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Ausgabe:

März/2019

Spalte:

247–249

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Hog, Michael

Titel/Untertitel:

Die anthropologische Ästhetik Arnold Gehlens und Helmuth Plessners. Entlastung der Kunst und Kunst der Entlastung.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2015. VIII, 263 S. = Philosophische Untersuchungen, 36. Lw. EUR 69,00. ISBN 978-3-16-153559-8.

Rezensent:

Martin Hahn

Kunst kommt spätestens seit dem 18. Jh. eigenständiger Heilscharakter zu, auch und gerade für viele der Religion Entfremdete. Gleichzeitig rückt, auch als Frucht des langen Gespräches zwischen Ästhetik und Theologie, in jüngsten systematischen Entwürfen das Bildvermögen als anthropologische Schnittstelle und Quellgrund von Religion neu und anders in den Fokus. Ästhetik und Theologie tangieren sich also ausweislich dieser Einsichten bis in die tieferen Ebenen: bis ins anthropologische Fundament ihrer Gegenstände, möchte man sagen. Unter den aktuellen Vorzeichen entwickelt sich daher auch theologisches Interesse an einer Ästhetik mit anthropologischem Anweg.
Michael Hog, dessen Dissertation am Lehrstuhl des Berliner Philosophen Volker Gerhardt entstanden ist, sucht nun grundlegend Bedingungen, Möglichkeiten und Schwächen einer solchen anthropologischen Ästhetik auf. Er kommt darin der skizzierten theologischen Wissbegier entgegen, freilich aus ganz eigenen Mo­tiven:
H. beginnt mit einer kontrastiv an Baumgarten angelehnten Zeitdiagnostik: infelix aestheticus. Nach einem profunden Boom des Äs-thetischen in den Jahren um die zweite Jahrtausendwende befindet sich die Disziplin aktuell in einer Grundlagen- und Ausrichtungsdebatte. H. optiert darin für ein transversales Verständnis von Ästhetik (vgl. 4) und nimmt mit seinem Unterfangen Rufe nach anthropologischer Selbstverständigung der Ästhetik auf. Jedoch gerade Anthropologie – als Metawissenschaft par exellence – ist nicht nur Vorbild, sondern ein potentiell wackeliger Partner im Bunde mit der Ästhetik. Nachgerade Anthropologie wird mitunter als Etikettenschwindel diffamiert – besonders, wenn sie das absconditus des Menschen als ihr Prinzip in sich aufgenommen hat, weil sie um eine andernfalls ideologieträchtige, fossilierende Festlegung des Menschlichen weiß. Sie hat dann mitunter ähnlich gelagerte Infragestellungen wie die Ästhetik selbst auszuräumen. Die Kombination beider – anthropologische Ästhetik also – stellt eine Verbindung dar, die zwar befruchtend, aber gleichwohl auch instabil sein könnte.
Aufgrund der erheblichen Materialfülle seiner beiden Referenzautoren, bescheidet H. sich in seiner Plessner-Rezeption und lässt die Rekonstruktion der zuvor kaum erschlossenen Zeit-Bilder Gehlens größeren Raum greifen. Die den Zugriff orientierende Fragestellung zielt hierbei auf das zwischen den Liminalbegriffen Über- und Aberkunst Befindliche: das ästhetische Subjekt, den homo aestheticus absconditus (vgl. 9). H. leistet eine kurze Synopse aller einschlägigen Werke und einen Abriss des Verhältnisses der beiden Antipoden, das gerade bei der plessnerschen Wertschätzung von Gehlens Zeit-Bildern zum Stehen kommt (vgl. 33). Daraufhin geht er in erster Annäherung auf ihr Kunstverständnis ein: Kunst hebt die Negierung des Individuellen im Alltag auf (vgl. 38). Sie wird beiderseits als Stellungnahme zu sich selbst im Medium der Kultur verstanden, als ein zweckfreie Reflexion evozierender Bewusstseinsausdruck und zugleich auch kulturell-zeitgeschichtlicher Index (vgl. 40 f.). Aufgabe einer Ästhetik des gesuchten anthropologischen Zuschnitts kann deshalb die Hebung der in der geschichtlichen Kunst aufbewahrten Menschenbilder sein (vgl. ebd.)
Im weiteren Verlauf erschließt die Arbeit die anthropologischen Momente (Kapitel 3): Plessners Ästhesiologie erscheint in H.s sachkundiger Zuspitzung als Theorie der Expressivität, die grundlagentheoretisch von der Ausdrucksform Kunst/Musik als Medium, auf die Verfasstheit menschlicher Anlagen, Fähigkeiten und Be­dürfnisse rückschließen will: den »Sinn der Sinne« (vgl. 49 ff.). Damit greift H. Plessner auf und verweist darin gleichermaßen untergründig auf seinen Lehrer Gerhardt (»der Sinn des Sinns«).
Gehlen hingegen wird in seinem Bemühen sichtbar, über die Veränderung von Instinktstrukturen die physiologische Verankerung des Schönen aufzuzeigen. Spekulativ schließt er aus Retardationen im Entwicklungsprozess des Menschen auf damit überschüssig gewordene Potentiale: eine daraus erwachsende »Urphantasie«, die durch Kunst der lebensdienlichen Selbststeigerung zu­geführt wird (vgl. 78). In handlungsphilosophischer Stützung seiner Institutionentheorie kommt zudem bildanthropologisch bzw. religionstheoretisch Einschlägiges zum Vorschein. Visuell wird Gehlen zufolge vermittels des Bildes die bedrohliche Außenwelt vergegenwärtigt und stabilisiert. Ehemals als archaische In-stitutionalisierung von Riten entstanden, dient das Bild Trieb-dynamiken invertierend der Verstärkung des affektiven selbststeigernden Erlebnismomentes. Damit leistet es die Entlastung von Vergangenheit, Zukunft, wie auch der aufdringlichen Außenwelt der jeweiligen Gegenwart (vgl. 84 f.).
Diesen Befund aufnehmend mündet der Gang der Untersuchung nun in einen zweiten Hauptteil (Kapitel 4), der das Denken Plessners und wiederum vor allem Gehlens in kunstsoziologisch-kulturphilosophischer Hinsicht aufschlüsselt. Gehlens Zeit-Bilder (aufgelegt 1960, 1968 und 1986) subsumieren die westeuropäische vormoderne Kunstgeschichte unter dem Gesichtspunkt abnehmender Außenstabilisierung und sich verstetigender Subjektivierung. Durch sein ausführliches Eingehen auf die Zeit-Bilder schafft es H., Gehlens Ambivalenzen gegenüber der Kunst der Moderne offenzulegen und herzuleiten: Moderne Kunst ist mit Gehlen theoriegesättigte Reflexionskunst, die sich als solche ausweisen kann, indem sie die Gedanken aufruft und gleichzeitig ab- und weiterverweist, aufwallende Emotionen ausleuchtet und darstellt, letztlich ihre eigene Sinnhaftigkeit bedenkt (vgl. 121 f.). Allgemeine, sich selbst reflexiv gewordene Subjektivität, wie sie sich nach seiner Deutung etwa im Kubismus ausdrückt, findet daher Wohlwollen, wie auch abstrakte oder hyperrealistische Darstellungen der Nachkriegszeit (vgl. 133). Den Expressionismus hingegen kritisiert Gehlen als illegitime subjektivistisch chaotische Verfallsform des Individualismus, die nicht seiner eingeforderten Entlastungsleistung der Kunst gegenüber einer kapitalistischen Industriegesellschaft zu genügen vermag (vgl. 170.176 f.). Die Entlastung der Kunst ist hier, wie der Titel andeutet, eine doppelte: Sich selbst entlastend von Eindeutigkeiten wird sie zur Oase des Betrachters, den sie vom allgemeinen Eindeutigkeitsverlangen entlastet.
H. beschreibt jedoch nicht nur und bereitet entlegene Passagen werkübergreifend auf, seine Arbeit ist im guten Sinne kritisch. Die Würdigung von Gehlens Entlastungskategorie geht einher mit dem Verweis auf deren flache kunstsoziologische Basis: eine Kunst, die einer behaupteten kollektiven Sprachverarmung und Überforderung des Menschen in der Moderne entspricht. So werden die Inkonsistenzen gerade Gehlens analysiert und andemonstriert, wenn dieser die Kunstgeschichte in eine Posthistoire seiner Gegenwart auslaufen sieht, in der lediglich Altes neu aufgelegt wird. Insgesamt ist der Studie vielfach zwischen den Zeilen zu entnehmen, dass H. die anthropologischen Ansätze zu einer Ästhetik für würdigenswert erachtet, sich jedoch nicht scheut, Reduktionismen und den – gerade beim späten Gehlen einschlägigen – Defätismus gegenüber einer kunstgeschichtlich relevanten Zukunft aufzuzeigen (vgl. besonders 196 ff.). So betitelt er schließlich auch sprechend sein Fazit: »das Ende des Endes« (Kapitel 5). Er hält darin nicht nur die Ergebnisse seiner Studie fest, sondern Gehlens behaupteter Posthistoire auch die künstlerischen Entwicklungen unserer Zeit entgegen (vgl. 214 f.).
H. spürt Stärken und Schwächen der Ansätze beider Philosophen auf und leistet einen gerade in Bezug auf Gehlens Ästhetik neuen, instruktiven Aufriss. Die Stärke der Arbeit liegt auch in ihrer Bereitschaft, den vielfältigen Interessenlagen der Kontrahenten nachzugehen: Plessners musikwissenschaftliche Beiträge und wichtige Überlegungen im Hinblick auf den Menschen als Schauspieler finden sich aufgerufen, wo es dem Gang der Untersuchung dient. Die Fülle des eingeflossenen Materials spiegelt sich dabei nicht zuletzt in einem gut 34 Seiten umfassenden Literaturverzeichnis. Wie eine anthropologische Ästhetik material aus oder an den herausfiltrierten Denkanstößen entstehen soll, bleibt jedoch weiter aufgegeben.
Einige bei der Lektüre gekommene Gedanken seien hier angefügt: Plessner hat mit seinem Vorbehalt des absconditus des Menschen ein in der Folge durchsetzungskräftiges Moment in die an­thropologische Theoriebildung aufgenommen. Er stellt einen Ge­sprächspartner – bisweilen auch Opponenten – dar, mit dem die theologische Anthropologie seit Pannenberg im Dialog begriffen ist und dessen Einsichten weiter auszuloten sind (so etwa zu beobachten bei Ralf Meyer-Hansen). Sowohl die ästhesiologische Blickrichtung Plessners, die von den Ausdrucksweisen des Menschen auf die Sinne zurückfragt, erscheint bedenkenswert, als auch Gehlens an­thropologisch hergeleitetes Entlastungs- und Stabilisierungsmoment von Umwelt durch Kunst. Die religionssoziologisch evidente Funktion der Religion als Kontingenzbewältigung bekommt hier ihr Analogon in der anthropologisch-handlungsphilosophischen Perspektive – beides aufeinander zu beziehen, liegt nahe. Ein »Sich-verpusten-können« (Gutmann) vermöge der Kunst.
H. hebt also nicht nur ein Desiderat im Hinblick auf Gehlen und Wissenswertes in Bezug auf Plessner: Er erschließt beide in neuem Facettenreichtum – auch der Theologie.