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Ausgabe:

März/2019

Spalte:

215–217

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Beyer, Jürgen

Titel/Untertitel:

Lay Prophets in Lutheran Europe (c. 1550–1700).

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2017. XIV, 474 S. m. 2 Abb. = Brill’s Series in Church History and Religious Culture, 74. Geb. EUR 144,00. ISBN 978-90-04-15628-9.

Rezensent:

Martin H. Jung

Das Auftreten von Prophetinnen und Propheten im Kontext der lutherischen Konfessionskultur der Frühen Neuzeit ist ein kaum behandeltes Thema. Jürgen Beyer (geb. 1965), Senior Research Fellow an der Universitätsbibliothek Tartu, legt in diesem Band das Ergebnis seiner jahrzehntelangen Forschungen vor. Er behandelt mittelalterliche Bezüge und Hintergründe – er selbst spricht in der Kapitelüberschrift von »origins« (39) – dieser Prophetie, schildert, wie Informationen über diese Prophetien verbreitet wurden, stellt das Auftreten der Prophetinnen und Propheten dar, behandelt Prophetinnen und Propheten, die das politische Geschehen kommentierten, stellt einige besonders profilierte Propheten (in diesem Fall nur Männer) vor, geht auf die theologischen Debatten über Prophetie ein und behandelt abschließend die Prophetie im Rahmen von Heiligkeitsvorstellungen des frühen Luthertums.
Die Arbeit basiert auf der Auswertung unzähliger gedruckter und ungedruckter Quellen aus zahlreichen Archiven und Bibliotheken Europas. Insgesamt hat sich B. mit 350 Propheten und Prophetinnen aus der Zeit von 1517 bis 1800 befasst, wobei sich seine an übergreifenden Fragestellungen orientierte und nur an wenigen Stellen einzelne Personen und Ereignisse vorstellende Studie auf die Zeit bis 1700 beschränkt, also den Pietismus bewusst ausklammert.
Als »prolific prophets« (155) besonders hervorgehoben und dem Leser ausführlich präsentiert werden Herman von der Hude, Jo­hann Werner und George Reichard. Sie traten im 17. Jh. in Deutschland auf.
B. vermittelt dem Leser einen Einblick in eine fast unbekannte Welt und stellt der Forschung in zahlreichen und umfangreichen Anmerkungen und Anhängen eine Fülle von Material zur Verfügung, das für die Bearbeitung weitergehender Fragestellungen genutzt werden kann. Besonders wichtig ist eine Auflistung sämtlicher Propheten mit Nennung der jeweiligen Quellen (238–329) sowie natürlich das Verzeichnis der für das Thema relevanten Literatur, ferner ein Namen- und Ortsregister.
Die fleißige, verdienstvolle Arbeit ist spannend zu lesen, ist aber in sich nicht wirklich geschlossen. Dies rührt daher, dass die einzelnen Kapitel der Monographie, wie B. jeweils redlich nachweist, auf schon früher erschienenen Aufsätzen basieren. Wichtige Fragen, zum Beispiel Gender-Perspektiven, bleiben unerörtert. Die theologischen Aspekte kommen zu kurz, B. ist aber auch kein Theologe und darum in erster Linie kulturgeschichtlich interessiert. Überwiegend ist das nordeuropäische Luthertum im Blick, aus Deutschland fehlen wichtige Gestalten wie Anna Vetter (1630–1703) aus Ansbach.
Das Auftreten von Männern und Frauen, die von Visionen und Auditionen berichten, begleitet die ganze Geschichte des Christentums. So gesehen ist es nicht verwunderlich, dass auch in der lutherischen Konfessionskultur Männer und Frauen auftraten, die von Visionen und Auditionen Mitteilung machten. Das wirkliche Geschehen kann der Historiker nicht aufklären und auch die individualpsychologischen Aspekte dieser Ereignisse können bestenfalls mutmaßend erörtert werden. Untersucht werden können allerdings Kontexte und Häufigkeiten, zeitgenössische Reaktionen und zeitgenössische Bewertungen. Und natürlich stellt sich auch die Frage, ob ein evangelisches und ein spezifisch lutherisches Religionsverständnis das Auftreten von Prophetinnen und Propheten begünstigt oder gehemmt hat. Von Anfang an gab es ja im Kontext der lutherischen Reformation Prophetinnen und Propheten – Luther und mit ihm die spätere Reformationsgeschichtsschreibung sprachen despektierlich von Schwärmern. Aber im Grunde hatte Luther selbst die Büchse der Pandora geöffnet mit seiner Aufwertung der Laien in der Kirche, mit der Lehre vom allgemeinen Priestertum, mit der Erinnerung an die unmittelbare Geistbegabung jedes Einzelnen. Auch bei der Beschäftigung mit der Bibel, von der Reformation ebenfalls nachdrücklich gefordert, hörten und lernten die Laien, dass Gott unmittelbar zu Menschen sprechen kann und dass Menschen mit göttlichen Eingebungen und Aufträgen als Propheten auftraten. Der Spiritualismus wurzelt also in reformatorischen Grundpositionen. Dies wird besonders deutlich, wenn man neben der Reformation auch den Pietismus be­trachtet, in dem das Prophetentum einen wirklich hohen Stellenwert hatte. Laienpriestertum und Biblizismus förderten den Spiritualismus und das Auftreten von Prophetinnen und Propheten. Hierzu passt auch die von B. am Rande mitgeteilte Beobachtung, dass es auf dem Boden der »Reformed tradition« noch deutlich mehr Propheten gegeben habe (35), in den »Catholic countries« aber »only very few« (34).
Diese wichtigen und interessanten, Theologie und Kulturgeschichte verknüpfenden Perspektiven kommen in B.s Studie deutlich zu kurz. Die Einbeziehung der Forschungsliteratur zur Prophetie im Pietismus, die B. teilweise bekannt ist (200), hätte dabei hilfreich sein können. Aber es fragt sich auch, welchen Sinn es macht, gerade bei einem kulturgeschichtlichen Forschungsansatz lutherische Länder und Regionen isoliert zu betrachten. Eigentlich müsste vergleichend gearbeitet werden, um das besondere Profil lutherischer Laienpropheten herauszuarbeiten. Viel zu kurz greift B.s Ansatz, Prophetie im Luthertum als Transformation und Weiterentwicklung eines »common medieval phenomenon« anzusehen (30).
In seiner Einleitung nennt B. als eines seiner Hauptziele, »to document the historical existence of Lutheran lay prophets« (27). Dieses Ziel hat er nicht nur erreicht, sondern wirklich den Blick geöffnet auf die überraschend großen Dimensionen eines wenig beachteten Phänomens. Folgt man dem RGG4-Artikel »Prophet/ Prophetin/Prophetie«, so gab es Prophetie in der Alten Kirche und auf den christlichen Missionsfeldern der Neuzeit. Reformation, Orthodoxie und Pietismus werden nicht thematisiert.
Das Buch ist sorgfältig gestaltet, dass mit »Osnaburg« (472) Osnabrück gemeint ist, hätte einem gebürtigen Hamburger allerdings auffallen müssen. Ferner wäre ein Inhaltsverzeichnis wünschenswert gewesen, das dem Leser mehr Orientierung gibt und neben den Hauptkapitelüberschriften auch die den Inhalt erschließenden Unterkapitel anführt.