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Ausgabe:

März/2019

Spalte:

235–239

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Harasimowicz, Jan [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Protestantischer Kirchenbau der frühen Neuzeit in Europa. Grundlagen und neue Forschungskonzepte. Protestant Church Architecture in Early Modern Europe.

Verlag:

Regensburg: Verlag Schnell + Steiner 2015. 352 S. m. zahlr. Abb. Geb. EUR 76,00. ISBN 978-3-7954-2942-3.

Rezensent:

Antje Roggenkamp

Vorliegender Sammelband bildet Erkenntnisse eines internationalen Workshops ab, der unter der Leitung des Breslauer Kunsthistorikers Jan Harasimowicz im Wissenschaftlichen Zentrum der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Wien im Spätherbst 2013 stattfand. Im Hintergrund steht das Gesamtprojekt »Protestantischer Kirchenbau vom 16.–18. Jahrhundert in Europa«. Diesem Unterfangen dienen zahlreiche Abbildungen von hoher Qualität.
Jan Harasimowicz (11–20) stellt das Anliegen des Projekts sowie insbesondere das methodische Vorgehen vor: Die Geschichte des Kirchbaus in den Ländern Zentraleuropas, die sich für reformatorisch erklär(t)en – von Dänemark bis Rumänien, von Frankreich bis (Weiß-)Russland – soll unter Berücksichtigung räumlich-funktionaler Strukturen (u. a. Grundriss, Baukörper, liturgische Ausgestaltung) synthetisch beschrieben werden. Dabei geht es nicht zuletzt um den Aufbau einer digitalen Datenbank.
Agnieszka Seidel-Grzesińska (21–26) skizziert vor diesem Hintergrund digitale IT-Tools, verweist auf die Zusammenarbeit mit Foto Marburg (MIDAS) und spricht Probleme an, die sich aus der Zusammenführung verschiedener nationaler Traditionen (u. a. Veränderung der Patrozinien, unterschiedliche Kanzeltypologien) ergeben.
Helmut Umbach (27–36) fragt nach dem heiligen Raum bei Luther, den jener in der Versammlung der Gläubigen als Machtbereich des Heiligen Geistes verortete: Die zentrale Stellung des Altars in der Gemeinde bilde diese Vorstellung ab.
Rudolf Leeb (37–48) thematisiert die Heiligkeit des reformatorischen Kirchenraums. Gegenüber vormals katholischen Kirchbauten sei im evangelischen Kirchenraum zwar alles »gleich profan«. Während aber in der lutherischen Tradition des 17. Jh.s sich Heiligkeit im Raum des Gottesdienstes ereigne – u. a. in Gestalt eines Abendmahlsraums, einer Bundeslade oder Himmelsburg –, sei bei Calvin der Gläubige der wahre Tempel Gottes.
Marcin Wisłocki (49–58) befasst sich im Spiegel der Einweihungspredigten pommerscher Kirchneubauten mit lutherischen Ausstattungsstücken, die sich zwischen der »altgläubigen Idolatrie« sowie »bilderfeindlichen reformierten Meinungen« (55) einen Weg bahnen, der allegorisch-trinitarisch gedeutet wird.
Brigitte Bøggild Johannsen (59–74) untersucht Strategien der royalen Herrscher Dänemarks, mit denen sie sich die Kirchenregierungen gefügig hielten, um ihrerseits von diesen Bindungen zu profitieren: Kirchneubauten werden nach Mitgliedern der königlichen Familie benannt, im Alten Testament findet sich die dänische Geschichte und Topographie vorgebildet: Im Gegenzug räumt der König der von der lutherischen Orthodoxie geprägten Nationalkirche erhebliche Vorrechte gegenüber anderen Denominationen ein.
Ritta Laitinen (75–80) befasst sich mit dem lutherischen Kirchbau in der Diözese Turku, dessen Zustand um die Mitte des 17. Jh.s desolat genannt zu werden verdiene. Die Einrichtungsgegenstände veränderten sich fortan, ohne dass sich dies in den entsprechenden Ordnungen (»diocesan regulations«) widergespiegelt habe.
Justin E. A. Kroesen (81–98) behandelt – ausgehend vom Grundsatz, dass die Reformation eine Zäsur in westlicher Christentumsgeschichte gewesen sei – den niederländischen Kirchbau, von dem er ein anderes Bild entwirft als Pieter Saenredams Gemälde. Umwandlungen der ursprünglich katholischen Kirchengebäude bestanden vielfach in einem Kompromiss. Neben der Entfernung überladener Bilder und Kultgeräte habe man mittelalterliche Ausstattungsstücke in veränderter Form beibehalten. Dies gilt etwa für Lettner, die man mit den Zehn-Gebote-Tafeln versah, aber auch für Kanzeln, die selbst in calvinistischer Zeit nicht strikt bilderlos blieben. Die vielen Grabmäler von Herrschergestalten hätten allerdings das »house of the Lord« vielerorts in ein »house of a lord«, den Chor in einen Privatchorraum verwandelt.
Konrad Ottenheym (99–114) beschreibt Konzepte des neu entstehenden Kirchbaus in den Niederlanden. Während sich zunächst griechische Kreuze und oktogonale Figuren als zentrale Grundrisspläne imponierten, übernahm der Kirchneubau zunehmend den traditionellen Längsbau sowie ältere Motive. Am Beispiel der Nieuwe Kerk in Den Haag weist der Vf. den Einfluss mittelalterlicher Strukturen nach – u. a. eine offene Dachkonstruktion, lange Fenster in modern-gotischem Stil sowie Säulen.
Hugo Johannsen (115–130) zeigt die Entwicklung des Kirchbaus in Dänemark auf. Wurde in einer ersten Phase – wie in den Niederlanden – das Mittelalterliche einer alternativen Verwendung zugeführt, so erhielt insbesondere das »boomende« Kopenhagen zwischen 1588 und 1641 verschiedene neue Kirchen. In der Folgezeit setzte sich der dänische Absolutismus auch insofern durch, als Mitglieder des niederen Landesadels zahlreiche Kirchbauten errichteten: Der jütländische Gutsbesitzer Lichtenberg besaß 1739 nicht weniger als 20 Kirchen.
János Krähling (131–146) befasst sich mit protestantischen Kirchenraumlösungen in Ungarn. Während aus einer ersten Zeit (1541–1681) nur wenige Spuren erhalten sind – lediglich im Norden und Osten gestatteten Landbesitzer ihren Untertanen nicht-katholische Gottesdienste in umgewandelten Kirchenräumen –, setzte im Zuge zunehmender Tolerierung (gemeinsame Türkenabwehr) zwischen 1681 und 1781 der Bau von Bethäusern und (hölzernen) Artikularkirchen ein – ohne Turm, aber mit Glocken. Zwischen 1781 und dem 19. Jh. entstanden unterschiedliche Kirchengebäude, die lutherischen Bauten wiesen mittelalterliche Reminiszenzen auf, die calvinistischen tendierten zu modernen Ausdrucksgestalten.
Ulrich Fürst (147–160) befasst sich mit den Wandpfeilerkirchen, die er nicht als spezifische Konstruktion, sondern als Raumgestaltung (charakteristische Wölbungen) interpretiert. Während zunächst keine Konfessionsspezifika erkennbar gewesen seien, existierten seit 1618 (fast) ausschließlich katholische Wandpfeilerkirchen.
Jeffrey Chipps Smith (161–174) untersucht die Frage, ob und inwiefern die Konfessionen im lutherischen und jesuitischen Kirchbau des 16. Jh.s spezifische Ausprägungen durchsetzten. Aufgrund der Analyse von sechs Einzelstudien betont er die Gemeinsamkeiten, weist aber darauf hin, dass das Äußere der lutherischen Kirchen in Bückeburg und Wolfenbüttel dekorativer gestaltet sei als dasjenige der Jesuitenkirchen in Neuburg, Düsseldorf und Molsheim.
Kathrin Ellwardt (175–188) arbeitet heraus, dass die Querkirche u. a. wegen der Zugeständnisse an die Liturgie im Norden und (Süd-)Westen Deutschlands als typisch evangelischer Kirchbau anzusehen sei: Sie eröffnete zugleich die Nähe der Prinzipalstücke zur Herrschaftsloge und ermöglichte die Umsetzung des Priestertums aller Gläubigen. Für die nachtridentinische Liturgie eignete sie sich hingegen nicht.
Hans Caspary (189–198) unterstützt die Darlegungen Ellwardts mit Blick auf die Breitsaalkirche, deren spezifische Ausprägung und Entwicklung er für die Territorien Nassaus nachzeichnet. Eva-Maria Seng (199–214) befragt (süd-)deutsche Simultaneen, d. h. Kirchengebäude, die von zwei Konfessionen gemeinsam genutzt wurden, auf mögliche Aushandlungsprozesse hin. Erst das Innere offenbare die Differenzen – u. a. Gitter, zwei Altäre, zwei Kanzeln, aber auch hervorkragende Emporen. In den Konfessionalisierungsprozessen übten die Benutzer zunehmend tolerante Haltungen ein, auch Handwerker und Bürger beteiligten sich an den Diskursen.
Anna Ginter (215–228) befasst sich mit dem Kirchbau in London, nachdem der Brand von 1666 68 von 106 Kirchen vernichtet hatte. Dabei rückt insbesondere Christopher Wren in den Fokus, der nicht nur die wieder aufgebauten 51 Kirchen entwarf, sondern auch für St. Pauls Cathedral und deren funktionalen, aber reservierten Stil der »Englishness« verantwortlich zeichnete.
Sibylle Badstübner-Gröger (229–244) beschreibt den Einfluss der Réfugiés in Preußen (Edikt von Potsdam vom 29.10.1685). Während die Hugenotten zumeist profane Gebäude für gottesdienstliche Zwecke umnutzten, lassen die wenigen Neubauten spezifische Spuren des Erinnerten (u. a. Charenton) erkennen: elliptische oder ovale Grundrisse, die Zweigeschossigkeit, Emporen, aber auch die liturgische Achse.
Ruth Slenczka (245–256) macht darauf aufmerksam, dass sich mit der Reformation korporative Projekte von Städten und Gemeinden in landesherrliche Bauprojekte verwandelten. Dies blieb nicht ohne Auswirkungen auf die Kirchenraumgestaltung, insofern sich gerade in Kursachsen frühzeitig Herrscherporträts auf Altarretabeln oder im Turmknaufarchiv nachweisen lassen. Durch die Vergegenwärtigung der Bauherren werde die Gemeinde zur Gemeinde der Untertanen eines sakral legitimierten, auf den Altar erhobenen Herrschers und seiner Familie.
Ernst Badstübner (257–270) macht darauf aufmerksam, dass weniger die spätgotischen Hallenkirchen als vielmehr die Schlosskapellen an den Höfen protes-tantischer Landesherren Vorbilder für den protestantischen Kirchbau waren. Die wegen der Fürstenloge zumeist erhöhte Anbringung der Kanzel habe den Prediger der Gemeinde auf Zeit »entzogen«. Diese Konstruktion sei im Landkirchenbau nicht selten wiederholt worden, auch um die staatsbildende Stabilität des Gemeinwesens zu fördern.
Krista Kodres (271–282) berichtet von der Konkurrenz, die sich aus dem ius patronatus (Recht auf Pfarrbesetzung) zwischen schwedischer Obrigkeit und landesherrlichem Patronat in Estland ergab. Die Grundbesitzer errichteten die Kirchengebäude möglichst günstig, d. h. überwiegend aus Holz, schmückten dafür aber Chor- und Innenraum reichlich aus. Zwar bekamen alle Kirchen Altarretabel und Kanzel, der Kirchenraum aber wurde privatisiert, um die Familien »sichtbar« zu machen. Den spärlichen Kirchenbesuch der meist leibeigenen Bauern »kompensierte« der Wirtshausbesuch.
Kai Wenzel (283–298) zeichnet die Entwicklung des Kirchbaus in Böhmen für die unterschiedlichen protestantischen Denominationen (Utraquisten, Böhmische Brüder, Lutheraner) nach. Die erhebliche Vielfalt und Verschiedenheit der kirchbaulichen Lösungen verschwindet im Zuge der Rekatholisierungen.
Justyna Chodasewicz (299–308) stellt die Veränderungen an der Pfarrkirche St. Peter und Paul in Landeshut zusammen. Der Anbau des asymmetrischen 4. Seitenschiffs sei dem liturgischen Blick auf die Kanzel geschuldet, die (vergebliche) Suche nach möglichen Vorbildern diskutiert u. a. Graubünden in der Schweiz.
Jerzy Krzysztof Kos (309–322) beschreibt die Entwicklung des Kirchbaus in Schlesien zwischen 1741 und 1815. Während das Preußischwerden Schlesiens den Kirchbau insbesondere für die Protestanten forcieren konnte (95 % werden von lutherischen, 5 % von reformierten Gemeinden oder Herrnhutern errichtet), unterbindet die Einführung der preußischen Normalkirche um 1815 jede Form der Vielfalt. In dem Zeitraum zuvor entwickelte sich ein Sudetentypus in massiver Bauweise (rechteckig, Tonnengewölbe, Walmdach) sowie im Norden und Osten in kostengünstigerer Bauweise eine zentrale Grundrissgestaltung mit entsprechendem Fachwerk. Die Auftraggeber dürften vielfach Gemeinden, Magistrate oder einzelne Bauherren gewesen sein, die spontan zum Kirchbau entschlossen waren.
Miloš Dudaš (323–332) bespricht die ungarischen Artikularkirchen, die aus finanzieller Not entstanden. Man verzichtete auf Marienstatuen und Heiligenbilder und führte insbesondere biblische Gestalten in den Kircheninnenraum ein. Der hölzerne Bautyp kann aus Schweden »importiert« worden sein.
Wojciech Gruk (333–344) befasst sich mit den schlesischen Friedenskirchen sowie den ungarischen Artikularkirchen, deren Material sie als Kirchengebäude zweiter Klasse ausweist. Ein Einfluss der schlesischen auf die ungarischen Artikularkirchen könne nicht ausgeschlossen werden.
Das Projekt, das die Geschichte des protestantischen Kirchbaus im Europa der Frühen Neuzeit nachzeichnet, legt nicht nur erste Ergebnisse vor. In Umrissen bildet sich bereits eine Vorstellung dessen heraus, was als protestantischer Kirchbau angesprochen werden kann – u. a. Quer- und Breitsaalkirchen, aber auch Schlosskapellen. Im Einzelnen fallen Vielfalt in Grundriss, Gestalt des Kirchengebäudes, Anordnung der Prinzipalstücke (besonders Kanzel und Altar), aber auch zeitliche Kontextualisierungen auf – signifikant u. a. dargestellt an Kursachsen, den Niederlanden, Estland und Ungarn. Topographische Beziehungen werden dort sichtbar, wo man sie nicht unbedingt vermutet: Sind die ungarischen Artikularkirchen von den schlesischen Friedenskirchen oder den schwedischen Holzkirchen inspiriert?
Das Verhältnis von Macht und Herrschaft stellt sich im protes-tantischen Kirchbau lutherischer, aber überraschenderweise auch reformierter Provenienz imponierend dar: Landesherren, Fürsten, aber auch Niederadelige sowie Patrizierfamilien und sonstige einflussreiche Kaufleute prägten mit ihren Machtinsignien (u. a. Tafeln, Wappen, Epitaphien) den jeweiligen Kirchenraum. Privatlogen in estnischen und niederländischen (Dorf-)Kirchen scheinen den Gemeinden den Zutritt zum Chorraum eher verstellt als eröffnet zu haben. Demgegenüber hinterließen Verfolgung und Rekatholisierungen in Ungarn und Böhmen wenige Spuren. Auch die Erinnerung an hugenottische Vorbildbauten ist in Preußen – und das heißt im Berliner Stadtbild – weniger präsent, als es Annahmen über die Toleranz des Großen Kurfürsten nahelegen.
Dass nicht spätgotische Hallenkirchen, sondern die frühneuzeitlichen Schlosskapellen den Urtyp protestantischen Kirchbaus bilden, ist eine naheliegende Konsequenz. Allerdings dürften dabei auch andere Faktoren – u. a. die gewandelte Liturgie – zu nennen sein. Der übrige Kirchbau folgte keinen konfessionellen Rastern oder Vorgaben, wie es der – später zugunsten des katholischen Typus revidierte – Umgang mit den Wandpfeilerkirchen zunächst nahelegt. Auch differieren lutherische und jesuitische Bauten des 17. Jh.s kaum. Dass auch die Konfessionalisierung im Kirchbau weniger sozialdisziplinierend als aushandelnd und auf lange Sicht ausgleichend eingestuft werden muss, legt die Entwicklung der zum Teil noch heute existierenden Simultaneen nahe.
Der Ansatz des Projekts lässt vielfache weitere Forschungen zu: Auf den Zusammenhang mit jeweiliger theologischer Tradition weisen die Autorinnen und Autoren hin. Über historiographische Hinweise hinaus scheint mir die Befassung mit den protestantischen Kirchen der Frühen Neuzeit auch Fragen an die Gegenwart zu richten. Sie sind es wert, in der Praktischen Theologie (u. a. Liturgik, Homiletik, Poimenik) weiter diskutiert zu werden: Wie kommt das Heilige zur Sprache? Wie wird dem Protestantischen im Gottesdienst Rechnung getragen? Wie kommt das gepredigte und verkündigte Wort darin vor?
Der Sammelband lenkt den Blick auf die Mitte Europas in der Frühen Neuzeit, in deren Zentrum die veränderten konfessionellen Bedingungen und (kirchen-)politischen Machtverhältnisse stehen, er stellt aber auch ein methodologisches Instrumentarium zur Verfügung, das seinesgleichen sucht. Schließlich dokumentiert er in mustergültiger Weise eine neue, durch die Arbeiten von Jan Harasimowicz angeregte Ausrichtung in der Erforschung des protestantischen Kirchenbaus.