurde, wertet den Band auf. Das in der islamischen Tradition auf das Jenseits ausgerichtete Märtyrerkonzept, so die gründliche Analyse, wurde durch den Palästinenser A. Azzam (1941–1989) neuformuliert und zur wirksamen Propaganda um­funktioniert, indem er verschiedene moderne Einflüsse (die u. a. altorientalische Mythen der Wiederbelebung des Landes durch einen sterbenden Gott adaptierten) bündelte, durch Bezugnahme auf die sunnitische Figur des Schlachtfeldmärtyrers »islamisierte« und als »Medienpionier« diese »synkretistische Märtyrerfigur« so aufbereitete, dass der durch ihn maßgeblich initiierte mediale Märtyrerkult bis in die heutige Internetpropaganda und den Cy­berdschihad seine globale Wirkung entfaltet. Die daraus gefolgerte These wird freilich weiter zu diskutieren sein: Der Dschihadismus sei eine Deformierung des Islam, deren Zustandekommen offenzulegen ein Mittel im (legitimen, als geistiger Kampf verstandenen) Dschihad sei.
Eine Diskussion, die auf den ersten Blick spitzfindig wirken kann, aber ebenfalls weiterzuführen ist, bezieht sich auf die Frage, wie »säuberlich« zwischen puristischen, politischen und dschihadistischen Salafiten geschieden werden kann (Kategorisierung von Wiktorowicz). Die Beantwortung hat erhebliche Folgen für die Einschätzung von Radikalisierungsprozessen. R. Lohlker zeigt in seiner er­hellenden Studie die eminent politische Dimension aller salafitischen Strömungen überzeugend auf (Identitätsbildung, lebensweltliche Kodierung, politische Effekte auch in der Absage an »Politik« und im Widerstand gegen gesellschaftliche Zustände), gerade auch der sekundäre Charakter ihres religiösen Anteils im Sinne einer (dekulturalisierten) »reinen Religion« (»Mutation« des Religiösen) unterläuft die Wiktorowiczsche Unterteilung (176.178.183 f.). Die von Forschern prognostizierte friedliche Option des Salafismus ist weniger denn je in Sicht. Andere ( C. Dantschke, S. Damir-Geilsdorf, teilweise mit weiteren Unterscheidungen) sehen hingegen in der Klassifizierung ein notwendiges Instrument der Differenzierung, um der pauschalen Kriminalisierung des gesamten Spektrums zu wehren. Dantschke hat detaillierte Informationen zu Situation und Szenen in Deutschland, die den Salafismus vor allem als Jugendsubkultur beleuchten, wobei in der Konkretion und bei den Zahlen dann auch deutlich wird, dass der Band schon einige Jahre alt ist. Dies ist aufs Ganze gesehen zu verkraften, eine hervorragende, konzise Analyse von Radikalisierungsprozessen und Optionen zur Deradikalisierung legt beispielsweise M. Abou Taam wie an anderen Stellen so auch in diesem Buch vor.
So lohnt sich die Lektüre auch und vielleicht gerade unter dem Vorzeichen, dass die Distanzierung »des Salafismus« von »dem Islam«, die hier und da programmatisch aufscheint, nach wie vor und immer wieder produktiv und konstruktiv hinterfragt werden muss.