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Ausgabe:

März/2019

Spalte:

251–253

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Burger, Hans, Huijgen, Arnold, and Eric Peels [Eds.]

Titel/Untertitel:

Sola Scriptura. Biblical and Theological Perspectives on Scripture, Authority, and Hermeneutics.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2017. XII, 372 S. = Studies in Reformed Theology, 32. Kart. EUR 65,00. ISBN 978-90-04-35517-0.

Rezensent:

Yong Seuck Cho

Der Grundsatz sola scriptura (allein durch die Schrift) steht neben den drei weiteren »Kampfbegriffen« des sola fide, sola gratia und solus Christus für Martin Luthers reformatorischen Neuaufbruch in Theologie und Kirche. Der unbedingte Primat der Bibel avanciert so auch zum Alleinstellungsmerkmal des Protestantismus in seiner Abgrenzung zur römisch-katholischen Kirche, denn nunmehr gilt einzig die Heilige Schrift als normative Größe der Kirche, was dem Dualismus von Schrift und Tradition ein Ende gesetzt hat. Doch das Verständnis von sola scriptura ist heute anders als in der Reformationszeit, denn es hat nunmehr nicht nur selbst bereits wieder Deutungstraditionen generiert, sondern wissen wir zudem heute auch, dass die Bibel selbst erst in einem komplexen Tradi-tionsprozess entstanden ist.
Um die aktuelle Relevanz dieses protestantischen Zentralbegriffs für die Gegenwart zu bestimmen, ist hier anlässlich des Reformationsjubiläums von 2017 versucht worden, die Bedeutung des reformatorischen Grundsatzes für unsere Zeit zu erweisen. Das Buch ist das Ergebnis der gemeinsamen Arbeit von Exegeten, Systematikern, Kirchengeschichtlern und praktischen Theologen, und es eröffnet so einen umfassenden Blick auf die Rolle des reformatorischen Schriftprinzips. Im Folgenden fasse ich die zentralen Thesen der Autoren zusammen, um so ihre Positionen zu skizzieren.
Aus reformatorischer Perspektive ist die ganze Schrift also von Jesus Christus her und auf ihn hin zu lesen und zu interpretieren, und insofern ist das Prinzip des sola scriptura primär als Glaubensbekenntnis in soteriologischer Perspektive zu verstehen. Van den Belt versucht allerdings zu zeigen, dass der Leitgedanke des sola scriptura gar nicht so zentral für die reformierte Theologie gewesen ist, wie zumeist postuliert wird. Daher plädiert er dafür, anstelle von sola scriptura von prima scriptura zu sprechen. Dies bedeutet, dass auch Zugänge zur Gotteserkenntnis, die nicht auf den Kanon der Heiligen Schrift zurückgehen, bei ihrer Interpretation hilfreich sein können. Allerdings sind sie mit der Schrift sorgfältig zu prüfen und zu korrigieren, falls sie ihr zu widersprechen scheinen.
Vor allem ist jedoch zu beachten, dass zwischen der Bibel als Text und dem Wort Gottes unbedingt zu unterscheiden ist, weil Letzteres ein Ereignis Gottes ist, das zum Hörer spricht; für diese Auffassung stehen vor allem Ernst Fuchs und Gerhard Ebeling. Erst im Wortereignis der Predigt kann Gottes Wort vernommen werden, insofern die Heilige Schrift die primäre Darlegung des Wortes Gottes ist. In dieser Tradition plädiert Willen Maarten Dekker dafür, mit Dalferths radikaler Theologie zu einer Erneuerung der hermeneutischen Theologie zu gelangen, um dem Gedanken des Wortereignisses in der postmodernen Welt gerecht zu werden.
Aus biblischer Perspektive bedeutet sola scriptura, dass der Text des Alten Testaments entsprechend seiner textlichen Selbstdarstellung behandelt werden sollte. Jedoch bedeutet sola scriptura im Blick auf die Hermeneutik prophetischer Texte, dass dem Text kein allzu wörtlicher oder übermäßig spiritueller Ansatz aufgezwungen werden sollte, sondern dass sein Charakter selbst respektiert werden muss. Darum ist es gefährlich, sola scriptura als den einen hermeneutischen Schlüssel anzusehen, als ob die Bedeutung des Textes ohne weitere Studien zugänglich wäre.
Luthers Ablehnung der aristotelischen Philosophie als Deutungsrahmen kann auch für uns noch als Warnung dienen, denn keine philosophische Weltsicht darf das Verständnis der Heiligen Schrift bestimmen, insofern für ihn das Wort Gottes eine lebendige Realität ist. Dies bedeutet aber nicht zugleich auch eine Verwerfung der kirchlichen Tradition und ihrer Lehrbildung. Calvins Beharren auf der Heiligen Schrift bedeutet nicht, dass er die Tradition der Kirche ignoriert, denn er ist vielmehr davon überzeugt gewesen, dass das Dogma der Kirche eine relevante Rolle spielen kann, wenn die Kirche Christus unterworfen ist. In Blick auf die Praktische Theologie bedeutet sola scriptura also eine kritische Re­flexion der Praxis der Kirche, die als gläubige Gemeinschaft in so­zialer Dimension dieser Leitidee zu folgen sucht. Diese Reflexion ermöglicht alternative Diskurse, die erörtern, wie man Schriftstellen liest und sich über Themen, die für Glaubensgemeinschaft wichtig sind, auseinandersetzt.
Am Ende des Buches reflektieren zwei Theologen dessen Bei-träge. In grundsätzlicher Übereinstimmung mit diesen stellen sie zwei Konsequenzen des Schriftprinzips heraus. Brian Brock betont, dass der Gebrauch der Heiligen Schrift die Glaubensgemeinschaft voraussetzt, wenn wir den lebendigen Gott loben und an ihn glauben, denn es geht dem reformatorischen sola scriptura um die Gemeinschaft mit Christus. Kevin J. Vanhoozer unterstreicht die Lebensdimension des Schriftprinzips, denn insofern Schrift bedeutet, dass Gott mit dem Menschen kommuniziert, besteht der Zweck der Heiligen Schrift folglich nicht nur darin, ihre Leser zu informieren, sondern sie auch in das Bild Christi zu verwandeln.
In reformatorischer Tradition ist Kirche als Gemeinschaft, die durch das Wort Gottes ins Dasein gerufen wurde, eine Kreatur des Wortes Gottes (creatura verbi). In soteriologischer Perspektive im­pliziert diese Auffassung, dass sich die Heilige Schrift als das lebendige Zeugnis von Christus durch den Heiligen Geist erweist, und im weiteren Sinne ist sola scriptura somit als Glaubensbekenntnis verstehbar. Dennoch ist zu beachten, dass die Heilige Schrift kein isoliertes, sondern ein kontextgeprägtes Buch ist, weshalb sie eine Vielfalt von menschlichen Glaubensstimmen wiedergibt. Deshalb bedeutet sola scriptura als reformatorisches Schriftprinzip zugleich die Freiheit zur Erforschung des Schrifttextes mit allen exegetischen, historischen und kritischen Mitteln, um dieser Vielfalt gerecht zu werden, und es schränkt daher die Freiheit der Exegese keinesfalls ein.
Ein Defizit des Buches ist, dass keine Kritik am biblischen Fundamentalismus, der gegenwärtig gerade weltweit immens an Einfluss gewinnt, geübt wird, weil gerade diese Position sich vehement auf das sola scriptura beruft, um ihre Legitimität zu beweisen. Zwar scheint dieser Fundamentalismus in der Nachfolge der Reformatoren zu stehen, um so die Unfehlbarkeit und überzeitliche Wahrheit der Bibel zu garantieren, aber aus reformatorischer Perspektive gilt es zu beachten, dass einzig das aus der Heiligen Schrift hervorgehende Evangelium als gegenwärtiges Wort Gottes soteriologische Bedeutung für die Glaubenden beanspruchen kann.