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Ausgabe:

März/2019

Spalte:

211–213

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Wagner-Peterson, Boris

Titel/Untertitel:

Doctrina schola vitae. Zacharias Ursinus (1534–1583) als Schriftausleger.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013. 430 S. = Refo500 Academic Studies, 13. Geb. EUR 120,00. ISBN 978-3-525-55055-7.

Rezensent:

Markus Wriedt

Dass die Reformation ihren Ursprung in der Schriftauslegung sah, wird in der verkürzten Formel von sola scriptura sinnfällig dokumentiert. Dennoch konzentrieren sich immer noch zahlreiche reformationstheologische Untersuchungen auf den doktrinären Gehalt und die materialtheologischen Aussagen der Protagonisten. Die im Wintersemester 2011/12 in Heidelberg angenommene Dissertationsschrift von Boris Wagner-Peterson ist hier eine wohltuende Ausnahme. Sie entstand unter Anregung von Gottfried Seebass und wurde nach dessen Tod von Christoph Strohm weiterbetreut. Sie nimmt das reformatorische Schaffen des als einer der Urheber des Heidelberger Katechismus zu Berühmtheit gelangten Heidelberger Theologen Zacharias Ursinus (1534–1583) in den Blick.
Die Arbeit untersucht exemplarisch die zwischen 1578 und 1582 in Neustadt entstandene Vorlesung über das Jesajabuch. Sie wird in Bezug zu seinen anderen Schriften gesetzt, aber im Wesentlichen als Spätwerk des Theologen ausgelegt. Der Vf. gliedert seine Graduierungsarbeit sorgfältig nach Themenstellung inkl. einer Verortung der Thematik in den weiteren Zusammenhängen von Auslegungsgeschichte und Konfessionalisierungshistoriographie. Das zweite Kapitel erörtert die Vorlage und ihre Editionen textkritisch, während im dritten Kapitel die Rahmenbedingungen erläutert werden, unter denen die Auslegung entstand. Kapitel 4 bis 7 wenden sich dann explizit der Auslegung von Ursinus zu. Zunächst wird das dreifache Ziel der Kommentierung mit Wortsinn, doctrina und applicatio beschrieben. Dieser dreifachen Zielsetzung korrespondieren vier Arbeitsschritte: Zunächst die grammatisch-philologische Auslegung, mithin das, was gemeinhin als sensus literalis gefasst wird. Im zweiten Schritt erfolgt sodann eine rhetorische Analyse und Interpretation auf der Basis der antiken Klassiker. Die allegorische Schriftauslegung wird – allen berechtigten Vorbehalten des Protestantismus gegen die hypertrophe Anwendung dieser Methode zum Trotz – als Auslegungsschlüssel von Verheißung und Erfüllung auf das Prophetische Buch angewandt. Ursinus als Vertreter der zweiten Generation der Reformatoren hat die Scheu vor den aristotelischen Prinzipien abgelegt und verwendet daher die dialektische Analyse zur Interpretation von Kausalitäten bis hin ­zum Causa-Schema im Sinne einer konfessionellen Systematisie rung, um nicht zu sagen: Scholastik. Bemerkenswert ist, dass patris-tische Gewährsmänner für die Auslegung recht selten zitiert werden. Die alles überragende Rolle kommt Augustin zu. Er ist Ausdruck des consensus patrum.
Der Hermeneutik der Schriftauslegung des Ursinus wendet sich das fünfte Kapitel zu. In der Spannung von doctrina und applicatio wird oboedientia als das Ziel der diesbezüglichen Erörterungen markiert. Ursinus unterscheidet sich einerseits erkennbar von zeitgenössischen Positionen, markiert andererseits den Heidelberger Akzent in der Vermittlung des späten Melanchthon (Rechtfertigung und Heiligung) und Calvins Anliegen einer vita christiana. Oboedientia wird als Grundkonsens der reformierten Theologen verstanden; freilich wahrt Ursinus »einen bibelhumanistisch fundierten und pädagogisch-seelsorgerlich motivierten Anspruch, der ihn von seinen reformierten Zeitgenossen signifikant unterscheidet« (167).
Der Vf. systematisiert im sechsten Kapitel die Befunde zu einer Theologie der Schriftauslegung des Heidelberger Theologen. Da­nach expliziert die Lehre des Jesaja-Buches die doppelte Prädestination und die Providenzlehre: Gott erwählt und verwirft supralapsarisch und erzieht seine Geschöpfe im weiteren Verlauf der Geschichte mit dem Ziel einer dauerhaften Beziehung zwischen Schöpfer und (erwähltem) Geschöpf. Der Vf. identifiziert darin ein pädagogisch, seelsorgerlich und ethisch ausgerichtetes Programm. Alle Schriftauslegung ist freilich von der theologischen Vorentscheidung bestimmt, dass die Lehre vorzugsweise ihr Zentrum in Prädestination und Providenz hat. Darin zeigt sich eine gewisse Nähe zum Konzept Bullingers in Zürich.
Im siebten Kapitel sucht der Vf. seine Befunde im Vergleich mit anderen Exegeten zu präzisieren. Er berücksichtigt die von Ursinus explizit genannten Autoren wie die Targumim, Hieronymus, Raschi, Ibn Ezra, Kimchi und Lyra. Die ausführliche Rezeption rabbinischer Literatur ist hierbei besonders hervorzuheben. In einem weiteren Schritt werden sodann alle bis zum Erscheinungsdatum von Ursinus’ Kommentar veröffentlichten exegetischen Werke der Zeitgenossen aufgenommen. Hierbei greift der Vf. exemplarisch auf Jes 5,1–7 – das sogenannte Weinbergslied – und die Weherufe in Jes 5,8–30 zurück. Er kommt – insbesondere bei der sorgsamen Analyse des fünften Kapitels aus dem Jesajabuch – zu der Einsicht, dass Ursinus sein didaktisches Interesse und die dialektisch-rhetorische M ethodik mit Melanchthon verbindet, während das grammatisch-philologische Interesse sich der École Rhénane d’exegese (nach Roussel, Hobbs) verdankt. Ursinus versteht sich dabei vor allem als Lehrer, nicht als Pastor, wie etwa Bullinger.
Im achten Kapitel ordnet der Vf. seine Befunde vom Jesaja-Kommentar des Ursinus in dessen Gesamtwerk ein. Im Ergebnis gipfelt das in einer bemerkenswerten Zuspitzung auf die These von der Heidelberger Irenik: Ursinus sieht die erstrebte Einheit (concordia) vor allem durch den Lehrkonsens, der durch die Auslegung der Schrift gewonnen werden kann, gewährleistet.
Der Ertrag dieser sehr detaillierten und sorgfältig abgefassten Untersuchung besteht zunächst in einer solennen Analyse des schriftauslegenden Prinzips bei einem Vertreter der Heidelberger Reformation. In seiner Betonung des Lebens als einem kontinuierlichen Lernvorgang kann Ursinus durchaus in der Nähe zu Melanchthon gesehen werden. Ursinus steht theologisch im Umbruch einer humanistisch-reformatorischen Theologie unter den Aspekten reformierter Rationalisierung, Moralisierung und Konfessionalisierung. Laut Christoph Strohm hat diese Wandlung vor allem unter dem Einfluss von Peter Martyr Vermigli stattgefunden. Der Vf. sieht Ursinus genau in diesem Transformationsprozess seine eigenständige Position entwickeln, die unter sorgfältig bestimmten Vorbehalten sogar als reformierte Scholastik bezeichnet werden kann. Den Beitrag des Ursinus im Kontext der Konfessionalisierungsdebatte skizziert der Vf. dann allerdings nur noch sehr oberflächlich. Hier wäre eine Berücksichtigung der Fortentwicklung dieser Forschungskontroverse sicher sinnvoll gewesen.
Zahlreiche Verzeichnisse, vor allem eine ausführliche Bibliographie der von Ursinus geschriebenen oder ihm postum zugeschriebenen Werke umfasst 50 Seiten, stellen auch über das Ergebnis der Untersuchung einen wichtigen Beitrag zur Ursinus-Forschung bzw. der durch ihn repräsentierten Form der theologischen Irenik Heidelberger Prägung dar. Auch wenn die Frage nach der Verfasserschaft des Ursinus und seinem Beitrag zum Heidelberger Katechismus nicht abschließend geklärt werden kann, ist die Studie ein gelungener theologiegeschichtlicher Beitrag zur Entwicklung innerhalb der konfessionellen Ausdifferenzierung und der dennoch auch nicht zu übersehenden Verbindungen zwischen Wittenberg, Heidelberg und Zürich – bis hin nach Genf.