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Ausgabe:

März/2019

Spalte:

222–224

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Barth, Karl

Titel/Untertitel:

Predigten 1907–1910. Hrsg. v. S. Weinreich u. P. Zocher.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2018. XVIII, 748 S. = Karl Barth-Gesamtausgabe, 53. Lw. EUR 130,00. ISBN 978-3-290-18146-8.

Rezensent:

André Demut

»Liebe Zuhörer! Durch unsre Zeit geht ein vielstimmiger Ruf nach Leben. Ihr kennt ihn Alle! Alte Anschauungsweisen, alte Verhältnisse und Ordnungen sind gefallen und fallen noch. Auf den verschiedensten Gebieten zeigt es sich, dass die bisherigen Geleise ausgefahren sind. Die Menschheit sucht auf neuen Wegen neue Werte.« (3)
Mit diesen Worten beginnt die allererste Predigt Karl Barths, gehalten im Homiletischen Seminar in Bern im Sommersemester 1907. Wer diesen Predigtband liest, kann dem jungen Prediger bei seiner damaligen Suchbewegung über die Schulter schauen. Simon Weinreich und Peter Zocher edieren die ersten 55 Predigten Barths, die dieser von 1907 bis 1910 gehalten hat: im homiletischen Seminar, in zwei kurzen Vikariaten im Berner Oberland und im Berner Jura, im kurhessischen Niedergrenzebach und ab September 1909 als Hilfsprediger der Deutschen reformierten Gemeinde in Genf.
Die hohen Standards der Karl Barth-Gesamtausgabe werden in diesem Band akribisch eingehalten: Das Vorwort gibt Auskunft über die im Karl Barth-Archiv befindlichen Manuskripte und ihre Erschließung sowie Präsentation durch die Herausgeber; ein textkritischer Apparat verweist auf Korrekturen bzw. Unterstreichungen, die vom Prediger mit einem zweiten Stift angebracht wurden; instruktive Fußnoten erklären die zahlreichen Anspielungen auf historische und zeitgeschichtliche Personen bzw. Ereignisse, auf deutsche Sprichwörter und stehende Redewendungen, auf philosophische und theologische Reminiszenzen und auf zitierte Ge­dichte und Gesangbuchverse. Register zu Bibelstellen, Namen, Orten und Begriffen helfen den Band erschließen.
Für die Barth-Forschung bieten sich interessante Wahrnehmungen. Mit großer Prägnanz spricht hier ein hochbegabter junger Prediger, der viel bei seinen theologischen Lehrern Wilhelm Herrmann und Adolf von Harnack gelernt hat. Das »innere Leben Jesu« ist Quelle und Orientierungspunkt unserer Frömmigkeit (104.301 f.383 f.468). Dieses »Leben, das aus den Worten und Taten des Herrn Jesus hervorleuchtet […] ist eine Tatsache, […] die nichts [zu] tun hat mit den Dogmen, in die man sie nachher eingekleidet hat« (316). Einmal wird eine Art liberaler bzw. mild-pietistischer ordo salutis entworfen, welcher der Gemeinde einen Weg vom »Kirchenchrist« über den »Bibelchrist« hin zum »Herzenschrist« nahelegt (135–138). An Neujahr 1910 wird den Zuhörenden empfohlen, sich in der Besinnung auf frühere Jahresübergänge »selbst die lehrreiche Neujahrspredigt [zu] halten« (269), zu der er, der Prediger, allenfalls einige Impulse bieten könne. Das Christentum ist »nicht eine beliebige Religion der Gedanken und Gefühle […], sondern die Religion der Sittlichkeit.« (309)
An vielen Stellen wird die Prägung durch den Marburger Neukantianismus deutlich: »Wenn dem Gottsuchen und der Frömmigkeit unsrer Zeit etwas fehlt, so scheint es mir dieser tiefe Ernst des sittlichen Gesetzes zu sein, wie ihn am Anfang des letzten Jahrhunderts Schiller gepredigt hat und wie ihn noch früher Kant ausgesprochen hat […]« (241). Vgl. auch 360.390.476–480.506 ff.: Heteronomie wird qualifiziert als minderwertige Fassung eines rechten religiösen und menschlichen Verhältnisses zum Gesetz der Freiheit, zu dem Gesetz, das in der Lage ist, uns zu »rechte[n], reife[n] und reine[n] Menschen« (441) zu machen. Bezeichnend, dass Barth von Januar bis August 1910 eine Predigtreihe zum Jakobusbrief hält, in welcher er Jakobus auftreten lässt als Vertreter einer Synthese aus dem »unverlierbare[n] Erbe der Reformation und des deutschen Idealismus« (470).
Die hier veröffentlichten frühen Predigten Barths sind getragen von der Überzeugung, dass die sittlich-menschheitliche Höherentwicklung, die tiefsten Gedanken der Bibel und das Christentum in seiner protestantischen Gestalt denselben Grund und dasselbe Ziel haben. Barths Antrittspredigt in der deutschen Gemeinde in Genf am 26.9.1909 beginnt programmatisch: »Liebe Freunde! In den Worten des Apostels Paulus aus dem Philipperbrief [Phil 3, 12–15], die wir eben gehört haben, ist das Grundgesetz alles geistigen Lebens ausgesprochen. In den Äußerungen der Weisen, der Dichter, der Künstler, der ernsten und tiefen Menschen aller Zeiten, aller Länder und aller Lebensrichtungen tönt es wider in mannigfachster Weise und doch einig im Grundakkord: ›Nicht als ob ich es schon ergriffen hätte. […], ich jage ihm aber nach‹« (139); vgl. auch 383.391 f.441–444.449 f.454 ff.: Der Bibeltext wird vom Prediger in Anspruch genommen als sprachlicher Niederschlag jenes »Grundgesetzes alles geistigen Lebens«, für das die Orientierung an Gott und die freiheitliche Verantwortlichkeit eines wahrhaft menschlichen Le­bens Synonyme sind.
Zeigen sich in diesen Predigten Linien, die auf den Römerbrief-Autor von 1919 bzw. 1922 hinweisen?
Manches kann dazu genannt werden: So, wie hier Jakobus in des Predigers Namen zur Gemeinde spricht, wird dann in Barths Rö­merbrief der Apostel Paulus zu den Zeitgenossen nach dem Ersten Weltkrieg sprechen. Der Prediger gibt zu erkennen, dass er die Ergebnisse der modernen Exegese wahrgenommen hat (vgl. z. B. 237) – doch die Pointe der Auslegung zielt auf Gleichzeitigkeit zwischen den biblischen Texten und der gegenwärtigen Gemeinde. Der zeitliche Abstand zwischen damals und heute ist theologisch uninteressant.
Spannend auch, dass »der dänische Philosoph Kierkegaard […] mit seinem scharfen Spott über das wohlfeile Allerweltschristentum der angeblichen Jünger« (284) schon Anfang 1910 begegnet. »Wo es sich um Gott handelt, da gibt es keine Mittelwege, sondern es gilt da das große Entweder-Oder des Dänen Kierkegaard« (450), bekommen die Konfirmandinnen und Konfirmanden im Genf des Jahres 1910 mit auf ihren Lebensweg.
Durchgehend auffällig ist die Gottes-Leidenschaft des jungen Theologen auf der Kanzel. Diese Suchbewegung, dieses Insistieren auf Gott und Jesus Christus dürfte die Klammer sein, die den Vollblut-Liberalen mit dem Alles-Zermalmer des zweiten Römerbriefkommentars verbindet. »Christus Sieger auf der ganzen Erde, die Menschheit geeinigt zu einem Bunde der Gerechtigkeit und des Friedens, das ist der Inhalt dieser Zuversicht […] Aber wie fremd und fast phantastisch mutet uns das Bild an, sobald wir es versuchen, es als gegenwärtige Wahrheit zu denken.« (148)
Die brennende Frage nach Gott relativiert die üblichen theologisch-kirchenpolitischen Fraktionen. »Orthodox« und »liberal« sind als Selbstrechtfertigungsstrategien gleich weit entfernt von Gottes Reich und stehen gemeinsam in seinem Gericht. (Vgl. 59 f.143 f. 199.234–238.381 f.) »Der ganzen gläubigen und rechtschaffenen Frömmigkeit«, den »orthodoxen Pharisäer[n und den] … liberalen Sadduzäer[n]« hat er (sc. Johannes der Täufer) »ein großes ›Nicht!‹ entgegengestellt« (238). Die Wirkungen und Erfolge der Reich-Gottes-Arbeit dürfen nicht verwechselt werden mit dem Reich Gottes selbst (92 f.).
Den lebendigen Christus als gegenwärtigen Sieger zu denken suchen, zu verkündigen suchen, im Leben zu entsprechen suchen – diese Such-Bewegung des Barthschen Denkens durchzieht auch diese ganz frühen Predigten. Von dieser Position aus fahren regelmäßig kräftige Negationen in die allzu glatten Synthesen von Menschengeist und Gottesgeist (174) – auch und gerade weil dieser liberal-theologische Prediger mit der Gegenwart Gottes in seiner ge­sellschaftlichen und kirchlichen Wirklichkeit rechnen will.