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Ausgabe:

März/2019

Spalte:

206–208

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Matheus, Michael, Nesselrath, Arnold, u. Martin Wallraff [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Martin Luther in Rom. Die Ewige Stadt als kosmopolitisches Zentrum und ihre Wahrnehmung.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter Mouton 2017. XVIII, 534 S. m. 40 Abb. = Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom, 134. Geb. EUR 109,95. ISBN 978-3-11-030906-5.

Rezensent:

Marco Stallmann

Der Band dokumentiert die Ergebnisse einer internationalen Tagung des Deutschen Historischen Instituts in Rom, die dort vom 16. bis 20. Februar 2011 stattfand. Eine inhaltliche Einführung der Herausgeber benennt das Ziel der Veranstaltung: In dem Bewusstsein der Problematik historischer Rekonstruktion und Memorik galt es, die Romreise des jungen Martin Luther möglichst präzise zu rekonstruieren und in kulturwissenschaftlich-differenzierter Perspektive neu zu diskutieren. Dabei sah sich das interdisziplinäre Expertenspektrum mit einem unhintergehbaren Quellenproblem konfrontiert, denn über die Reise ist außer den späteren Erinnerungen der sogenannten Tischreden wenig überliefert. Vor diesem Hintergrund war der fachübergreifende Ansatz der Tagung mit der Intention verbunden, Luthers Reise im Kontext des kosmopolitischen Zentrums, das Rom zu Beginn des 16. Jh.s darstellte, zu verstehen. Diese Entscheidung spiegelt sich in der fünfteiligen Gliederung des Buches wider, die in geringfügig modifizierter Weise den Tagungssektionen entspricht: Nach grundlegenden Beiträgen zur »Romreise und Romwahrnehmung« (I) gelangt »Rom als urbanes Zentrum« (II) in den Blick. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf »Papst und Kurie« (III) als dem administrativen Zentrum des vorreformatorischen Christentums. Schließlich geraten »Theologie und Frömmigkeit« (IV) sowie abschließend »Kunst, Kultur und Wissenschaft« (V) in den Fokus. Ein übersichtliches Register der genannten Personen und Orte dient der Orientierung im Band.
Hans Schneider eröffnet die erste Sektion mit grundsätzlichen Überlegungen zu Luthers Romreise, die auf der Basis neu erschlossener Quellen auf seine bereits vorher vorgeschlagene Neudatierung (Herbst 1511) hinauslaufen. Zwar verortet auch er die Reise im Kontext der ordensinternen Auseinandersetzungen um die Rolle des Johann von Staupitz, allerdings sieht er in Luther gegenüber älteren Auffassungen nicht einen Gegner, sondern einen Parteigänger seines Förderers. Damit distanziert er sich auch von Deutungsmodellen, die in der unterstellten Staupitz-Opposition be­reits einen ersten Autoritätskonflikt des künftigen Reformators erkennen wollen. – Volker Leppin, der dagegen die Romreise in das Jahr 1510 datiert, weist auf den »Schleier der Erinnerung« (J. Fried) hin, mit dem die Quellen der Rekonstruktion belegt seien, und bringt da­mit ein wesentliches Problembewusstsein in die Diskussion ein. Luthers Schilderungen interpretiert er kritisch als Erinnerungen eines Konvertierten an eine frühere, jetzt abgelehnte Lebensphase, in denen das primär spirituelle Bedürfnis einer Bußwallfahrt zum Ausdruck komme. So sei die Romreise insbesondere von der intensiven, für das Spätmittelalter typischen Konfrontation zwischen innerlichen und äußerlichen Frömmigkeitsformen gekennzeichnet gewesen.
Die Frage nach dem kosmopolitischen Zentrum, das Luther in der Stadt Rom vorfand, steht im Mittelpunkt der zweiten Sektion: Im Anschluss an das lebhafte historische Bild, welches Arnold Esch von Luthers römischer Nachbarschaft, dem Viertel Campo Marzio zwischen den beiden Augustinerkonventen Santa Maria del Popolo und Sant’Agostino zeichnet, rekonstruiert Anna Esposito deren kulturelles Milieu und soziale Zusammensetzung. – Luciano Palermo widerlegt in seiner wirtschaftsgeschichtlichen Studie die wiederholt aufgestellte Behauptung, die – durchaus symbolisch aufgeladene – römische Wirtschaft sei zur parasitären Nutznießerin des kirchlichen Finanzsystems geworden. Aus seiner Analyse zentraler Finanzbewegungen zu Beginn des 16. Jh.s ergibt sich vielmehr der Befund, dass die expandierende städtische Wirtschaft in erheblichem Maße zu den weltlichen Einnahmen der Apostolischen Kammer beigetragen hat. – Die Zugänge und Schranken der kurialen Finanzwelt stehen auch im Mittelpunkt des Beitrags von Götz-Rüdiger Tewes, der bereits Teil der dritten Sektion ist. Am Beispiel der Medici-Familie zeigt er die zunehmende Einflussnahme der Banken, die letztlich – je nach Dienstleistungs- bzw. Kooperationserfolg – auch die spätere Romwahrnehmung wesentlich mitbestimmt habe.
Mit seinem Durchgang durch zentrale Bereiche römischer Frömmigkeit und Religiosität um 1500 eröffnet Andreas Rehberg die vierte Sektion. Dabei nimmt er zunächst die Perspektive des frommen Pilgers Luther selbst ein, dessen aufgeworfene Stich-worte (»Kirchen und Katakomben«, »Ablässe und Reliquien«, »Bruderschaften und Hospitäler«) den Beitrag strukturieren. Luthers Wahrnehmung des religiösen Angebots möchte er von der des durchschnittlichen Stadtrömers deutlich unterschieden wissen. Gleichzeitig wird davor gewarnt, zwischen der Romreise und der späteren Polemik unter dem Eindruck des Bruchs mit der römischen Kirche einen voreiligen, unkritischen Zusammenhang herzustellen. – Mit dem Renaissanceplatonismus beschreibt Jörg Laus-ter eine philosophische Strömung, die spätestens im 16. Jh. ein ho­hes Maß an intellektueller Strahlkraft im von Luther bereisten, gelehrten Rom entfaltet habe. Von Florenz aus habe ihr Hauptvertreter Marsilio Ficino auf der Basis einer intensiven Platon-Rezeption ein zeitsensibles Weltdeutungssystem entworfen, dessen wirkungsgeschichtliche Spuren sich sogar in bedeutenden Kunst werken wie Raffaels »Schule von Athen« oder Michelangelos Decken­fresken in der Sixtinischen Kapelle wiederfinden ließen.
Damit ist zugleich übergeleitet zur fünften und letzten Sektion, die das kulturelle und gelehrte Leben in Rom zur Zeit der Rom-reise in den Fokus rückt. Arnold Nesselrath geht etwa der Fragestellung nach, ob sich Rom mit seinen Bauten und seiner Kunstproduktion derart spektakulär, aufwändig und verschwenderisch präsentiert hat, dass Luthers Augen darin die »Hure Babylon« sehen konnten. Sein mit zahlreichen Abbildungen angereicherter Durchgang durch die »Mirabilia Urbis Romae 1511« kommt zu dem Ergebnis, dass die zeitgenössische römische Bildwelt noch die des »heiligen Rom« darstellte und die Kultur des Papstes repräsentierte, nicht aber übertriebenen Prunk zum Ausdruck brachte. – Während sich Hans W. Hubert und Pier Nicola Pagliara aus architekturgeschichtlicher Sicht den Großbaustellen Roms um 1510 widmen, liegt bei Michael Matheus und Vincenzo De Caprio der Schwerpunkt auf der römischen Gelehrtenwelt, insbesondere den deutschen Akademikern und Notaren bzw. der humanistischen Kultur der ersten drei Jahrzehnte des 16. Jh.s. Sabine Meine schließt mit einer musikhistorischen Vergegenwärtigung der im humanis-tischen Kontext, im Kurtisanenleben und im Karneval begegnenden »Weltliche[n] Klänge«, die für sie ein ideales Terrain für die Überwindung sittlicher Normierungen darstellten. Diese Einsicht lässt sie von einer gewissen Durchlässigkeit der geistlichen und weltlichen Sphären im kulturellen Lebensalltag der Stadt Rom ausgehen.
Inwiefern jedoch Luther die in den Beiträgen tiefgehend untersuchten kulturellen Angebote überhaupt rezipiert hat, lässt sich aus den mit dem Erinnerungsschleier bedeckten Quellen nicht immer zufriedenstellend herausarbeiten. Erschwerend tritt der Umstand hinzu, dass Luthers Aufenthalt in stadtgeschichtlichen Aufzeichnungen nahezu keinen Niederschlag fand. Grundsätzlich scheint sich bereits die forschungsstrategische Ausrichtung der Tagung mit der Tatsache zu arrangieren, dass oftmals viel »Rom« und wenig »Luther« im Mittelpunkt steht. In welchem Maße damit ein Problem angezeigt ist, hängt sicher von der jeweiligen fachwissenschaftlichen Perspektive ab, die in diesem Fall weit über den kirchenhistorischen Bereich hinausgeht. Die im Band dokumentierten neuesten Forschungsergebnisse tragen letztlich dem Anliegen der Herausgeber Rechnung, das bisher oft »schwarz in schwarz ge­malte Bild [der Romreise] nicht einfach durch ein wohlwollendes und ökumenisch friedfertiges«, sondern »Polemik durch differenzierte Wahrnehmung« (XV) zu ersetzen und damit eine wissenschaftliche Forschungslücke zu schließen.