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Ausgabe:

März/2019

Spalte:

270–272

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Möller, Rainer, Pithan, Annebelle, Schöll, Albrecht, u. Nicola Bücker

Titel/Untertitel:

Religion in inklusiven Schulen. Soziale Deutungsmuster von Religionslehrkräften.

Verlag:

Münster: Waxmann Verlag 2018. 266 S. Kart. EUR 29,90. ISBN 978-3-8309-3819-4.

Rezensent:

Wolfhard Schweiker

Mit dieser empirischen Studie zu sozialen Deutungsmustern von Religionslehrkräften betreten die vier wissenschaftlichen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen am Comenius Institut Münster Neuland in der inklusiven Religionspädagogik. Sie ist die erste empi-rische Untersuchung in diesem Feld, die auf akademisch fundierte Weise die theologischen, soziologischen, sozial- und erziehungswissenschaftlichen Expertisen des Autorenteams ertragreich zu­sammenführt. In der von der UN-Behindertenrechtskonvention (Art. 24) vorgegebenen und der Bildungspolitik unterstützten schwierigen Transformation zum inklusiven Schulsystem bietet diese Studie wichtige empirische Hinweise, vorhandene Hürden zu überwinden. Dabei setzt sie beim zentralen Gelingensfaktor der Lehrerhaltung an und bietet nach zahlreichen inklusionsorientierten schulpädagogischen Studien erste Ergebnisse für das Fach Religion, das religiöse Lernen und die Professionalisierung der Aus- und Fortbildung von Religionslehrkräften an inklusiven Schulen. Die zugrundeliegenden Interviews wurden 2012/13 an drei im Aufbau befindlichen inklusiven Schulen in unterschiedlicher Trägerschaft (ev.; privat nicht-kirchlich; staatlich) in neun Fallstudien durchgeführt. Neben kirchlichen und staatlichen Religionslehrkräften wurde auch ein Integrationshelfer, eine Schulleiterin, eine didaktische Leiterin mit dem Fach Deutsch und das interreligiöse Team der Fachschaft Religion befragt, während sonderpädagogische Fachkräfte fehlen. Die Transkriptionen wurden mit der qualitativen Methode der objektiven Hermeneutik (Ulrich Oevermann) so ausgewertet, dass soziale Deutungsmuster der Interviewten im Blick auf ihr Inklusionsverständnis und auf ihre inklusive (religions-)pädagogische Praxis rekonstruiert wurden.
Die Arbeit gliedert sich in acht Hauptkapitel. Nach einer Einleitung werden im zweiten Kapitel (14–26) die beiden wesentlichen Kontexte dargestellt. Zum einen wird ein gründlicher Überblick zur Entwicklung von Inklusion gegeben und der Diskussionsstand um inklusive Bildung in Deutschland mit ihren Spannungen entfaltet. Zum anderen werden die Konturen einer inklusiven Religionspädagogik im Zusammenhang der wissenschaftlichen Debatte gezeichnet und ein Schwerpunkt auf das Konzept einer inklusiven Religionspädagogik der Vielfalt gelegt, das alle Differenzlinien be­rücksichtigt ( Thorsten Knauth/Pithan/Möller et al.). Ausgangspunkt der Studie ist ein weiter Inklusionsbegriff, der jedoch durch das spezifische Untersuchungssetting wieder eingegrenzt wird. Denn der Schwerpunkt der Studie liegt auf der Kategorie Dis/Abil-ity, da Schulen ausgewählt wurden, in denen ein besonderer Fokus auf das gemeinsame Lernen von Schülern mit und ohne Behinderung gerichtet wird (21).
Das dritte Kapitel (27–38) bietet einen umfassenden Überblick über den aktuellen Forschungsstand der empirischen Arbeiten zu teacher beliefs und subjektiven Theorien von Lehrkräften zur In­klusion. Acht quantitative Studien werden kritisch dargestellt und fünf qualitative im Blick auf das Forschungsvorhaben ausgewertet mit dem Ergebnis, »dass das Einstellungsobjekt ›Inklusion‹ in vielen Untersuchungen zu undifferenziert erfasst wird« (38). Auch müssten mit Blick auf das Fachgebiet der Lehrer die Erhebungen durch qualitative Untersuchungen spezifiziert werden, zumal die Einstellungsforschung zur Inklusion im angelsächsischen Raum eine deutlich längere Tradition aufzuweisen hat und hierzulande insbesondere noch ein qualitativer Forschungsbedarf herrscht.
Im vierten Kapitel (39–49) werden die genannten empirischen Analyseinstrumente aufschlussreich beschrieben und nachvollziehbar ausgeführt, wie die mentalen Repräsentationen von Lehrkräften durch tiefenstrukturelle Elemente erweitert erhoben werden können. Dabei werden mit dem Konzept der sozialen Deutungsmuster (Ulrich Oevermann) kollektive Sinnstrukturen analytisch freigelegt, die den subjektiven Theorien zugrunde liegen (41).
Im fünften Kapitel (50–163) werden neun Fälle ausführlich analysiert und verglichen. Hier zeigt sich beeindruckend, wie sich mit dem sequenzanalytischen Vorgehen der objektiv-hermeneutischen Methode aus den Interviewtexten durch das akribische Herausarbeiten unterschiedlicher Lesarten und in wissenschaftlicher Dis-tanz überraschende Erkenntnisse heben lassen. Zu­gleich führt der Grundsatz der textinternen Kontextfreiheit jedoch zu der kontextuellen Unschärfe, dass die angestrebte differenzierte Wahr-nehmung von Inklusion als Idee, praktische Verwirklichung und Rahmenbedingung (33) nur undeutlich in den Blick kommt. Die Fallanalysen mit gleichbleibendem Aufbau (Analyse, Strukturhypothesen, Facetten) sind der Lektüre empfohlen, da sie einen anregenden Reichtum an Denk- und Praxiseinsichten erschließen.
Das sechste Kapitel (164–211) identifiziert im Vergleich der Fälle folgende gemeinsame Faktoren, die auf das Inklusionsverständnis Einfluss nehmen: biographische und berufssozialisatorische Erfahrungen, Zuständigkeitszuschreibungen, Teamarbeit und allgemeine Werthaltungen.
So konnte z. B. identifiziert werden, dass die selbst- und fremdzugeschriebenen Zuständigkeiten eng mit der sozialen Position einer Person im Schulsys-tem zusammenhängen (188) oder kaum explizit theologische Begründungen angeführt wurden (249). Im siebten Kapitel (212–243) werden aus den empirischen Daten – wie genau bleibt offen – drei Spannungsfelder gewonnen, die das Inklusionsverständnis systematisierend konstituieren und Aspekte der theoretischen Fachliteratur bestätigend differenzieren. Es sind: Programmatik versus Pragmatik, Heterogenität versus Homogenität und Individualität versus Gemeinschaftlichkeit. Das abschließende achte Kapitel (244–256) fasst den Ertrag der Studie zusammen und zieht bedenkenswerte Folgerungen für die Aus-, Fort- und Weiterbildung, die gründlich rezipiert werden sollten, wie z. B. die große Differenziertheit von Inklusionsverständnissen bei Lehrkräften, die mit unterschiedlichen Konzeptualisierungen von Heterogenität einhergehen oder die Homogenisierungsstrategien von Lehrkräften, die als Instrument zur Bewältigung von Herausforderungen in der inklusiven Unterrichtsgestaltung eingesetzt werden (245).
Diese Studie ist ein gewichtiger und fachlich profunder Beitrag der bislang kaum wahrgenommenen Differenzkategorie Religion im pädagogischen Inklusionsdiskurs sowie des spezifischen Faches innerhalb der schulischen Inklusionsforschung. Für die Theorie- und Praxisreflexion der inklusiven Schulentwicklung als auch für die Lehrerbildung gibt sie bereichernde, zukunftsweisende Im-pulse. Als erste empirische Studie ist sie für die inklusive Religionspädagogik bahnbrechend und sollte unter der noch stärkeren Be­rücksichtigung der Schulartspezifik weitere vergleichbar profunde Studien zu Lehr- und Lernprozessen oder den Perspektiven von Schülern und Eltern nach sich ziehen.