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Ausgabe:

März/2019

Spalte:

226–231

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Süss, René

Titel/Untertitel:

Luthers Theologisches Testament: Von den Juden und ihren Lügen. Einleitung und Kommentar. Aus d. Niederländ. übers. v. R. Kragt unter Mitarbeit v. R. H. Arning. Überarb. u. hrsg. v. A. Pangritz.

Verlag:

Bonn: Orient & Okzident Verlagsgesellschaft 2017. 410 S. Kart. EUR 40,00. ISBN 978-3-9806216-7-0.

Rezensent:

Dorothea Wendebourg

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Pangritz, Andreas: Theologie und Antisemitismus. Das Beispiel Martin Luthers. Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang Edition 2017. 570 S. Geb. EUR 79,95. ISBN 978-3-631-73362-2.


Fritz Stern, in Breslau getaufter Protestant mit jüdischen Vorfahren, dann durch Hitler »zum Juden gemacht«, stellte in seiner Autobiographie fest, ihm seien schon als angehendem amerikanischen Historiker »all die Wälzer über Deutschlands unausweichlichen Weg ›von Luther zu Hitler‹ […] kindisch und verschroben [vorgekommen]«. Kindisch und verschroben angesichts dessen, »wie kompliziert die Frage nach den Wurzeln des Nazismus in Wirklichkeit war« – im Grunde habe man so nur das »nationalsozialistische Credo« mit umgekehrter Wertung fortgeschrieben. Tatsächlich hat die mit dem Holocaust befasste jüdische Geschichtswissenschaft, die seit Raul Hilbert nach dem Krieg die Linie Luther – Hitler wirkmächtig zeichnete, differenziertere Analysen entwi-ckelt, in Saul Friedländers Standardwerk Das Dritte Reich und die Juden kommt der Reformator nicht einmal im Register vor. Zu denen, die gleichwohl unverdrossen jüngst wieder einen solchen »Wälzer« (570 Seiten) präsentiert haben, gehört Andreas Pangritz. Und nicht genug damit, hat P. im selben Jahr auch noch die deutsche Fassung einer 2006 (22010) in den Niederlanden erschienenen Dissertation herausgebracht, in der er vieles findet, was er selbst vertritt. Der Autor René Süss war Pfarrer der Niederländisch-reformierten Kirche, schloss sich dann aber, in den Spuren seines Vaters, eines Juden, der jüdischen Gemeinde an.
Zunächst zu dem älteren Buch von S. Es umfasst zwei Teile: eine kürzere Einleitung, die von den Juden in Europa zu Luthers Zeit, von der Hebräischen Bibel in seiner Theologie und von seiner Sicht von Gesetz und Evangelium und den Zwei Regimenten handelt sowie einen kurzen Durchgang von Texten Luthers zum Umgang mit zeitgenössischen Juden bietet, und einen längeren Kommentar zu Von den Juden und ihren Lügen nebst knappem Fazit. Der Kommentar, auf den wir uns hier konzentrieren, verfährt so, dass er einzelne Themen behandelt, die »aus dieser Schmähschrift besonders herausragen« (127). Dazu werden jeweils Sätze Luthers in Zitat oder Paraphrase zusammengetragen, interpretiert, zum Teil mit jüdischen Quellen konfrontiert und als Vorläufer späterer antisemitischer, vor allem nationalsozialistischer Schmähungen und Maßnahmen identifiziert, wobei S. auch mit letzterem Schritt beginnen kann. Im Vergleich mit anderer Literatur zum Thema befriedigt S.s Kommentar freilich nicht. Nicht allein, dass der Blick durch die Brille der Erfahrungen des 20. Jh.s zu mancherlei Fehlinterpretation der Aussagen Luthers verleitet (nur zwei Beispiele: Luthers Vorwurf, die Juden rühmten sich, nicht als Tiere, Heiden und Frauen geboren zu sein [WA 53, 420,4–16], zielt keineswegs auf die Feststellung, sie behaupteten zu Unrecht, Menschen zu sein [145]; Luther strebte nicht wie die Nationalsozialisten nach einer »judenreinen Welt« [33], sondern – was schlimm genug ist, aber nicht dasselbe – nach »judenreinen« protestantischen Territorien, weshalb er die Juden am liebsten in Palästina, »ihrem Vaterland«, gesehen hätte). Vor allem bleiben die Hinweise auf jüdische Texte wie christliche Gewährsleute und Luthers Umgang damit an Zahl und in der Differenziertheit der Analysen weit hinter dem zurück, was z. B. Peter von der Osten-Sacken und Matthias Morgenstern geboten haben (s. etwa den sehr oberflächlichen Abschnitt zu den Toledot Jeschu, 139–143). Und auch die Ausführungen zur Rezeptionsgeschichte, die die Brücke in die nationalsozialistische Zeit schlagen sollen, tragen dem Stand der Forschung nicht Rechnung.
Was Letztere betrifft, lässt sich bei S. ein interessanter Selbstwiderspruch feststellen. Einerseits verbindet er, in den Spuren Hilbergs, nationalsozialistische Propaganda und Politik recht um­standslos mit angeblich durchweg, vom 16. bis zum 20. Jh. geläufigen judenfeindlichen Texten Luthers, vor allem mit der Schrift Von den Juden. Andererseits weiß er, dass man sich »[v]on den Kenntnissen, die es auch in Deutschland von dem Reformator und seinen Werken gab, […] keine allzu rosigen Vorstellungen machen [sollte], selbst unter Theologen nicht« (200), ja, »daß man sich auch in der nationalsozialistischen Zeit weniger mit den Texten Luthers be­schäftigte, als möglich gewesen wäre«, und dass »nur in Einzelfällen angenommen werden« könne, dass Texte wie Von den Juden »Menschen im gesamten Rahmen der Nazipropaganda unmittelbar inspiriert und zu Taten motiviert hätten« (201); und er merkt an, dass die Texte von denen, die sie kannten, auch meist kritisiert worden seien (22). Auf diesem Hintergrund sieht S. die für die Juden fatale Erbschaft weniger in Anleihen bei theologischen Schriften des Reformators als in der Verquickung von lutherschem Erbe und Deutschtum, die zur Ausgrenzung des Judentums geführt habe (208). Das ist eine Überlegung, für die vieles spricht. Zweifel sind freilich angebracht, wenn S. diese für ihn im Nationalsozialismus kulminierende Entwicklung darauf zurückführt, dass schon bei Luther »das ›Deutschtum‹ vor dem ›Christentum‹ [steht]« (205), eine These, die er vor allem mit der Adelsschrift belegt (202–207).
Die Behauptung von Pangritz, S.s Dissertation sei »eine der umfangreichsten und gründlichsten Untersuchungen von Luthers Judenfeindschaft« (11), lässt sich schwerlich halten. Doch P. preist und ediert die Dissertation wegen eines bestimmten Zuges, der auch sein eigenes Buch beherrscht: S. zeige den »strukturellen Zusammenhang«, der zwischen Luthers Judenfeindschaft, wie sie sich besonders heftig in Von den Juden ausdrückt, und seiner Theologie bestehe (13), woraus folge, dass mit der fälligen Kritik an seiner Judenfeindschaft Luthers Theologie selbst »in ihrem Kern getroffen« sei (15). In der Tat läuft für S. Luthers gesamte Theologie auf die Schrift Von den Juden und ihren Lügen hinaus, sie sei sein »theologisches Testament« (Titel), das schließlich der sich selbst immer »gläubig« nennende Hitler (292) vollstreckt habe (289). Das ist, wie S. weiß, eine bislang fast nur von nationalsozialistischen Theologen vertretene (22) These, die er nun durch seine Untersuchung der »immer noch maßgeblichen Texte Luthers« (43) – inwiefern soll Von den Juden »immer noch« und überhaupt »maßgeblich« sein? – bestätigen will. Allerdings ist es nicht sein einziges, ja, nicht einmal sein wichtigstes Anliegen: »Wichtiger noch« sei ihm »die Feststellung, daß Luther im Neuen Testament genug Anknüpfungspunkte« für die Verbindung von Theologie und Judenhass fand. D. h., worum es S. geht, ist nichts weniger als eine grundsätzliche »Frage an die Adresse der am Neuen Testament orientierten Theologie und der Kirchen überhaupt« (43), eine Fundamentalkritik an der gesamten Christenheit, für die »das Neue Testament unverbrüchlich mit dem ›Alten Testament‹ zusammen« als normative Schrift gilt (137).
Der Kern dessen, was nach S. hier in Frage zu stellen ist, ist die Christozentrik, die Annahme, dass in dem in Jesus von Nazareth erschienenen Messias und Gottessohn das Heil für alle Menschen liegt (44.238). Weil darin auch die Juden eingeschlossen seien – auch Röm 9–11 entwerfe ja ein »christliches Heilsszenario« (241) –, werde ihnen ein eigener Heilsweg abgesprochen, damit aber, so schließt S. kurzerhand, letztlich auch das »Existenzrecht« überhaupt (33 f.). Ebendiese nach S.s Meinung zwangsläufig in die Auslöschung der Juden mündende Christozentrik bestimme Luthers Schrift Von den Juden wie seine gesamte Theologie. Doch bringe Luther hier nur die reformatorische Variante jener Lehre vor, die die »christliche Identität« der »weltweiten Christenheit« ausmache (22), so wie er »mit seiner Haltung zu den Juden keineswegs einmalig war« (236) und in dem, was er gegen die Juden geschrieben habe, zwar ein neuer »Ton«, aber wenig neue Elemente zu finden seien (24). Das Spezifische in Luthers Variante der gemeinchristlichen judenfeindlichen Theologie sieht S. in der gesetzeskritischen Lehre von der Rechtfertigung (65–80.308). Aber dieser Punkt ist in seinen Augen von eingeschränktem Gewicht; auch eine positivere Sicht des Gesetzes hätte wohl wenig gebessert, weil der entscheidende Gegensatz geblieben wäre, der christologische, der mit der jüdischen Ablehnung Jesu als des Messias gegeben sei (80). D. h., um wirklich den »strukturellen Zusammenhang« von Judenfeindschaft und Theologie freizulegen, gilt es nach S., alle Aussagen Luthers über die Juden auf die »christozentrische Determination« als »ihren Kern rückzubeziehen« (23). Von hier aus seien seine Urteile über die zeitgenössischen Juden ebenso wie seine Sicht ihrer Bibel, des »Alten Testa ments«, bestimmt (24.61.64). Wenn man aber diesen Kern der lutherschen Theologie freilegt, kommt man zum Kern des Neuen Testaments selbst. In sich »absolutistisch« christologisch (238), womit schon hier quer durch die neutestamentlichen Schriften unweigerlich die christologische Deutung des Alten Testaments verbunden ist (137), stellt dieses Buch selber ein »antijüdisches Zeugnis« (236) dar, das immer wieder Früchte wie Luthers judenfeindliche Schriften gebar und gebiert (26). Ja, das in seinem Antijudaismus so weit ging, wie Luther nie gegangen ist (237). Dieser Wurzelfehler des Christentums wäre nach S. nur mit einem das bisherige Neue Testament ersetzenden »neuen Kanon« zu beheben – doch dass die Christenheit diesen Schritt gehen wird, erscheint ihm selber zweifelhaft (26).
Verglichen mit Süss ist sein Herausgeber Pangritz ein Waisenknabe. Zwar scheint der Titel seines eigenen Buches eine ähnliche Generalabrechnung mit dem Christentum zu verheißen, indem er Luther als »Beispiel« für die Verbindung von Theologie und Antisemitismus vorstellt. Doch geht es P. um Luther allein. Seine auf den Reformator beschränkte und hier möglichst rabiate Kritik bietet P. den Schild, mit dem er das Christentum gegen die Art von Generalangriff abschirmt, wie S. ihn führt. Anders gesagt, P. betreibt Luther-Bashing, um S.’ Christentums-Bashing zu vermeiden. Die grundsätzliche Christentumskritik, auf die S.’ Buch hinausläuft, wird von P. sowohl in der Einleitung zu dessen Dissertation als auch in der Zusammenfassung dieses Buches, die er in seinem eigenen gibt (141–151), verschwiegen. Nicht die Augen verschließen kann er vor der ebenso kritischen Argumentation, die er bei dem Literaturwissenschaftler und studierten Theologen Norbert Mecklenburg lesen muss (183–185). Auch nach Mecklenburg nämlich hat Luthers Haltung gegenüber den Juden im biblisch-neutestamentlich begründeten Christentum selbst ihr Fundament; dieses sei hier mit einem unbehebbaren »Grunddilemma« behaftet (184). P. wirft Mecklenburg vor, »über das Ziel [hinauszuschießen]« (184). S eine Lutherinterpretation würde darauf hinauslaufen, das am Neuen Testament orientierte Christentum abzuschaffen (185). Dasselbe gilt für die Interpretation von S., bei ihm aber nimmt es P. nicht in den Blick. Gegen Mecklenburg stellt er hingegen fest, das sei »nicht gerade eine realistische Perspektive« (185). »Realistischer« scheint es demgegenüber zu sein, dem »Artikel, mit dem die Kirche steht und fällt«, den Abschied zu geben (224). Theologie nicht als Geschäft der Wahrheitssuche, sondern der gedanklichen Realpolitik?
Folge von P.s Bemühung um Lutherkritik ohne Gefahr für das Christentum ist die Wahl seines Schwerpunktes: Während für S. die Weichen des jüdisch-christlichen Gegensatzes bei Luther wie im Christentum überhaupt in der Christologie gestellt sind, der ge­genüber die Rechtfertigungslehre an zweiter Stelle steht, be­schränkt sich P. ganz auf diese. Er nennt es sein systematisch-theologisches Anliegen gegenüber den ansonsten fast durchweg his-torisch ausgerichteten Beiträgen zum Thema »Luther und die Ju­den« (13), Luthers Rechtfertigungslehre als den Punkt herauszustellen, an dem seine Judenfeindschaft und seine Theologie unlösbar miteinander verbunden seien und der deshalb aufgegeben werden müsse, wenn man den Antisemitismus des Reformators überwinden wolle. Angesichts dieses Programms sollte man erwarten, dass im Mittelpunkt des Buches eine Analyse von Luthers Rechtfertigungslehre und der von P. darin identifizierten Schwierigkeiten stehe. Das ist aber nicht der Fall. P. bringt vielmehr selbst überwiegend Historisches vor, so einmal mehr einen Durchgang durch die Reihe der thematisch relevanten Schriften Luthers (255–409), der diese sehr selektiv wahrnimmt (z. B. wird Luthers Judenschrift von 1523 unbekümmert als die Zulassung der Juden an die Konversion bindende Missionsschrift vorgestellt [277 f.] und die da­zu nicht passende, der gleichzeitigen Obrigkeitsschrift korrespondierende Feststellung, wenn es Juden gebe, die das Christentum ablehnten, sei das zu ertragen, auch in der Kirche seien j a längst nicht alle gute Christen, WA 11, 336,33 f., schlicht nicht mitgelesen) und der hinter der vorliegenden Literatur zurückbleibt, sowie Ausführungen zur Rezeptionsgeschichte bei Juden und Protestanten (439–446.456–463), für die das erst recht gilt.
Demgegenüber fällt das, was nach dem Thema des Buches sein Herzstück ist, das Kapitel »Martin Luthers Rechtfertigungslehre und ihre Probleme« (III), sehr mager aus: Ihm sind gerade einmal 27 Seiten gewidmet, und dem entspricht die inhaltliche Dürftigkeit. Luthers Rechtfertigungslehre wird zunächst einmal dargelegt nach den Schriften Von den guten Werken und Von der Freiheit eines Christenmenschen. Was P. hier bietet, ist abenteuerlich. So behauptet er, nach der ersten Schrift solle es keine guten Werke geben als die, die Gott verboten habe (198) – im Text steht aber, es gebe keine Sünde als die, die Gott verboten hat (WA 6, 204,14 f.). Weiter wirft P. Luther vor, dass er hier »die Aufhebung aller Ethik durch den Glauben« verfechte (198) – um einige Seiten später zu schreiben, »[d]as Prinzip sola fide schließe die Werke […] ein«, Glaube und Werke verhielten sich »inklusiv«. In der Freiheitsschrift hingegen träten sie »antithetisch auseinander« (202); da hier »die Liebe im Glauben eingeschlossen [also doch inklusiv?] sei«, habe das Gesetz keine Geltung mehr, sei somit die ganze Rechtfertigungskonzeption, ohne dass Luther die Juden erwähne, antijüdisch (207 – NB: Später [485] fordert P. selbst eine solche Inklusion der Liebe im Glauben). Es braucht kaum gesagt zu werden, dass beide Schriften die Ethik nicht aufheben, dass sie dieselbe »inklusive« Sicht des Verhältnisses von Glaube und Werken vertreten und beide das Gottesverhältnis ebenso wie die Motivation des Handelns beim Christen im Glauben und nicht in Forderungen Gottes angesiedelt sehen. Diese Pointe, um die es bei der Entgegensetzung von »Gesetz und Evangelium« geht (nicht etwa um eine Aufhebung der Ethik und auch nicht um eine Aufhebung der Freude am Erfüllen des Gotteswillens [209], die vielmehr gerade so möglich sein soll), wird bei P. nicht wahrgenommen, wie etwa der Vorwurf zeigt, dass nach der Freiheitsschrift »die Werke nur noch als Ausfluß der Liebe, nicht mehr als Tun des Gesetzes gelten« (223). Verbunden wird die Kritik an der Entgegensetzung von Gesetz und Evangelium mit der an den ebenso als antijüdisch qualifizierten particulae exclusivae; namentlich das sola fide, das auf die Bejahung einer Reihe für Juden inakzeptabler dogmatischer Sätze über Christus hinauslaufe, verfällt diesem Verdikt (216–220). Stärker unterbestimmen lässt sich das, was Luther über Glauben und Christus zu sagen hat, kaum.
Eine so schwache Entfaltung von Luthers Rechtfertigungslehre soll die Beweislast tragen, dass hier im Kern seiner Theologie die in den Schriften von 1543 gipfelnde Feindseligkeit gegenüber den Juden begründet sei. Da hätte man mehr erwartet. Man hätte auch erwartet, dass P. die – von S. zu Recht herausgestellte und dann kritisierte – Christozentrik als Determinante aller Aussagen Luthers über das Heil erörtert hätte. Und man vermisst die – ebenfalls bei S. angesprochene – Frage nach der neutestamentlichen Verankerung des ganzen Komplexes von Rechtfertigungslehre, Christozentrik, christologischer Interpretation des Alten Testamentes usf.; ein paar Seiten über die sogenannte »new perspective on Paul« (511 ff.) gleichen das Desiderat nicht aus. Doch mit diesen Punkten wären grundsätzliche Fragen nach dem Christlichen des Christentums und nach einem ihm inhärenten oder nicht inhärenten Gegensatz zum Judentum auf den Tisch des Hauses gekommen, die P. dort eben im Unterschied zu S. nicht sehen will. Es hätte sich aber auch die Frage gestellt, ob nicht jenseits der für mehr oder weniger »praktikabel« erachteten Abschaffung theologischer Traditionen oder des neutestamentlichen Christentums eine andere Alternative denkbar ist, die sich bei S. andeutet: S. stellt zu Recht fest, dass Luther in seinen späteren Jahren den Begriff der den Juden vorgeworfenen Gotteslästerung, der zunächst rein geistlich gewesen sei, politisiere und sie zu einem Gegenstand der obrigkeitlichen Gewalt mache – mit dem Effekt, den man in den Schriften von 1543 sehe (175). Hier wird die von dem jüngeren Luther verfochtene Möglichkeit ins Auge gefasst, mit religiösen Gegensätzen, die nicht geleugnet oder für irrelevant erklärt werden, zu leben, ohne dass politische Macht für die eine oder andere Seite aufgeboten würde (174). Damit wäre die Möglichkeit ins Spiel gebracht, einander widersprechende Antworten auf die Fragen, ob Jesus von Nazareth der verheißene Messias sei, ob er Wahrheit, Leben und der Weg zum Vater für alle Menschen sei (Joh 14,6), ob das Heil an die Bedingung der Gesetzesgehorsams gebunden sei etc., in ihrer auf Erden unauflösbaren Strittigkeit stehen zu lassen. Schade, dass S. diesen Faden nicht weitergesponnen und P. ihn gar nicht erst aufgenommen hat.