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Ausgabe:

März/2019

Spalte:

224–226

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Dittmer, Marion

Titel/Untertitel:

Reich Gottes. Ein Programmbegriff der protes-tantischen Theologie des 19. Jahrhunderts.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2014. XII, 372 S. = Theologische Bibliothek Töpelmann, 167. Geb. EUR 129,95. ISBN 978-3-11-033256-8.

Rezensent:

Thomas K. Kuhn

In dem 1856 erschienenen ersten Band des vermittlungstheologischen »Jahrbuchs für Deutsche Theologie« beklagte der Göttinger Theologe Isaak August Dorner (1809–1884) in seinem eröffnenden programmatischen Beitrag »Die deutsche Theologie und ihre Aufgaben der Gegenwart« ein Defizit der Eschatologie in Theologie und Kirche. Ihm ging es u. a. darum, die Bedeutung der Eschatologie für die Theologie und insbesondere für die Ethik aufzuzeigen. Von der gegenwärtigen Theologie erwartete Dorner geradezu eine Art Paradigmenwechsel, wenn er von dem Erfordernis einer »Einwebung der Eschatologie« in Dogmatik und Ethik sprach und mit dieser eschatologischen Ausrichtung eine vertiefte Verknüpfung von Dogmatik und Ethik als eine zentral anstehende wissenschaftliche Aufgabe markierte. Ohne explizit einzelne Bewegungen oder Na­men zu nennen, betonte Dorner, dass durch eine Eschatologisierung der Theologie und Frömmigkeit die verbreitete Fixierung auf den Heilsindividualismus zugunsten einer breiteren Wahrnehmung der Welt samt ihrer vielfältigen Aufgaben, die er unter den Begriffen des »Industrialismus« und »Materialismus« sowie der Liebestätigkeit subsumiert, erfolgen könne.
Dorner zählt somit zu jenen Theologen des 19. Jh.s, die wesentlich dazu beitrugen, das Theologumenon »Reich Gottes« zu einem zentralen Begriff der protestantischen Theologie dieses Jahrhunderts zu erheben. Auch jenseits der akademischen Diskurse spielte der Begriff – vornehmlich im Kontext von Pietismus und Erwe-ckungsbewegungen – eine elementare und kultur- wie religionsproduktive Rolle. Die Dissertation von Marion Dittmer nennt deshalb im Untertitel den »Reich-Gottes-Begriff« zutreffend einen »Programmbegriff der protestantischen Theologie des 19. Jahrhunderts«.
In ihrer von der Augustana Hochschule Neuendettelsau angenommenen systematisch-theologischen Qualifikationsarbeit will D. diesen Begriff, der nicht nur in Theologie, sondern auch beispielsweise in Philosophie, Literatur und Staatskunde eine Rolle gespielt hat, »aus theologischer Perspektive mit seinen Verflechtungen in die Kultur der Zeit hinein näher« erschließen (2 f.). Dieses Ziel verfolgt sie, indem sie anhand von drei positionell verschiedenen Theologen unterschiedliche Perspektiven des Reich-Gottes-Gedankens in den jeweiligen theologischen Systemen herausarbeitet. Als Beispiele wählte sie solche Theologen, die, so ihre Begründung, anders als Richard Rothe und Albrecht Ritschl nicht zu den üblicherweise genannten Reich-Gottes-Theologen des 19. Jh.s zählen: Franz Theremin, Isaak August Dorner und Johann Tobias Beck.
In drei unterschiedlich langen Studien, unter denen jene über Theremin, einen in der Forschung weithin vernachlässigten Theologen, bei Weitem die umfangreichste ist, zeigt sie, dass der Begriff »Reich Gottes« kein feststehender Ausdruck, sondern vielmehr ein in besonderer Weise von seinen Kontexten geprägter Begriff ist und somit jeweils zu einem Spiegel seiner Zeit wird. Für den Reich-Gottes-Begriff im 19. Jh. sind zudem die aus dem Pietismus stammenden Vorstellungen von erheblicher Relevanz, die auf eine »Hoffnung künftiger besserer Zeiten« sowie auf einen offensiv vertretenen Chiliasmus zielten, der in den Erweckungsbewegungen Frömmigkeit und Theologie entscheidend prägte und zahlreiche Initiativen, die so genannten »Reich-Gottes-Werke«, initiierte. Eine andere wichtige Wurzel geht auf den Philosophen Kant zurück, der das höchste Gut mit dem Reich Gottes identifizierte und einem weltimmanent verstandenen Begriff des Reiches Gottes zuarbeitete. Diese Spannung zwischen Immanenz und Transzendenz prägte den Diskurs über das Reich Gottes nicht nur in akademisch-theologischen Diskursen, sondern beispielsweise ebenfalls unter den Erweckten. In diesen Debatten rückte – neben anderen theologischen Themen – die An­thropologie in den Blick, die nach der Stellung des Menschen in der Welt sowie nach seinen Aufgaben fragte.
Die konzeptionellen Entwicklungen des Reich-Gottes-Begriffs, die in der jüngeren systematisch-theologischen Forschung kaum bearbeitet wurden, verfolgen somit dezidiert (sozial-)ethische Perspektiven. Denn, so eine zentrale These D.s, mit der Aufnahme des Begriffs des Reiches Gottes sei eine kulturelle »Integrationsleistung« vollbracht worden: Durch ihn habe man christliche Traditionen und moderne Gedankenwelt miteinander verbinden können. D. interpretiert den Reich-Gottes-Begriff als »Ausdruck einer Suchbewegung […], die nach einer Vereinbarkeit von modernem Denken und Weltverständnis mit dem christlichen Glauben fragt« (10 f.).
Die Konzentration auf den Reich-Gottes-Begriff ist insofern von hohem heuristischen Wert, als er über seine spezifische, theologisch-systemimmanente Funktion Einblicke in die jeweilige Deutung der gesellschaftlich-kulturellen Kontexte bietet. So ordnet im eher konservativen Ansatz von Theremin das Reich Gottes in einer integrativ-sozialen Perspektive das individuelle und öffentliche Leben und gibt ihm Sinn. Bei Dorner zeigt sich eine Ausrichtung auf Zukunft hin: Die Ausrichtung auf das Ziel des Reiches Gottes führt – wie auch in weiten Teilen der Erweckungsbewegungen beispielsweise – zur Realisierung des Reiches Gottes auf Erden. Auf dieser Basis, die Gott und Welt zusammendenkt, begründet er seine Ethik. Bei Beck überwindet das als das ganz Andere, als das Gegenüber zur Welt gedachte Reich Gottes diesen Antagonismus und wirkt in die Welt hinein.
Neben den überaus präzisen und inhaltlich tiefenscharfen Analysen des Reich-Gottes-Begriffs in den drei theologischen Systemen sind die in der Schlussbetrachtung – gerade auch in historischer Perspektive – ausgeführten Überlegungen zur Sozialität und Temporalität sowie zu Re- und Dechristianisierung von besonderem Inter-esse. Denn hier geht es um die Frage nach dem Reich-Gottes-Begriff hinsichtlich seiner gegenwartsbezogenen Funktionen. In diesem Zusammenhang gilt es zu betonen, dass mit dem deutschen Begriff »Reich« unverkennbar ein politischer bzw. staatstheoretischer Ton mitschwingt. Somit trägt der Begriff »Reich Gottes« immer auch politische wie soziale Implikationen in sich, die gerade im 19. Jh. auf große Resonanz stoßen konnten im Zusammenspiel von nationalstaatlichen und religiösen Hoffnungen. Darüberhinaus wird der Begriff »Reich Gottes« zu einem Leitbild, zu einem »Ziel- und Orientierungsbegriff« (327) für die Gestaltung von Gesellschaft in einem sich ausdifferenzierenden und pluralisierenden Umfeld, in welchem dem Menschen als gestaltendem Akteur neben Gott zusehends mehr Aufgaben zufallen. Dabei kommt dem Reich-Gottes-Gedanken die Aufgabe zu, in einer sich pluralisierenden Gesellschaft Einheitlichkeit zu schaffen und Gesellschaft und Christentum miteinander zu verknüpfen. Dieses Ziel versuchte man zu erreichen, indem »der Vielfalt der Weltdeutungen im 19. Jahrhundert die Absolutheit eines modernen Christentums entgegengehalten« und dabei eine deutlich konfessionelle Prägung ersichtlich wird (329). Eine besondere Rolle erwächst in diesem Prozess den Kirchen, deren Stellung durch die Reich-Gottes-Konzeption wesentlich gestärkt wird: Sie werden zu Trägerinnen der gesellschaftlichen Einheit. Verbunden mit diesen ekklesiologischen Akzentuierungen ist ein Aufweichen der Grenzen zwischen Diesseits und Jenseits. In anthropologischer Hinsicht ist die Eschatologie vom Menschen sowohl aktiv zu gestalten als auch von Gott zu erhoffen.
In den abschließenden Überlegungen zur Funktion des Reich-Gottes-Begriffs vertritt D. einleuchtend die These, dass sich in der breiten Verwendung des Reich-Gottes-Begriffes die Spannungen von re- und dechristianisierenden Bewegungen der Zeit widerspiegeln. Zudem beschreibt sie diesen Begriff als Zentralbegriff einer Kulturtheologie.
Die vorliegende Studie bearbeitet in überzeugender Weise ein zentrales und lange Zeit vernachlässigtes Thema der Theologie- und Gesellschaftsgeschichte des 19. Jh.s. Sie bietet mit ihrem an den gesellschaftlichen Kontexten interessierten theologiegeschichtlichen Zugang einen wichtigen Baustein für eine noch ausstehende umfassende Darstellung christlicher Reich-Gottes-Vorstellungen in Neuzeit und Moderne. Zweifelsohne zeigt die Studie überaus eindrücklich neben den unterschiedlichen Konzepten die weitreichenden und vielfältigen Implikationen der Reich-Gottes-Vorstellungen im Kontext einer sich radikal und rasant modernisierenden Zeit auf.